PDA

Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Ein Danziger Student im Dienste Chiles



Wolfgang
25.11.2013, 20:53
Aus "Unser Danzig", Nr. 5 vom 5. März 1986, Seite 7

Ein Danziger Student im Dienste Chiles
von Harry Werner

In einer Zeit, da millionenfache Vertreibung zur Lebenswirklichkeit und die Bilder von Flüchtlingszügen zum Programmbestand der Medien gehören, scheinen die Wörter Auswanderung, Emigration, Aus- und Umsiedlung, Flucht und Vertreibung schon verschiedenen geschichtlichen Epochen zuzugehören, obwohl sie allesamt für die Betroffenen das zeitlos schicksalhafte Geschehen des Exodus, des bangen Wegs in die Fremde.bezeichnen. Das freiwillige Aufgeben oder das erzwungene Verlassen der Heimat bedeuten immer auch den Verlust an menschlicher Vertrautheit, an gewohnter Überschaubarkeit der zugehörigen Gemeinde, an Selbstverständlichkeit eines umgrenzten Lebens. Dabei sind die individuellen Gründe und Motive der eigenverantwortlich vollzogenen Auswanderung vielfältig. Abenteuerlust und Pioniergeist, die Flucht aus sozialer Unzufriedenheit und politischen Enttäuschungen, der Drang nach Selbständigkeit und Freiheit, die Ausschau nach günstigeren Bedingungen für Arbeit und Leben sind gleichermaßen Triebkräfte für die Suche nach einem besseren Zuhause, nach einer neuen Heimstatt. Erwartungen und Verheißungen besseren Lebens lassen dem Auswanderer das Land der Zuflucht als Hoffnungsland erscheinen - indes verfliegen dort die Träume von einem leichteren, sorgenfreien Dasein häufig sehr schnell angesichts der ungewohnten und unerbittlichen Anforderungen eines fremdartigen Ambiente. Gerade die Erfahrungen deutscher Auswanderer nach Südamerika, vor allem der frühen Kolonisten, zeigen neben tapferem, erfolgreichen Bestehen und Überleben auch unzählige Fälle für Heimweh, Ohnmacht, Versagen und Scheitern. Die deutsche Auswanderung in die Neue Welt ist Teil der großen Völkerwanderung des 19. und 20. Jahrhunderts. Dabei sind auf dem südamerikanischen Subkontinent, quantitativ betrachtet, die ABC-Staaten die bevorzugten Aufnahmeländer. Neben anderen Landsmannschaften, wie zum Beispiel Hessen, Pfälzern und Schwaben, haben ostdeutsche Landsleute und Deutsche aus Ost- und Südosteuropa ebenfalls an der Gruppenauswanderung ihren Anteil. So gehören zu den gemeinschaftlichen Ausfahrern nach Südbrasilien Pommern und Donauschwaben, nach Argentinien Wolga- und Schwarzrneerdeutsche, nach dem paraguayischen·Chaco deutschsprachige Mennoniten aus der Ukraine. Ungezählt und öffentlich unbekannt bleiben dagegen die meisten kleineren Notgemeinschaften, die Emigrantenhäuflein und erst recht die vereinzelten Auswanderer, die sich bei der Verstreuung leicht im Dickicht des Urwalds und der Millionenstädte verlieren.

Wenn gegenwärtig unter den zehn Millionen Einwohnern Chiles noch etwa 15.000 des Deutschen neben der Landessprache Spanisch zur Kommunikation mächtig sind, zeigen sich damit Eigenart und Überlebenskraft deutscher Einwanderer und ihrer Nachfahren. Von abenteuernden Einzelgängern abgesehen, gab es in Chile zur Befreiung von der spanischen Kolonialherrschaft (1818) keine Einwanderung anderer Nationalitäten. In den Jahrzehnten danach ließen sich einzelne deutsche Kauf- und Handelsleute sowie Handwerker in einigen Städten Mittelchiles nieder. Bereits 1834 eröffnete Hamburg seine konsularische Vertretung in Valparaiso, aus der 1867 das erste "Generalkonsulat aller Deutschen Länder" in Chile hervorgeht. Die sodann zur Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Einwanderung von Deutschen nach Südchile zur Urbarmachung und Besiedlung des Landes hatte einen großartigen Initiator und Organisator: den 1811 in Charlottenburg geborenen Bernhard Eunom Philippi, Student in Danzig, Schiffsoffizier, Kollektor für das Naturhistorische Museum in Berlin, Naturforscher und Kartograph, der in chilenische Dienste übernommen und als offizieller Kolonisationsagent tätig wird. Als Gouverneur von Magellanes wird er 1852 von Eingeborenen ermordet. Das Engagement Philippis und das seines Nachfolgers Vincente Perez Rosales führen zu einem ersten großen Einwandererschub aus Deutschland, der, wie Nachforschungen in den Schiffslisten ergaben, von 1846 bis 1875 insgesamt fast 8.000 Personen zählte. Die Unterlagen wiesen indes nur für knapp mehr als die Hälfte der Passagiere Geburts- oder Herkunftsort aus. Hiernach stammten immerhin 618 aus Schlesien, 456 aus Böhmen, 311 aus Brandenburg, 69 aus Ost- und Westpreußen, 24 aus Danzig und 20 aus Pommern.

