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Wolfgang
02.01.2014, 12:39
Schönen guten Morgen,

das Cafe Derra war eines der größten und beliebtesten Gartenrestaurants ins Danzig. In "Unser Danzig" erschien 1986 eine Geschichte dieses Restaurationsbetriebes. Auch wenn der Bericht manchmal nur am Rande von der Geschichte des "Cafe Derra" handelt, viele Fragen offen lässt (vor allem über die Beziehungen zur NSDAP) und sich der eine oder andere Fehler eingeschlichen hat, ist er doch recht interessant.

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Aus "Unser Danzig",
Nr. 5 vom 5. März 1986, Seite 8-10 und
Nr. 6 vom 20. März 1986, Seiten 7-10

Cafe Derra
Ein Schidlitzer Saal- und Gartenrestaurant
von Walter Rohloff

"CAFE DERRA", wer von den damaligen Danzigern, egal, ob alt oder jung, kannte es nicht von Tanzveranstaltungen, Konzerten, Ballnächten und Kinderfesten im Sommer sowie den Weihnachtsfeiern mit Kinderbescherungen in der Adventszeit, "CAFE DERRA" , der Name allein war schon so etwas wie ein Gütezeichen für Qualität auf dem Gebiet der Gastronomie und Unterhaltung. Mit der damaligen Straßenbahn der Linie 7, Danzig-Silberhütte-Emaus, war es für die Danziger und auch die Schidlitzer in nur wenigen Minuten Fahrzeit erreichbar. Von der Silberhütte aus gesehen lag es bereits in der Nähe der zweiten Haltestelle, die die damaligen Schaffner dieser Strecke mit "Schladahler Weg" ausriefen.

Ich habe Aufzeichnungen und ,Notizen über das "CAFE DERRA" von der Witwe des letzten Inhabers erhalten und versuche, mir einen Überblick und ein klares Bild zu verschaffen. Ob mir dieses wohl gelingen wird?

Gehen wir, des besseren Verständnisses wegen, zunächst einmal ein wenig in die Geschichte. Die "Freie und Hansestadt Danzig" war seit ihrer Gründung zum eigenen Schutz stets von Mauern, hohen Erdwällen, breiten Wassergräben sowie von Türmen und Toren umgeben. Napoleon baute in den Jahren zwischen 1807 und 1812 Danzig zur stärksten, kaum einnehmbaren Festung Europas aus. Selbst zur Zeit der Leipziger Völkerschlacht vom 16. bis 18. Oktober 1813 leisteten die französischen Verteidiger Danzigs den belagernden Russen und Preußen noch erbitterten Widerstand, und nur der in der Stadt unter der Bevölkerung und den Soldaten herrschende Hunger und durch ihn mitverschuldete Krankheiten und um sich greifende Seuchen zwangen die Franzosen schließlich in die Knie und veranlassten sie, die Festungswerke und auch die Stadt Danzig an die belagernden Russen und Preußen zu übergeben. Die Bevölkerung der durch die andauernden Beschießungen zum Teil stark in Mitleidenschaft gezogenen Stadt konnte endlich aufatmen, denn der elsässische General Rapp hatte die Stadt in all den Jahren der Besetzung an den Bettelstab gebracht.

Werfen wir deshalb zunächst einmal auf das seit Gründung der Rechtstadt (= richtige Stadt) vorherrschende Bedürfnis ihrer Bewohner, diese ihre Stadt gegen jedweden äußeren Feind zu schützen. Dem inneren Mauerbau um die Rechtstadt zwischen dem Altstädtischen und dem Vorstädtischen Graben, der Linie Reitbahn, Kohlenmarkt und Holzmarkt sowie den vielen Toren an der Wasserfront der Mottlau, waren später dann, nach Ausdehnung der Stadt nach Süden, Osten und Norden, also der Einbeziehung der Vorstadt, der Altstadt, der Speicherinsel als auch der Niederstadt in späteren Jahrhunderten, diesen großen Stadtbereich schützende hohe Erdwälle und breite Wassergräben mit herausragenden Bastionen geschaffen worden. Sie taten der Verteidigungsbereitschaft einer mittelalterlichen großen und bedeutungsvollen Stadt vollauf Genüge. An deren Verlauf erinnerten noch in unseren Jugendjahren die Namen Wiebenwall, Karrenwall, Dominikswall, Elisabethwall sowie der Stadtgraben im Westen, die Flucht der Wallgasse im Norden sowie der Langgarter Wall im Osten.

Da die eigentliche Gefahr bei allen Belagerungen aber fast immer nur von den westlich der Stadt gelegenen Höhen ausging, hatte man später die äußere Verteidigungslinie noch weiter gen Westen vorgeschoben und Teile des Bischofs- und des Hagelsberges in den Verteidigungsgürtel der Stadt Danzig miteinbezogen.

Während nach Osten das Langgarter Tor, das Werdertor , nach Süden das Leege Tor und das Petershagener Tor, nach Norden das Jacobstor und das Olivaer Tor die Stadteingänge beschützten, so waren es nach Westen, den nahe gelegenen Höhen sowie dem Schidlitz-Tale zugewandt, deren bewachter Stadtzugänge gleich vier, davon drei in unmittelbarer Nähe des Stadtzentrums. Nur der vierte, der am spätesten errichtete, war jenen dreien vorgelagert. Es waren der Reihe nach das Langgasser Tor, der Stockturm, das Hohe Tor und an vorderster Front, auf einsamem Posten stehend, das weit vorgeschobene Majorentor, auch, Neugarter Tor genannt, zwischen dem Hagels- und dem Bischofsberge stehend, am Beginn des Schidlitz-Tales. Es bewachte den Übergang über den breiten Wassergraben, der sich hier zwischen den beiden Bergen befand und welcher durch das Wasser des Schidlitzbaches, auf plattdeutsch kurz "Bäk" genannt, gefüllt wurde. Ein Teilstück jenes breiten und tiefen Wassergrabens des Befestigungswerkes wurde nach der Niederlegung des dortigen Verteidigungswalles und dem Abriss des Tores in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts als Rückstau- und zugleich Ablagerungsbecken für die mitgeführten Sand- und Schlickmassen der "Bäk" einem friedlichen und zugleich auch sinnvollen und praktischen Zweck zugeführt. Zwischen dem seinerzeit noch mit Wasser angefüllten Stadtgraben, der im vorigen Jahrhundert trockengelegt und an dessen Stelle der Danziger Hauptbahnhof 'angelegt wurde, entstanden zwischen dem Hagels- und dem Bischofsberg nach der Errichtung des Majorentores viele neue Gartenanlagen mit Sommerhäuschen und Wandelgängen, weshalb diese Gegend mit "Neuer Garten" bezeichnet wurde, woraus dann im Gegensatz zum Langen oder auch Langgarten das spätere Wort Neugarten entstand, den diese westliche Ausfallstraße Danzigs zu unserer Jugendzeit noch immer trug, Aber auch noch vor dem damaligen Neugarter Tor zwischen den Ausläufern des Stolzenberges und des Zigankenberges, von dem der alte Weinberg in der Schidlitz ja ein Teil war, entstanden in der Gegend des späteren Schidlitzer Ortsteils Schladahl (dem seinerzeitigen Schlathal) zwischen der Oberstraße und den beiden Mulden (später mit den Namen Große und Kleine Molde versehen) eine Anzahl neuer prächtiger Gartenanlagen mit Sommerhäusern, Wandelgängen, Pavillons und Grotten beiderseits einer von Linden gesäumten breiten Avenue, die sich mit der Langgarter durchaus messen konnte. - So sah einmal zu früherer Zeit die Gegend am östlichen unteren Ende unserer uns nur zu gut bekannten, nüchtern wirkenden Karthäuser Straße, der Schidlitzer Hauptstraße, aus. Und diese östlichste Gegend des langgestreckten Schidlitz-Tales erhielt daher auch damals die Bezeichnung "Zweiter Neugarten". - Das liebliche .und im Sommer sehr warme, im Winter gegen die rauhen Nord- und Nordostwinde durch den Zigankenberg geschützte Schidlitzer Tal war für die damaligen Danziger Patrizierfamilien so etwas ähnliches wie deren "Riviera", denn infolge des milden, oft sogar sehr warmen Klimas gediehen sogar Weinreben und wuchsen Walnussbäume in ihm. Und deshalb hatten sehr viele reiche Danziger Patrizierfamilien ihre Sommerhäuser und Gärten in jenem lieblichen Tal.

