PDA

Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Ein Abend in Bodenwinkel



Wolfgang
20.04.2008, 22:43
Ein Abend in Bodenwinkel

Freitag, 30. August 2002

Heute bin ich angekommen. Die Reise war zwar abwechslungsreich, ja, sogar ein wenig stressig, aber müde bin ich nicht. Sollen wir heute Abend noch etwas unternehmen, fragt Zbyszek? Ohne auch nur einen Moment zu zögern, stimme ich zu. So beschließen wir spontan, Isa, eine Kollegin Zbyszeks in Tiegenhof (Nowy Dwor Gdanski) abzuholen um mit ihr auf seine Segelyacht nach Bodenwinkel (Katy Rybackie) zu fahren. Nach etwa 20 Minuten Fahrt über die Dörfer sind wir bei ihr. Sie wohnt nahe der Ortsmitte in einer kleinen geschmackvoll eingerichteten Wohnung im Erdgeschoss eines mehrstöckigen Wohnhauses. Wir bleiben nicht lange, brechen gleich wieder auf. Richtung Frisches Haff geht es nun nicht über die Landstraße, sondern „querfeldein durch die Prairie“. Der Weg besteht aus zwei schmalen Reihen holprig verlegter Betonplatten. Links von uns ist der strauch- und baumbestandene Tiegedamm auszumachen. Rechts des Weges hohe, ungestutzte Kopfweiden. Ihre Ruten sind heute offenbar kaum mehr gefragt. Es ist kurz nach 20 Uhr. Wir passieren das sich entlang der Tiege hinweg erstreckende Petershagen (Zelichowo). Hin und wieder steigt der Weg auf Dammhöhe an, erlaubt einen Blick auf die dunkelrot untergehende Sonne im Westen. Die Tiege ist von einem dichten Entenflottteppich bedeckt. Rechts, bereits in geheimnisvolles Dunkel eingehüllt, hin und wieder verwunschene Teiche, umgeben von Schilf, Weiden und Pappeln. Zwei Bauern kommen uns auf ihren Rädern entgegen, lichtlos, werden von uns spät wahr genommen. Gleich darauf noch ein Angler, sein Rutenfutteral geschultert. Auch sein Fahrrad ohne Licht. Wir erreichen Tiegenort (Tujsk), ein kleines Dörfchen mit viel erhaltener und sehenswerter Bausubstanz. Manches Alte in diesem Ort ist mit viel Liebe zum Detail erhalten. Von hier aus ist es nicht mehr weit nach Fischerbabke (Rybina). Wir passieren die zwei Hebebrücken, biegen gleich danach rechts ab Richtung Steegen. Dort angekommen fahren wir über Stutthof nach Bodenwinkel. Im Hafen liegt gut vertaut die Santa Maria II.

Ewa, eine Warschauer Kollegin Zbyszeks, sitzt mit einem Bodenwinkler Fischer auf den Bänken am Heck, begrüßt uns. Wir gehen an Bord, nehmen Platz, können uns unmittelbar darauf kaum mehr vor Stechmücken retten. Ewa holt aus der Kajüte ein Fläschchen Autan und Hände, Füße, Kopf und Haare: alles wird der farblosen Flüssigkeit eingerieben. Anfangs bezweifle ich die Wirkung, da ich nach wie vor von zahlreichen Mücken umschwärmt werde, Nur auf Zbyszeks Hals und Nacken lassen sie sich nieder, was er aber offensichtlich gar nicht bemerkt. Auf unserer Seite des Hafens befinden sich keine weiteren Boote, gegenüber jedoch liegen zahlreiche Fischkutter und –boote.

Zbyszek schlägt vor, etwas essen zu gehen. Aus einer großen Halle am Rande des Hafens, - „Dancing“ verkünden schwarze Lettern auf weißem Schild – hallen laute Melodien. Ein Musiker bearbeitet mit Hingabe sein Keyboard. Hier soll es guten Fisch geben, aber uns ist es zu laut. Wir steigen in Zbyszeks Volvo, dieseln zuerst Richtung Vogelsang, finden aber kein geöffnetes Restaurant, drehen um und biegen kurz vor Ortsende in den Hof des Restaurants „Bialy Dworek“ ein.

Wir nehmen Platz draußen im Freien, bestellen Getränke und Suppen. Ich unterhalte mich mit Ewa, einer früheren Direktorin der Warschauer Kultur- und Fremdenverkehrsgesellschaft. Sie sagt, sie brauche das Meer, fühle sich hier an der Frischen Nehrung sehr wohl. Auf mein Nachhaken sagt sie, auch die hier lebenden Menschen gefielen ihr. Sie seien offen, arm, aber ehrlich und immer hilfsbereit. In Warschau pulsiere das Leben, sie könne dort gut arbeiten, aber hier, bestätigt sie kopfnickend, hier könne sie gut leben. Nach einem komplizierten doppelten Beinbruch und dadurch bedingter sechsmonatiger Krankheit und Rekonvaleszenz habe sie ihre Arbeitsstelle, an der sie mit ganzem Herzen gehangen habe, verloren. Nach weiteren neun Monaten Arbeitslosigkeit und vergeblichem Bemühen eine ähnliche Position zu erhalten habe sie bei einer österreichischen Investmentbank eine Arbeitsstelle gefunden. Bereits am 02. September ginge es dort los.

Es wird spät, wir wollen aufbrechen. Ich wünsche Ewa alles Gute, sage ihr, ich hoffte, mich mit ihr noch vor ihrer Abfahrt weiter unterhalten zu können.