Wie zahlreich die Herkunftsorte einer Landsmannschaft sind, lässt sich beispielhaft für die Schlesier zeigen, als deren städtische Heimat Breslau, Bunzlau, Glatz, Gleiwitz, Glogau, Görlitz, Hirschberg, Liegnitz, Neusalz, Peterswaldau, Reinerz, Ratibor und Striegau genannt werden. Aber auch ehemalige protestantische Flüchtlinge sind darunter, die wegen ihres Glaubens 1837 Österreich verlassen mussten, sich am Fuße des Riesengebirges unter dem Schutz Friedrich Wilhelms III. von Preußen niedergelassen hatten und von denen nunmehr mehrere Familien nach Chile auswandern, um am Ufer des Llanquihue-Sees zu siedeln. So verkündete dort die Inschrift eines Grabsteins den folgenden Weg menschlicher Wanderschaft: "Als Kind in Tirolens Bergesluft / als Jungfrau in Schlesiens Blütenduft / unter Kindern und Enkeln am stillen See / fand sie Ruhe im Lande Llanquihue". Nicht nur Initiator zahlreicher Gemeinschaftswerke in Valdivia, sondern der geistige Führer der gesamten ersten Einwanderergeneration war Karl Anwandter, 1801 in Luckenwalde geboren, Absolvent des Joachimthaler Gymnasiums und der Universität in Berlin, Apotheker und Bürgermeister in Kalau, Mitglied des Preußischen Landtags und der Deutschen Nationalversammlung von 1848. Sein Vermächtnis - Anwandter starb 1889 in seiner neuen Heimat - ist bis heute für das Selbstverständnis der Deutsch-Chilenen maßgebend: "Wir werden ebenso ehrliche und arbeitsame Chilenen sein, wie nur der beste von ihnen es zu sein vermag. In die Reihen unserer neuen Landsleute eingetreten, werden wir unser Adoptiv-Vaterland gegen jeden fremden Angriff mit der Entschlossenheit und Tatkraft des Mannes zu verteidigen wissen, der sein Vaterland, seine Familie und seine Interessen verteidigt."

Während sich die deutsche Kolonisation am Llanquihue-See, in Valdivia und im Raum Osorno nach den gegebenen territorialen Möglichkeiten ausdehnte, wobei eine größere Gruppe Sudetendeutscher als Siedler tiefer in das Landesinnere vordrang, vollzog sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine weitere Etappe in der Besiedlung Chiles, und zwar in der Frontera, dem an das Stammesland der Araukaner angrenzenden und bislang unbesiedelten Gebiet, dessen Hauptstadt jetzt Temuco ist. An der diesmal gemischtvölkisch vorgenommenen Ansiedlung von insgesamt 36.000 Einwanderern aus vielen Teilen der Welt sind über 1.000 Deutsche beteiligt, darunter ein Großteil Berliner, Brandenburger, Pommern und Westpreußen. Als Kuriosum wird von einer kleinen Kolonie erzählt, dass sich dort etwa ein Dutzend Berliner Kutscher angesiedelt haben, die den Beschluss zu gemeinsamer Auswanderung daheim in Bierlaune gefasst hätten. Noch jahrelang sah man einige von ihnen in den alten, farbig eingefassten Kutscherjacken herumlaufen, auf deren Knöpfen die Worte "Berliner Droschkenkutscher" eingestanzt gewesen wären.

Auch an anderen mittelchilenischen Partikularsiedlungen, an der missglückten Kolonisation der unwirtlichen Insel Chiloe und der Besiedlung des Magellanes-Gebiets sind Deutsche beteiligt. Von den 6,5 Millionen Europäern, die von 1820 bis 1920 nach Südamerika ausgewandert sind, kamen nur 80.000 nach Chile, darunter ca. 11.000 Deutsche, doch haben diese insbesondere dem Süden des Landes ein unverwechselbares Gepräge gegeben. Die weiteren deutschen Einwandererschübe zur Zeit der Weltwirtschaftskrise um 1930, der Emigration aus dem vom Nationalsozialismus beherrschten Deutschen Reich und der Aussiedler aus Osteuropa wie dem Baltikum und den Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren nach ihrer Zahl eher kleine Minderheiten, die sich überwiegend in der Hauptstadt Santiago niederließen, zum anderen Teil in den Weiten des Landes zwischen Atacama-Wüste und Feuerland verstreuten. Ein Beispiel hierfür war die Ansiedlung volksdeutscher Bauernfamilien zu Beginn der 50er Jahre im Norden Chiles bei La Serena.

Über einen Zeitraum von 100 Jahren hinweg waren unter den Ankömmlingen aus Deutschland immer wieder Landsleute aus Pommern, Brandenburg, Schlesien, Ost- und Westpreußen wie auch Auswanderer und Flüchtlinge aus den deutschen Siedlungsgebieten Ost- und Südosteuropas gewesen. Sie kamen dem fortschrittsorientierten Land nicht nur wie gerufen, im vergangenen Jahrhundert waren sie dies meistens auch - sie folgten dem Ruf in die Neue Welt. Ihre Leistungen der Kolonisierung, in Landwirtschaft; Gewerbe, Handel und Industrie, in sozialen und kulturellen Bereichen - gegenwärtig pflegen noch etwa 20 Colegios Alemanes die deutsche Sprache - sowie ihre Einordnung in die Gesellschaft haben ihnen in Chile insgesamt einen hervorragenden Ruf verschafft. Der Vorgang dieser Integration gehört zur Historie Chiles, der Aufbruch und der Auszug aus der alten Heimat bleiben jedoch ein Stück ostdeutscher Geschichte, das es auch zu bewahren gilt.

-----

Die Veröffentlichung dieses Artikels erfolgte mit freundlicher Genehmigung des "Bundes der Danziger" in Lübeck.

Weitere Verwendungen / Veröffentlichungen bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung durch den Rechteinhaber:
Bund der Danziger
Fleischhauerstr. 37
23552 Lübeck

Bei vom Bund der Danziger genehmigten Veröffentlichungen ist zusätzlich die Angabe "Übernommen aus dem forum.danzig.de" erforderlich