Doch auch Danzigs Feinde wussten die günstige Lage und das milde Klima dieses Tales zu schätzen, und so errichteten sie fast immer ihr Hauptquartier im Schidlitz-Tal, so u.a. geschehen von den Preußen im Jahre 1793, als auch den Russen und den Franzosen bei den Belagerungen Danzigs. Im Jahre 1807 leitete Napoleon die Belagerung, die Beschießung und den Sturm sowie die Einnahme Danzigs von einem der zahlreichen Herrensitze aus, die sich in Pietzkendorf, einem kleinen Ort auf den nordwestlich des Schidlitz-Tales gelegenen Höhen, befanden. Das alte historische Schidlitz lag bereits zu damaliger Zeit, also im Jahre 1807, in jenem Gebiet, das in etwa im Osten vom Weinberggang und vom Sterngang und im Westen vom Schlapker Gang und der Schellingsfelder Straße begrenzt wurde. Dieses ist aus einer alten Karte bereits ersichtlich. Infolge des strengen Reichs-Rayon-Gesetzes vom 21.12.1871 durften bis zur Linie "Krummer Ellbogen" - Brunnengang - "Neue Sorge" nur Fachwerkhäuser , Holzbauten und Laubenkolonien angelegt bzw. errichtet werden, die jederzeit rasch niedergelegt, gesprengt oder abgebrannt werden konnten, sobald eine Belagerung der Stadt Danzig im Anzuge war. Und so entstanden dann in diesem breiten, der Stadt Danzig vorgelagerten westlichen Gebiet im Schidlitz-Tal zahlreiche Laubenkolonien sowie auch die sogenannten Saal- und Gartenetablissements, von denen noch drei in den zwanziger und dreißiger Jahren vorhanden waren, unter welchen das besagte "CAFE DERRA" gegenüber dem St.-Barbara-Friedhof am Beginn der Weinbergstraße im Ortsteil Schladahl nicht nur das größte, sondern wohl auch zugleich das beliebteste war. Weiter westlich folgten dann die Saal- und Gartenlokale "Friedrichshain" und "Steppuhn" am bzw. gegenüber dem Breitgang sowie das "Cafe Sanssouci" ostwärts des Weinbergganges direkt neben dem Luisen-Waisenhaus gelegen. Genau neben dem Sterngang lag das "St.-Josephs-Heim", ein katholischer Kindergarten, der von jungen Nonnen geleitet wurde. Vor dem Erwerb durch die katholische Kirchengemeinde Schidlitz-Emaus war auch er ein Saal- und Gartenlokal gewesen. Am "Krummen Ellbogen" folgte dann noch das Gartenlokal "Johannes Kroggel" zwischen dem Rektorweg und der Karthäuser Straße sowie am Beginn der Großen Molde zum Nonnenacker und Weinberg hin gelegen, das Saal- und Gartenlokal "Zur F1iederlaube". Weiter westlich im Schidlitz-Tal, in Emaus an der Karthäuser Straße gelegen, gab es dann noch zwischen der St.-Franziskus-Kirche und dem Dreilinder Weg das Saal- und Gartenlokal "Diübeck". Wir aber wollen uns nun mit der Geschichte des "CAFE DERRA" eingehender befassen.

Cafe Derra, das sich selbst als Saal- und Gartenrestaurant bezeichnet, wie aus alten historischen Fotos ersichtlich ist, trug zuletzt laut Danziger Einwohnerbuch des Jahres 1942 die Anschrift "Danzig-Schidlitz, Karthäuser Straße Nr. 22/24" und ist unter der Bezeichnung "Kaffeehaus Derra" eingetragen. Verfolgen wir also den Beginn, die Blüte- und Glanzzeit sowie den Niedergang und das traurige Ende dieses wohl von fast allen Danzigern und Schidlitzern einstmals so geliebten Saal- und Gartenlokals.

Da machte sich also im Jahre 1906 der im Kurhaus von Glettkau als Oberkellner angestellte Josef Derra, gerade 28 Jahre alt, der den Beruf des Kellners in den Danziger Gaststätten "Zum großen und kleinen Biberstein" erlernt hatte, selbständig und bewirtschaftete fortan mit seiner jungen Frau die Gaststätte und Bierhalle mit angebauter Küche "Zum Luftdichten" in der Hundegasse in Danzig. Aber bereits am 10. März des Jahres 1910 übernahm er mit seiner Frau in Schidlitz das an der Karthäuser Straße gelegene "Cafe Moldenhauer" und änderte dessen bisherigen Namen in "CAFE DERRA" um. Er konnte damals wohl kaum ahnen, welchen guten Klang dieser Name unter den Danziger Saal- und Gartenlokalen einmal einnehmen würde. Dieses Anwesen besaß in den dreißiger Jahren eine Gaststätte, einen großen Kaffeesaal, ein Billardzimmer sowie einen großen zum Teil von alten Bäumen bestandenen schattigen Garten mit zwei Veranden und einem Musikpavillon. Außerdem war auch noch eine Spielwiese für Kinder und Jugendliche vorhanden.

Aus einem älteren Grundbuchauszug ist zu ersehen, dass dieses Gartenlokal schon um 1895 den Restauratoren Saalbach und Schulz gehört hatte. In dieses Lokal steckte Josef Derra, inzwischen 32 Jahre alt, nun all seine Arbeit sowie seine gesamten Ersparnisse und baute es nach seinen Plänen und Vorstellungen um. So wurden, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, der Saal vergrößert, eine neue Bühne errichtet sowie auch der Garten in geschmackvoller Weise umgestaltet, denn die Gäste, zu denen er nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Jugendlichen und die Kinder zählte, sollten sich alle bei ihm wohl fühlen und somit gern wiederkommen. Und so wurden dann im Zuge der Umgestaltung und Verschönerung Blumenrabatten, angelegt, neue Bäumchen und Hecken gepflanzt und eine mit allerlei Geräten ausgestattete Spielwiese für die Kinder geschaffen.

Das Lokal konnte nach dem Umbau allein im vergrößerten Saal 500 Gäste beherbergen, während im großen schattigen Garten unter den Bäumen, in den beiden Veranden und in den zwischen Hecken gelegenen Lauben rund 1.000 Personen Platz finden konnten. Aufgrund seiner Gemütlichkeit, der zu allen Zeiten stets freundlichen Bedienung sowie der angemessenen Preise wurde das "CAFE DERRA" sehr bald die Gast- und Erholungsstätte sowohl für den kleinen Mann, als auch für angesehene Bürgerfamilien. Während des ganzen Jahres wechselten die verschiedensten Veranstaltungen einander ab. Im Ausgange des Winters waren es die Karnevalsveranstaltungen, während der warmen Jahreszeit dann die Sommernachtsbälle und an den Nachmittagen sowie Abenden die Kinderfeste, im Herbst die Weinfeste und im Freien stattfindende Konzerte, an den folgenden Wochenenden die Tanzveranstaltungen, danach folgten in der Adventszeit die Weihnachtsfeiern für die Kinder als auch die Erwachsenen und schließlich am Ende eines jeden Jahres die Silvesternacht mit ihrem Tanz ins neue Jahr. Vergessen sei aber auch nicht der Tanz in den Frühling eines jeden Jahres unter der Bezeichnung "Tanz in den Mai".

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg fanden bei "Derra" alljährlich die Musterungen der jungen Männer für die Kaiserliche Armee statt. In der damaligen Zeit des nationalen Patriotismus war dieses Ereignis für die jungen Menschen ein sehr bedeutsames Erlebnis. Sonntäglich angezogen, mit Blumen und Bändern geschmückt, zogen die jungen Burschen zumeist in geschlossenen Gruppen mit Gesang zu den für sie zuständigen Musterungslokalen. Aus den umliegenden Dörfern kamen sie in mit Girlanden geschmückten Leiterwagen zur Musterung. Der Feldwebel des Musterungsbüros rief Namen auf, verglich seine Liste mit der Stammrolle, und dann ging's zur ärztlichen Tauglichkeitsuntersuchung, die in einer der beiden Veranden stattfand. In langer Reihe, im Adamskostüm, passierten die jungen Burschen vor dem gestrengen Blick des Herrn Oberstabsarztes sodann Revue, der nach erfolgter gründlicher Untersuchung sodann das entscheidende Urteil fällte, für welche Waffengattung der junge Mann für tauglich befunden wurde. Hatte der junge Mann die Musterung positiv überstanden, so erstand er in der Gaststube einen schmalen fünf Zentimeter langen Blechstreifen und heftete sich denselben an die Brustseite seiner Jacke. Auf jenem Streifen standen die Worte der betreffenden Waffengattung, der er zugeteilt worden war, entweder der Infanterie, Kavallerie, der Artillerie oder aber der Marine. In jener Zeit wurde ein junger Mann erst dann "für voll genommen", wenn er "des Kaisers Rock" getragen hatte. Damit hatte er die weitaus größeren Chancen beim anderen Geschlecht. In Danzig war zu damaliger Zeit ein Teil der "Kaiserlichen Flotte" stationiert, die ihre eigene Werft, "Kaiserliche Werft" genannt, hatte. Nach dem für Deutschland verlorenen Ersten Weltkrieg wurde die "Kaiserliche Werft" internationalisiert, d.h., dass die beiden Siegermächte Großbritannien und Frankreich sowie Polen und der Senat von Danzig Vertreter im Aufsichtsrat der zu einer Gesellschaft umgewandelten Werft sitzen hatten, die über das weitere Wohl und Wehe der Werft, die nach der Gründung des Freistaates Danzig im Jahre 1920 den Namen "Danziger Werft" erhalten hatte, zu befinden hatten.

Aber auch viele Einheiten des preußischen Heeres hatten zur kaiserlichen Zeit ihre Garnisonen in Danzig, so die Infanterie-Regimenter Nr. 128 und Nr. 5. Zu den Eliteeinheiten der damaligen deutschen Armee zählten die "Schwarzen Leibhusaren" des Kaisers, die in der Kaserne von Langfuhr-Hochstrieß lagen. Diese Danziger Hausregimenter feierten dann in Schidlitz bei "Derra" reihum des Kaisers Geburtstag, und es dauerte wohl eine ganze Woche, bis alle Kompanien ihr Fest begangen hatten.

Im August des Jahres 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. Bereits in den ersten Kriegswochen fielen russische Truppen in die östlichen und südlichen Teile Ostpreußens ein, verwüsteten Dörfer und Städte, drangsalierten, misshandelten, mordeten und verschleppten die in ihrer Heimat zurückgebliebenen Deutschen. Ein Teil der ostpreußischen Bevölkerung floh rechtzeitig vor den heranrückenden Russen, ein anderer Teil aber wurde vorsorglich evakuiert. Bekannt dürfte noch einigen Deutschen der älteren Generation das Gemälde sein, welches den Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg auf der Marienburger Nogatbrücke inmitten der nach dem rettenden Westufer hastenden Flüchtlinge, der Alten und Schwachen, der Frauen und Kinder darstellt und auf dem im Hintergrund das Hochschloss des Deutschen Ritterordens, die mächtige Marienburg, zu erkennen ist.

Die ostpreußische Tragödie schlug ihre Wellen auch bis nach Danzig. Die Stadt nahm viele der geflohenen ostpreußischen Familien auf. Die Bevölkerung unserer Heimatstadt erfuhr somit aus erster Hand, was sie im Falle des Einmarsches von den Russen zu erwarten hätte. Obgleich der nach Westen weisende Teil der mittelalterlichen hohen Erdwälle und der vor ihnen liegenden breiten Wassergräben bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen dem Leegen Tor, dem Weißen Turm sowie dem Wiebenwall, Karrenwall, Dominikswall, Elisabethwall und dem Stadtgraben bis hin zum Olivaer Tor und dem Jacobstor abgetragen und eingeebnet worden war, so wurde Danzig infolge seiner nach Süden und Osten die Stadt immer noch umgebenden hohen Erdwälle mit den herausragenden einzelnen Bastionen und den dort noch vorhandenen breiten Wassergräben und den Außenforts wie dem Fort Plehnendorf und dem Fort Kalckreuth an der "Hohen Chaussee" sowie der im Westen auf dem Hagels-. und Bischofsberge sich befindenden Kasematten und Festungswälle und auch Festungsgräben noch immer als Festung und Bollwerk gegen feindliche Belagerungen und Angriffe betrachtet.

Da die Oberste Deutsche Heeresleitung den Plan verfolgte, ganz Ostpreußen den Russen vorübergehend zu überlassen und eine dauerhafte Hauptwiderstandslinie erst am Westufer der Weichsel aufzubauen, sah man dem weiteren Verlauf dieser militärischen Überlegungen und den sich zuspitzenden Verhältnissen mit äußerster Skepsis entgegen, denn Danzig könnte in einem solchen Falle zu einer Art Frontstadt werden. Es wurden bereits Pläne erwogen, einen Teil der alten Linden der Großen Allee zu Beginn derselben am Olivaer Tor zu fällen, um so für den Ernstfall freies Schussfeld zu haben. Ganz Schidlitz sollte von der Zivilbevölkerung geräumt, in den Schutz der Stadt Danzig gebracht und danach alle Holz- und Fachwerkhäuser, die innerhalb des Rayon-Sperrgürtels vor den Toren der Stadt im Westen standen, wie immer wieder bei drohenden Belagerungen in früheren Zeiten geschehen, zur Sprengung vorbereitet bzw. abgerissen oder aber niedergebrannt werden, um dem Gegner die Annäherung im Schutze der Gebäude unmöglich zu machen bzw. zu erschweren und selbst ein einsehbares Gelände und freies Schussfeld zu haben.

Und somit begann man, die Niederlegung der Häuser sowie aller anderen Gebäude in Schidlitz bis zum "Krummen Ellenbogen", wie in vergangenen Zeiten bereits öfter getan, vorzubereiten. Es wäre im Jahre 1914 also nicht das erstemal in seiner jahrhundertealten Geschichte gewesen, dass Schidlitz diesen Schicksalsschlag hätte erdulden müssen. Doch waren es seinerzeit immer wieder andere Generationen und andere Bewohner gewesen, die das Schicksal geschlagen hatte , die all ihr Hab und Gut verloren und ihre Heimat hatten verlassen müssen.

Jedoch mitten in diese Vorbereitungen platzte sozusagen das "Wunder von Tannenberg" hinein. Generalfeldmarschall von Hindenburg war es gelungen , die "russische Dampfwalze" zum Stehen zu bringen und zwei ihrer Armeen zwischen den masurischen Seen einzukesseln und sie vernichtend zu schlagen. Nicht nur ganz Ostpreußen konnte erleichtert aufatmen , da die tödliche Gefahr gebannt schien, sondern auch die Stadt Danzig und dort wiederum insbesondere die Schidlitzer Bevölkerung, die sowieso die ärmste der ganzen Stadtgemeinde Danzigs war. Mit Tränen der Freude in ihren Augen kehrten wohl die allermeisten Bewohner des Tales in ihre Häuser zu ihrem Hab und Gut zurück. Das Schicksal war noch einmal gnädig mit ihnen verfahren. Wenn sie damals jedoch in die Zukunft hätten sehen können, so hätten sie aller Wahrscheinlichkeit nach die Gnadenfrist erkannt, die ihnen allen vom Schicksal noch gewährt worden war. Es waren nur etwas mehr als gerade 30 Jahre! Dann allerdings würde das Schicksal unerbittlich und unwiderruflich zuschlagen. Wer von den damaligen Schidlitzern erkannte schon das Damoklesschwert, das über aller Köpfe schwebte, bis der dünne Faden zerriss, der es noch hielt? Nach dem Schock der ersten Kriegswochen des Jahres 1914 wurden die Räume des "CAFE DERRA" zu einem Hilfslazarett für verwundete lungenkranke Soldaten umgewandelt. Und diesem humanen Zweck dienten sie während des ganzen Krieges. "CAFE DERRA" hatte somit eine große vaterländische Pflicht in den Zeiten bitterster Not erfüllt. Seine Räume haben also nicht nur Freude gesehen , sondern auch das Leid und die Schmerzen sowie den Tod vieler verwundeter junger Soldaten. Sie sahen Bitternis und Hoffen, Verzagtheit und Glauben, Ergebenheit und Tränen junger Soldaten und ihrer Mütter. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde das Cafe von Grund auf renoviert und diente fortan wieder der Erbauung und Freude der Menschen. Wie vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges fanden in seinen Räumen wie zuvor in alter Weise Vergnügungen , Zusammenkünfte und Veranstaltungen vieler Danziger Vereine statt . So hielten u.a. der Turn- und Sportklub DT, der Verein der Zollbeamten, aber auch der "Verein ehemaliger 128er" sowie der "Verein ehemaliger Kriegsgefangener" ihre Zusammenkünfte im "CAFE DERRA" ab.

Im Jahre 1922 verstarb Josef Derra , und seine Witwe führte das Gartenlokal allein weiter. Zehn Jahre gingen ins Land, bis im Jahre 1932 der älteste Sohn Hans Horst Derra soweit war, dass er den elterlichen Betrieb übernehmen und von da an auch zu leiten imstande war. Während in früheren Jahren die Tanzveranstaltungen überwogen, hielten nunmehr auch die verschiedensten Parteien und soldatische Vereinigungen ihre Versammlungen und Zusammenkünfte in den Räumen ab. Die kirchlichen Gemeinden beider Konfessionen führten ihre Sommerbälle, Kinderfeste, Advents- und Weihnachtsfeiern in den Räumlichkeiten durch. Turn- und Sportvereine wechselten einander im Feiern mit Verbänden, Organisationen sowie Interessengemeinschaften ab. Die kleine polnische Volksgruppe, eine verschwindend kleine Minderheit in Danzig, führte gleichfalls ihre Zusammenkünfte in den Räumen des "CAFE DERRA" durch.

Viele der heute Sechzigjährigen werden in freudiger Erinnerung der Sommerfeste für Kinder gedenken, der Spielwiese mit den verschiedensten Geräten, der Rutschbahn, der hohen Kletterstange, des Reitens auf den geduldigen Eselchen und den kleinen Ponypferdchen, die munter, geduldig und immer guter Laune den kleinen mit Kindern beladenen Wagen im Kreise herumzogen und sich alles gefallen ließen. Die Eselchen und auch die Ponypferdchen mochten scheinbar die übermütigen und lauten Kinder und waren deren beste Freunde. Sie mussten wirklich schon eine beinahe unheimliche Geduld aufbringen. Aber die heute Sechzigjährigen werden sich auch des gestrengen Blickes des Weihnachtsmannes bei den in der Adventszeit alljährlich stattfindenden Vorweihnachtsfeiern mit der anschließenden Kinderbescherung erinnern, als das kleine Herz dort droben auf der großen Bühne beim Aufsagen eines Gedichtes vor all den vielen Augen der Erwachsenen und Kinder beinahe in die Kniekehlen zu rutschen schien. Verspürte damals im Jahre 1925 ein knapp vierjähriger Bub nicht zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie richtige Angst dort auf der großen Bühne? Und war er nicht stolz, dass er das kleine Gedicht, ohne steckenzubleiben, hatte aufsagen können? Doch wie froh war er danach , als er sich in die Arme seines älteren Bruders flüchten konnte , der ihn da hinauf geschickt hatte auf die Bühne, wo .er so allein den Blicken der vielen Augen ausgesetzt gewesen war. Da hatte er mit knapp vier Jahren zum ersten Mal empfunden, was das Wort Einsamkeit bedeutete. Da hatte er zum ersten Mal verspürt, dass man unter Hunderten von Menschen auch sehr einsam und verlassen sein kann.

Im "CAFE DERRA" fanden aber auch große Ausstellungen statt, auf denen Kenner ausgezeichnete Brieftauben , Zuchtkaninchen , Rassehunde, ja selbst reinrassige Perser- und Siamkatzen, aber auch schöne Exemplare europäischer. Hauskatzen bestaunen, begutachten und sogar erwerben konnten. Aber auch Gartenbauausstellungen öffnete das Lokal seine Pforten.

Selbst Box- und Ringkämpfe fanden in seinem Saale statt. Und gegen Ende der zwanziger Jahre wurde gar das Theaterstück "Annchen von Tharau" auf seiner Bühne aufgeführt. So wechselten in einem bunten Reigen Vergnügungen, Kinderfeste , Ausstellungen , Konzerte, Weihnachtsfeiern und Tanzveranstaltungen mit Versammlungen der verschiedensten Parteien und den Interessenverbänden einander ab. Das aber änderte sich alles ganz allmählich zu Beginn der dreißiger Jahre mit dem Erstarken der NSDAP in Danzig. Von nun an nahmen diese Partei und ihre zahlreichen Gliederungen das Lokal immer mehr für sich allein in Anspruch, nachdem im Jahre 1931 der damals erst 29-jährige Albert Forster, der aus Fürth bei Nürnberg stammte, von Adolf Hitler zu dem Zwecke nach Danzig geschickt worden war, die Bewohner dieser alten 700jährigen deutschen Hansestadt an der Weichsel für seine Idee und Ziele zu gewinnen. Seitdem galt jener Tag des Jahres 1931, an dem Albert Forster seine erste Rede in Danzig gehalten hatte, als der eigentliche Gründungstag der NSDAP in Danzig. Alljährlich fand in den Räumen des "CAFE DERRA" der "Tag der alten Kämpfer" statt.

In den dreißiger Jahren, also noch während der Freistaatzeit, war in. Danzig ein Arbeitsdienst gegründet worden, der die Bezeichnung "Danziger Hilfsdienst" trug. Auch diese Organisation feierte alljährlich ihren Gründungstag in Derras Räumen. Gegen Ende der dreißiger Jahre war Derras Zenit längst überschritten, seine großen Glanzzeiten unwiderruflich und für alle Zeiten endgültig vorüber. Es begann der allmähliche Abstieg und danach der rasante Niedergang des beliebten Saal- und Gartenlokals.

Am 1. September 1939, einem Freitag, begann um 4 Uhr und 45 Minuten mit der Beschießung der Westerplatte, eines nach dem Vorbild der französischen Maginotlinie mehrstöckig errichteten Bunkersystems, durch die Polen der Zweite Weltkrieg. Die Leidtragenden waren die Bewohner Danzigs, die damals zu 96 Prozent mit deutscher Muttersprache dort bereits seit sieben Jahrhunderten wohnten, während nur knapp 4 Prozent polnischer Zunge waren. Die letzte Danziger Volkstagswahl vom 7. April des Jahres 1935 hatte es klar und eindeutig zum Ausdruck gebracht, bei der nur 8.294 Stimmen auf die polnische Liste entfielen, was einem Stimmenanteil von 3,5 Prozent für die in Danzig lebenden Polen entsprach.

Bei den nahezu eine Woche andauernden Kämpfen um die Westerplatte wurde der größte Teil der bei den Danziger Hafenvorstädte Neufahrwasser und Weichselmünde von der Zivilbevölkerung geräumt. Und somit können die heute in aller Welt verstreut lebenden heimatvertriebenen Neufahrwasseraner den traurigen "Ruhm" für sich in Anspruch nehmen, die ersten Flüchtlinge bzw. Evakuierten des Zweiten Weltkrieges gewesen zu sein. Sie wurden in die Gegend des unteren Weichseldeltas auf die Dörfer Nickelswalde, Schönbaum, Fürstenwerder, Prinzlaff, Steegen, Stutthof und Bodenwinkel, die alle auf dem östlichen Ufer der Stromweichsel in der Nähe der Ostseeküste lagen, verteilt. Nach etwa zwei Wochen durften sie wieder in ihre Heimat zurückkehren. Aber auch die Zivilbevölkerung der Stadt Zoppot sowie die der westlichen Danziger Vorstädte Oliva, Langfuhr, Emaus, Schidlitz und Zigankenberg sollte im Notfall in die Dörfer des Großen Werders evakuiert werden. Doch glücklicherweise brauchte diese Aktion nicht durchgeführt zu werden.

Eigentlich hätte im April 1939 eine erneute Wahl des Danziger Volkstages stattfinden sollen. Doch dazu kam es nicht mehr. Danzig war im Grunde genommen als Hafen- und Werftstadt eine zwar hanseatisch stolze, aber auch eine ziemlich "rote" Stadt, was auch die Vorstädte Neufahrwasser, Altschottland, . Stadtgebiet, Ohra sowie Schidlitz und Emaus betraf. Das kam bereits an Kleinigkeiten zum Ausdruck, denn für die meisten Danziger waren der Horst-Hoffmann-Wall statt der alten Nordpromenade, der Günther-Schaffer-Wall statt der Südpromenade ebensolche Fremdwörter wie für die Schidlitzer die Bezeichnung Günter-Deskowski-Straße statt des alten Namens Oberstraße.

Das "CAFE DERRA" wurde für die Dauer des Polenfeldzuges 1939 zu einem Auffanglager für Flüchtlinge umfunktioniert. Nach der Beendigung des Polenfeldzuges wurden bis zum Beginn des Feldzuges gegen Russland im Juni 1941, also während einer etwa 1 1/2 Jahre andauernden Zwischenzeit, wieder Tanzveranstaltungen durchgeführt. Zu Beginn der Kämpfe im Osten jedoch, wurden . sämtliche Räumlichkeiten des "CAFE DERRA" von der Deutschen Wehrmacht beschlagnahmt und als Vorratslagerräume benutzt. Das Schicksal des "CAFE DERRA" war somit besiegelt.

Der Krieg kehrte jedoch nach 67 Monaten seiner weltumspannenden "Reise" wieder an seinen Ausgangspunkt zurück. Die Gnadenfrist, die er Danzig im September des Jahres 1939 noch einmal großzügig gewährt hatte, war nun endgültig und unwiderruflich abgelaufen. Er klopfte noch einmal an die Mauern der 700-jährigen alten stolzen Hansestadt und begehrte ihre Unterwerfung unter sein Zepter. Sie bäumte sich unter seinen wütenden Schlägen noch einmal in ihrer ganzen stolzen Schönheit auf, als ihre Schicksalsstunde schlug, sie ein Raub der Bomben, Granaten sowie des Feuersturms wurde, der durch ihre engen mittelalterlichen Gassen stob und Kirchen, Klöster, Türme und Tore, ehrwürdige Patrizierhäuser und alte Schulen zu einem Fanal wahnsinniger menschlicher Zerstörungswut und sinnlosen Hasses werden ließ. Und unter ihren Mauern begrub sie Hunderttausende ihrer Bewohner und Flüchtlinge, die in ihren Mauern Schutz gesucht und auf ein rettendes Schiff gewartet hatten.

In Danzig macht seit den Januartagen des Jahres 1945 ein Gerücht die Runde, das vermuten ließ, dass die Westallierten den Freistaat Danzig wiederherstellen würden, sobald die Soldaten der Deutschen Wehrmacht das Gebiet und die Stadt geräumt haben würden. Vielen Danzigern, die dem Gerücht Glauben schenken, wird es zum Verhängnis, das sie mit ihrem Tod oder aber der Verschleppung durch Russen und Polen bezahlen müssen. Bisher war Danzig als eine der schönsten deutschen Städte noch immer von den anglo-amerikanischen Terrorangriffen verschont geblieben. Auch diese Tatsache bestärkt viele Danziger, in der Heimat auszuharren . und den kommenden Dingen mit Gelassenheit und voller Zuversicht entgegenzusehen. Sie ahnen auch nichts von den Hetztiraden eines Mannes namens Ilja Ehrenburg. Als sie aus ihren Träumen erwachen, ist es bereits zu spät, denn in der Nacht zum 20. März 1945 belegen erstmals anglo-amerikanische Bomberverbände den historischen alten Stadtkern von Danzig mit ihrer todbringenden Last. Ungehindert werfen rund 300 amerikanische Superfestungen ihre Bombenlast über der Innenstadt Danzigs ab, legen sie in Schutt und Asche, bomben Danzig sturmreif für den Einmarsch der Roten Armee. - Etwa 5 Wochen zuvor hatten wohl die gleichen angloamerikanischen Bombergeschwader die historische Innenstadt von Dresden, das man das "Elbflorenz" nannte, in den Tagen und Nächten des 14. und 15. Februar 1945 schon in eine Trümmerwüste verwandelt und somit unersetzliche Kulturwerte europäischer Baukunst völlig sinnlos vernichtet. Mit Danzig war nun das gleiche geschehen.

Der Belagerungsring der Russen zog sich indes immer enger um Danzig zusammen. Am 22. März 1945 erreichten sie die Ostseeküste zwischen Adlershorst und Zoppot. Am 24. März waren Zoppot, Glettkau, Oliva, Goldkrug, Mattern, Nenkau, Schüddelkau, Kowall und Praust in ihrer Hand. Am 25. März gingen Brösen, Brentau und Müggau verloren und am 26. März Ohra, Wonneberg, Pietzkendorf und Emaus. Die Russen hatten den Westteil desSchidlitz-Tales und auch den Danziger Flughafen nordwestlich von Langfuhr erreicht. Von nun an lag Danzigs Innenstadt unter dem Dauerbeschuss der sowjetischen Stalin-Orgeln und Artillerie, deren Batterien sie auf dem Langfuhrer Flughafen aufgestellt hatten. Was die amerikanischen und britischen Bomben noch verschont hatten, das fiel nun den Granaten der russischen Artillerie und den Salven-Geschützen zum Opfer. Am 27. März wird in Neufahrwasser, Langfuhr, Schidlitz, Stadtgebiet, Altschottland, Zigankenberg und Stolzenberg gekämpft. Am gleichen Tage gehen alle diese Vorstädte verloren und die Frontlinie verläuft am Abend des 27. März auf der Ostseite der unteren Weichsel von der Westerplatte über Weichselmünde, quer durch die Holm-Insel zum Olivaer Tor, hart westlich des Hagels- und Bischofsberges, sowie südlich von Petershagen zu den alten Befestigungswällen am Leege Tor und der Steinschleuse und sodann auf dem Ostufer der Mottlau nach Süden. In der folgenden Nacht wird die brennende Innenstadt Danzigs den Russen überlassen und eine Frontlinie am Ostufer der Neuen Mottlau, des Kielgrabens und Kaiserhafens bezogen. Im Laufe des 28. März werden auch östliche Stadtteile Danzigs, so die Niederstadt mit Langgarten, Englischem Damm, Kneipab als auch Klein- und Groß-Walddorf dem Feind überlassen. Am 29. März wird noch Troyl nördlich der Breitenbachbrücke gehalten, geht jedoch am 30. März auch verloren. Während die Front am Morgen des 31. März noch bei Weichselmünde verlief, steht sie nachmittags bereits am Westrand von Heubude und verläuft in der Nacht zum 1. April am Ostrand von Heubude, dem Heidsee, dem Friedhof zur Heubuder Försterei und über den Winkelberg durch den Dünenwald zum Strand der Ostsee. Somit ist ganz Danzig nun in der Hand der Russen. Welchem Schicksal aber gehen die Stadt und die in ihr verbliebenen Menschen nun entgegen? Am Karfreitag, dem 30. März 1945, zieht das Gros der sowjetischen Belagerungstruppen in Danzig ein. Schaurig schallt aus den Lautsprechern einiger Fahrzeuge das Lied des Lützowschen preußischen Freikorps aus den Befreiungskriegen 1813/14 "Das ist Lützows wilde verwegene Jagd", bricht sich an fensterlosen Hauswänden und geborstenen Mauerresten. Die mit Trümmern übersäten Straßen sind menschenleer. Vielerorts liegen die Leichen gefallener deutscher Soldaten, von Zivilpersonen, von Frauen , Kindern, Greisen und die Kadaver von Pferden. Der Brandgeruch verkohlter Balken verbindet sich mit dem süßlich-widerlichen Geruch verbrannter und verwesender Leichen und Tierkadaver zu einem penetranten, Brechreiz erzeugenden Gestank. Die noch in der Stadt verbliebenen Menschen haben sich verängstigt in Keller und Wohnungen der vereinzelt noch halbwegs erhaltenen Häuser verkrochen. Viele aber haben auf Friedhöfen, in Scheunen, Ställen und Häusern der umliegenden Vorstädte und Dörfer Zuflucht gesucht. Der Einzug der Roten Armee in das zerstörte, zum Teil noch brennende Danzig gleicht einer makabren Szene.

Genau 20 Jahre zuvor, am Karfreitag des Jahres 1925, sang der neugegründete große Chor der St.-Marien-Kirche zu Danzig zur Einführung in der größten protestantischen Kirche der Welt am größten Feiertag der evangelischen Christenheit das Lied, "Oh Haupt voll Blut und Wunden". Dieser Gottesdienst mit dem Gesang des Chores der St.-Marien-Kirche wurde damals nicht nur von deutschen Sendern übernommen und ausgestrahlt, sondern auch von vielen europäischen, darunter den britischen und sogar den kanadischen und amerikanischen. Dieses Lied, das der Chor damals sang, mag heute im Nachhinein geradezu wie eine Vision erscheinen, wenn man bedenkt, dass es ein Karfreitag war, als die apokalyptischen Reiter der Roten Armee in Danzig einzogen. Eine ganze Stadt war ans Kreuz geschlagen worden und blutete aus Tausenden Wunden, doch die Leiden ihrer Kinder, denen sie Heimat gewesen war, sollten erst jetzt, nach der Besetzung durch Russen und Polen, richtig beginnen.

Danzig und seine Vorstädte wurden nach der Inbesitznahme tagelang zur Plünderung freigegeben. Eine betrunkene aufgeputschte Soldateska konnte ihren niedrigsten hasserfüllten Rachegelüsten eines Ilja Ehrenburg durch Plünderung, Raub, Vergewaltigung, Erschießungen, Tote schlag, Mord und Brandschatzung freien Lauf lassen. Unschuldige mussten für die Taten Schuldiger büßen. Es waren in der Regel Frauen und Kinder, Alte und Gebrechliche, aber auch kranke und verwundete Soldaten.

Das alte historische Danzig, zu dem die Altstadt, Rechtstadt, Vorstadt, die Speicherinsel, die Niederstadt und Neugarten sowie Petershagen zählen, war zu etwa 40 Prozent durch die anglo-amerikanischen Bomben zerstört worden. Bei einem dieser Angriffe erhielt das mit Flüchtlingen überbelegte Friedrich-Wilhelm-Schützenhaus an der Nordpromenade einen Volltreffer, bei dem es sehr viele Tote und Verwundete gegeben hat unter den Frauen, Kindern und alten Menschen. Auch in Schidlitz wurden in der Karthäuser Straße und der Weinbergstraße zahlreiche Häuser durch Bomben, desgleichen in der Großen Molde durch Granaten getroffen, wobei es zahlreiche Tote und Verwundete gab. Nach der Besetzung wurde die Bevölkerung Danzigs und seiner Vorstädte aus ihren Häusern und Wohnungen hinausgetrieben und musste tagelang im Freien kampieren ohne jedwede Nahrung und ärztliche Versorgung. So trieben die Russen die Langfuhrer Bevölkerung in die Wälder zwischen Oliva und Langfuhr sowie in den Jäschkentaler Wald, die Schidlitzer nach Wonneberg und Karthaus. Langfuhr und Schidlitz hatten durch die Bombardierungen und den Artilleriebeschuss verhältnismäßig wenig gelitten. Als die Langfuhrer nach Tagen in ihre Häuser zurückkehren wollten, waren alle Häuser der Hauptstraße der systematischen Brandschatzung der Russen zum Opfer gefallen, sodass sie von ihren Häusern nur noch rauchende Trümmerstätten und ausgebrannte Mauerreste vorfanden. Aber auch zahlreiche Nebenstraßen waren dem systematisch gelegten Brand zum Opfer gefallen. Das gleiche geschah auch in Schidlitz, Danzigs ärmster Arbeitervorstadt. Als die Schidlitzer nach Tagen wieder in ihr Heimat-Tal zurückkehrten, trauten sie ihren Augen nicht. Zwischen Neugarten und der Emauser St.-Franziskus-Kirche fanden sie nur noch eine zwei Kilometer lange öde Trümmerwüste sowie die ausgebrannten Mauern der massiveren Häuser vor.

Das Neubauviertel zwischen der Gorch-Fock-Straße und dem Falkhof sowie dem Nonnenacker war ausgebrannt. Die älteren Fachwerkhäuser zwischen dem Falkhof und Breitgang in der Karthäuser Straße , Weinbergstraße und Oberstraße, im Brunnengang und in der Neuen Sorge bis hin zum Krummen Ellenbogen waren nur noch qualmende Trümmerhaufen. Von den massiven Häusern des Rektor- und Kirchenweges, der Unterstraße, der Schellingsfelder Straße und des westlichen Teiles der Karthäuser Straße standen nur noch die Außenmauern. Die alte Schidlitzer Volksschule, die neue Mädchenschule, die Turnhalle, die Schidlitzer Heilandskirche und die St.-Franziskus-Kirche in Emaus waren der Brandstiftung zum Opfer gefallen. Aber auch in der westlichen Oberstraße, der Mittelstraße, dem Rothahnchengang sowie dem Schlapker Gang klafften erhebliche Brandlücken. Die Häuser im Schidlitz-Tal waren zu 80 Prozent dem von den Russen gelegten Brand zum Opfer gefallen. Die noch in der Heimat verbliebenen Schidlitzer standen buchstäblich vor dem Nichts. Auch das Auguste-ViktoriaStift, ein Altersheim in Neugarten, war total ausgebrannt. Das Gerichtsgebäude in Neugarten war zu einem Kriegslazarett geworden. Das gleiche war mit der Chirurgischen Privatklinik des Dr. Winne, Karthäuser Straße 2/4, geschehen. Um Platz für ihre eigenen Verwundeten zu schaffen , erschossen die Rotarmisten ganz einfach die deutschen verwundeten Soldaten und warfen die Leichen anschließend zu den Fenstern hinaus. Andere verwundete deutsche Soldaten traf ein nicht minder grausames Schicksal. Man lud sie in Güterwaggons und ließ sie auf Bahnhöfen ohne Verpflegung und ohne ärztliche Versorgung und jedwede Betreuung stehen. Sie wurden einem noch unmenschlicheren Tode ausgesetzt.

Das "CAFE DERRA" aber hatte den Feuersturm der Bomben und Granaten sowie der gelegten Brände, die in jenen Tagen im Schidlitz-Tal wüteten , überdauert. Nach der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht richtete die Rote Armee in seinen Räumen ein großes Beutelager ein. Uberall standen Möbel, Nähmaschinen und Standuhren, stapelten sich Teppiche und Bilder. Danziger Frauen aber mussten diese aus den Wohnungen vor dem gelegten Brand geraubten Gegenstände für den Abtransport nach Sowjetrussland verpacken.

Nach den Russen kamen die Polen, die die deutschen Danziger aus den noch einigermaßen intakten Häusern und Wohnungen verdrängten und sich deren Eigentum aneigneten, indem sie den Deutschen klarmachten, dass nun ihnen allein alles gehören würde. Die Polen zwangen die Deutschen zu Aufräumungsarbeiten und zur Bestattung der Leichen und Tierkadaver in Panzergräbern, verlassenen Laufgräben und Massengräbern, ohne sich um deren Gesundheitszustand oder Verpflegung zu kümmern. Zu Tausenden wurden Männer und Frauen nach Graudenz und ins Innere Polens verschleppt. Sie taten das gleiche, was zuvor schon die sowjetischen Soldaten getan hatten, die Männer und Frauen von ihren Kindern getrennt und nach Russland in verschlossenen Güterwaggons transportiert hatten, auf eine Reise, von der es für die allermeisten keine Rückkehr mehr gab. Aber auch aus den polnischen Gefängnissen und Lagern gab es für die meisten verschleppten deutschen Männer und Frauen keine Wiederkehr.

Die Lage der noch in Danzig verbliebenen Deutschen wurde von Tag zu Tag unter den Polen unerträglicher. Die Polen taten alles, um die Deutschen zum Verlassen ihrer Heimat zu bewegen. Um sich aber vor der Geschichte und der Weltöffentlichkeit zu rechtfertigen, mussten die ausreisewilligen Deutschen in den Räumen des noch damals stehenden Gebäudes der "Lebensversicherungsanstalt Weltpreußen" ein vorgedrucktes, in polnischer Sprache verfasstes Formular unterschreiben, dass sie freiwillig aus eigenem Entschluss und ohne polnischen Zwang ihre Danziger Heimat verlassen würden.

Erwähnenswert ist, dass die Briten den in ihrer Besatzungszone untergetauchten ehemaligen Gauleiter der NSDAP, Albert Forster, an die Polen auslieferten und die Eröffnungsverhandlung gegen ihn in den Räumen des "CAFE DERRA" stattfand. [Anmerkung des Admins: Nach polnischen Unterlagen fand die Eröffnungsverhandlung dort statt, sondern der gesamte Prozess in der Langfuhrer Sporthalle, dem späteren Danziger Staatstheater]. Durch sein Verhalten in den dreißiger Jahren hatte er wohl einen großen Teil der Schuld auf sich geladen, die zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und zum Untergang der 700-jährigen deutschen Hansestadt Danzig führten. Er ist von den Polen zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden, die er in der Strafvollzugsanstalt Neugarten absitzen musste [Anmerkung des Admins: Nach Verurteilung saß Forster bis Mitte Juni 1951 in Schießstange. Sein weiterer Aufenthaltsort bis zur Hinrichtung am 28.02.1952 in Warschau ist unbekannt).

Das schöne Schidlitzer Saal- und Gartenlokal "DERRA", der Traum der Danziger und Schidlitzer Buben und Mädchen in den zwanziger und dem Beginn der dreißiger Jahre, wurde von den heute in Danzig lebenden Polen in ein Sporthotel mit dem Namen "Grunwald" verwandelt. Der große Tanzsaal wurde von ihnen zu einer Sporthalle und der große gemütliche Kaffeegarten zu Tennisplätzen umgestaltet.

In den Jahren 1949/50 ergab eine Zählung, dass von den rund 400.000 deutschen Danzigern des Freistaatgebietes, wie es zwischen den Jahren 1920 bis 1939 bestanden hatte, nur 274.000 Menschen den Krieg und die anschließende Gefangenschaft als Soldat, die Kämpfe, Bombardierungen, den Beschuss, die Besetzung und die Verschleppung als Zivilperson überlebt hatten. Jeder dritte Danziger lebte somit nicht mehr. Damit aber hatte Danzig den höchsten Blutzoll aller deutschen Städte zahlen müssen.

Heute leben die Danziger in vielen Ländern, verstreut über den ganzen Erdball. Die Frage ist, wie lange wohl noch die Nachfahren der aus der Heimat vertriebenen Danziger sich der Heimat und der Herkunft ihrer Vorfahren erinnern und zu ihr halten werden , wenn einmal die Erlebnisgeneration ausgestorben sein wird. Die Geschichte des Schidlitzer Saal- und Gartenrestaurants "CAFE DERRA" aber ist sehr eng mit der Geschichte verbunden. Sie spiegelt somit auch einen Teil der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts wider, das mit so vielen Irrtümern belastet ist.

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Krystyna
04.01.2014, 20:16
Vielen Dank fur dieses Thema.Die erinerung nach den schonen zeiten ,ja es war ein mal.In Cafe Derra habe ich mit meiner Cousine die in der Weinbergstr.6 wohnte und dem Onkel ,viel mal Eis gegessen. Ich war 6 und sie 8 Jahre alt im Jahr 1943.Meine Eltern sind Danzig treu geblieben,wir gingen nicht raus aus Danzig.1962 zog ich nach Szczecin (Stettin).Danzig wird immer mein Danzig bleiben,auch wenn Pfefferstadt wo unser Haus ein
trummerhaufen war,heute ganz anders aussieht.Das was damals war geht nicht so schnell aus dem Kopf.
Viele liebe Grusse an alle die dieses Thema lesen werden aus Stettin-Krystyna.

sarpei
25.07.2015, 21:01
... für einen optischen Eindruck empfehle ich den Danziger Hauskalender von 1991; darin befinden sich zwei Aufnahmen vom Café Derra.


Viele Grüße

Peter

Gerhard Jeske
25.07.2015, 22:18
Gerhard Jeske
Es wird bedenkenlos immer das Wort" Brandstiftung" verwendet, ohne Beweise zu liefern. Kein Gericht würde das als Grundlage für ein Urteil verwenden.

StampCollector
25.07.2015, 22:55
Nun, das ist nun einmal Fakt, daß die Rote Armee 1945 auch marodiert hat.
Das waren mit Sicherheit nicht alle Einheiten. Speziell die Kampfeinheiten waren an solchen Verbrechen weniger beteiligt.
Man darf auch nicht vergessen, daß das auch die Rache war, für das, was im deutschen Namen in Osteuropa verbrochen wurde (Generalplan Ost, Partisanenbekämpfung, Hitlers Nerobefehl etc. etc.).
Junge Leute mit einem eingeschränkten Bewusstsein und auch durch die damalige sowjetische Propaganda aufgeputscht (siehe Ilja Ehrenburg z.B.) haben hier wirklich Böses angerichtet.
Offiziere, die sich über diese Barbarei beschwerten riskierten ihre eigene Verfolgung durch den NKWD.

SC

Ulrich 31
25.07.2015, 23:18
Hallo Gerhard,

Du beziehst Dich hier wohl auf den achtletzten Absatz in dem von Wolfgang in #1 wiedergegebenen Bericht aus "Unser Danzig" aus dem Jahr 1986, der mit den Worten "Das Neubauviertel zwischen der Gorch-Fock-Straße und dem Falkhof ..." beginnt (habe ich erst nach Stichworteingabe ins Suchfeld gefunden).

Auch ich habe Zweifel an den betr. Angaben des Autors Walter Rohloff; denn ich habe mir die von ihm genannten Schidlitzer Gebäude in den letzten Jahren und auch schon davor sehr genau angesehen und kann mir nach diesen Beobachtungen kaum vorstellen, dass es diesen Gebäuden so wesentlich anders vor und unmittelbar nach Kriegsende ergangen ist als dem damals relativ gut erhalten gebliebenen Café Derra.

Beste klärende Auskunft zu diesen Behauptungen und Zweifeln könnte unser Forum-Mitglied Harri Döring geben, der sich aber leider sehr rar im Forum macht. Harri ist Schidlitzer, hat in der Oberstraße gewohnt und erlebte Schidlitz als etwa 16-Jähriger zwangsweise noch einige Zeit nach Kriegsende unter schwierigsten Bedingungen. Harri weiß mit Sicherheit noch genau, wie es damals in der nach Rohloff angeblich brandgeschätzten Karthäuser Straße tatsächlich aussah.

Viele Grüße
Ulrich

Ulrich 31
04.08.2015, 21:16
Hallo in die Café-Derra- und Schidlitz-Runde in diesem Unterforum,

in der letzten Woche traf ich Harri (Forum-Benutzername: Harri Döring; siehe dazu #6) während seines jetzigen Besuches in Berlin und konnte mit ihm u.a. den Punkt „Brandstiftung in der Karthäuser Straße nach der Einnahme von Schidlitz durch sowjetische Truppen“ klärend besprechen.

Nach diesem Gespräch stelle ich zunächst allgemein fest:

Zum Autor des betr. Berichtes, Walter Rohloff, sind im Web keine Angaben zu finden, die ihn von seiner Vita her mit Danzig in Verbindung bringen. Es ist daher zu vermuten, dass dieser Autor die von ihm berichteten kriegsbedingten Ereignisse in Schidlitz nicht selbst erlebt hat. Die Informationen zum Café Derra leitet er, wie er selbst schreibt, von Aufzeichnungen und Notizen ab, die er von der Witwe des letzten Inhabers jenes Schidlitzer Restaurants erhielt. – Auf jeden Fall würde ich nähere Informationen aus dem Forum über diesen Autor dankbar begrüßen: Wer war Walter Rohloff?

Dieser Vorbehalt verstärkt die kritische Sicht auf den betr. Bericht, der ein unstrukturiertes Gemenge verschiedenster Informationen unterschiedlicher Zeitzuordnung darstellt, wodurch das im Titel zum Hauptthema gemachte Café Derra sachfremd überdeckt und fast zum Randthema wird (siehe dazu auch die einleitenden Worte von Wolfgang in #1). Schon das zeugt von keinem guten Journalismus.

Leider kommt aber hinzu, dass jener Bericht von Walter Rohloff (nachfolgend: W.R.), wie auch schon Wolfgang erwähnt hat, inhaltlich nicht fehlerfrei ist und deshalb sein Wahrheitsgehalt generell skeptisch gesehen werden muss. – Auf diese 3 Fehler weise ich beispielhaft hin:

1. Im Absatz, der mit dem Satz „Selbst Box- und Ringkämpfe fanden in seinem Saale statt.“ beginnt, schreibt W.R., dass „im Jahre 1931 der damals erst 29-jährige Albert Forster“ von Adolf Hitler nach Danzig geschickt worden war und seitdem „jener Tag des Jahres 1931“ (an ihm hielt Forster seine erste Rede im Café Derra) als Gründungstag der NSDAP in Danzig galt. – Diese Datumsangabe ist falsch! Forsters Erstbesuch in Danzig mit seiner ersten Rede dort im Café Derra (schon damals Versammlungsort der Nationalsozialisten, auch „Kampflokal“ genannt) am selben Tag fand tatsächlich statt am 24. Oktober 1930 (Quelle: Dieter Schenk, Hitlers Mann in Danzig, 2000, S. 33). Albert Forster, geb. 26.07.1902, war damals 28 Jahre alt. Er wurde bereits am 15. Oktober 1930 zum Gauleiter des Gaues Danzig bestimmt und schon am 14. Juli 1933 verlieh die Freie Stadt Danzig (sic!) Albert Forster die Ehrenbürgerwürde!!! (Quelle: Wikipedia-Seiten „Albert Forster“ und „Liste der Ehrenbürger von Danzig“.)

2. W.R. schreibt zum Zustand bestimmter Teile von Schidlitz nach der Einnahme durch die sowjetischen Truppen Ende März 1945 wie folgt (Zitat aus dem Beitrag #1 von Wolfgang): „Als die Schidlitzer nach Tagen wieder in ihr Heimat-Tal zurückkehrten, trauten sie ihren Augen nicht. Zwischen Neugarten und der Emauser St.-Franziskus-Kirche fanden sie nur noch eine zwei Kilometer lange öde Trümmerwüste sowie die ausgebrannten Mauern der massiveren Häuser vor.
Das Neubauviertel zwischen der Gorch-Fock-Straße und dem Falkhof sowie dem Nonnenacker war ausgebrannt. Die älteren Fachwerkhäuser zwischen dem Falkhof und Breitgang in der Karthäuser Straße , Weinbergstraße und Oberstraße, im Brunnengang und in der Neuen Sorge bis hin zum Krummen Ellenbogen waren nur noch qualmende Trümmerhaufen. Von den massiven Häusern des Rektor- und Kirchenweges, der Unterstraße, der Schellingsfelder Straße und des westlichen Teiles der Karthäuser Straße standen nur noch die Außenmauern. Die alte Schidlitzer Volksschule, die neue Mädchenschule, die Turnhalle, die Schidlitzer Heilandskirche und die St.-Franziskus-Kirche in Emaus waren der Brandstiftung zum Opfer gefallen. Aber auch in der westlichen Oberstraße, der Mittelstraße, dem Rothahnchengang sowie dem Schlapker Gang klafften erhebliche Brandlücken. Die Häuser im Schidlitz-Tal waren zu 80 Prozent dem von den Russen gelegten Brand zum Opfer gefallen. Die noch in der Heimat verbliebenen Schidlitzer standen buchstäblich vor dem Nichts.“

Hier irrt W.R. gewaltig, und es ist zu fragen, woher er diese falschen Informationen hat.

Wie ich in #6 dieses Threads schon mitteilte, hat Harri (korrekt: als damals 15-Jähriger) die von W.R. o.a. Zeit selbst erlebt. Nach Harris Information hat die von W.R. geschilderte Brandschatzung großen Ausmaßes in den genannten Teilen von Schidlitz nicht stattgefunden. Dadurch werden meine eigenen Beobachtungen jener Ortsteile seit Anfang der 1970er Jahre bestätigt: Insbesondere die von W.R. genannten Häuser in der Karthäuser Straße waren und sind in einem Zustand, der keinerlei Hinweise auf eine vorausgegangene Brandschatzung liefert. Diese Feststellung wird nicht nur durch den von W.R. gegebenen Hinweis gestärkt, dass z.B. das Café Derra damals ohne Brandschaden blieb, sondern besonders auch durch meine Beobachtung, dass sogar die beiden mir noch aus Kindertagen bekannten Holzhäuser am Anfang der Karthäuser Straße nach Neugarten (es sind auch heute noch die Nrn. 7 und 11) ohne jeden Brandschaden blieben.

3. Befremdet stelle ich außerdem fest, dass W.R. an mindestens zwei Stellen seines betr. Berichtes Schidlitz als ärmste Arbeitervorstadt von Danzig bezeichnet (siehe z.B. seine Angabe unmittelbar vor dem o.a. Zitat in Punkt 2: „Das gleiche geschah auch in Schidlitz, Danzigs ärmster Arbeitervorstadt.“).

Auch diese Behauptung von W.R. ist falsch! Diese Kritik teile ich gleichfalls mit Harri. Wir sind beide der Meinung, dass hier W.R. unqualifiziert bewertet hat. Wer Schidlitz wie wir aus der von uns dort erlebten Zeit kennt, der wundert sich zumindest, wie W.R. zu dieser Behauptung kommt. Schon ein Blick in die Berufsangaben zu den Einwohnern von Schidlitz in den jeweiligen Danziger Einwohnerbüchern hätte W.R. eines Besseren belehrt (hat er aber wohl nicht gemacht). War Schidlitz schon zuvor keine „Arbeitervorstadt“, so putzte sich Schidlitz besonders seit Ende der 1920er Jahre im Zuge einer damals groß angelegten Bautätigkeit zusätzlich heraus. Dazu zählte z.B. auch der neue Wohnkomplex zwischen Karthäuser Straße, Schladahler Weg, Oberstraße und Schottenweg, in den meine Eltern 1930 einzogen, und wo ich geboren wurde und Kindheit und frühe Jugend erlebte. –

Im Übrigen widerspricht sich W.R. in seinem Bericht zu diesem Punkt selbst, indem er an anderer Stelle Schidlitz sogar als bevorzugte Adresse von Bessergestellten erwähnt. Hierzu dieses Zitat: „Aber auch noch vor dem damaligen Neugarter Tor zwischen den Ausläufern des Stolzenberges und des Zigankenberges, von dem der alte Weinberg in der Schidlitz ja ein Teil war, entstanden in der Gegend des späteren Schidlitzer Ortsteils Schladahl (dem seinerzeitigen Schlathal) zwischen der Oberstraße und den beiden Mulden (später mit den Namen Große und Kleine Molde versehen) eine Anzahl neuer prächtiger Gartenanlagen mit Sommerhäusern, Wandelgängen, Pavillons und Grotten beiderseits einer von Linden gesäumten breiten Avenue, die sich mit der Langgarter durchaus messen konnte. - So sah einmal zu früherer Zeit die Gegend am östlichen unteren Ende unserer uns nur zu gut bekannten, nüchtern wirkenden Karthäuser Straße, der Schidlitzer Hauptstraße, aus. Und diese östlichste Gegend des langgestreckten Schidlitz-Tales erhielt daher auch damals die Bezeichnung "Zweiter Neugarten". - Das liebliche .und im Sommer sehr warme, im Winter gegen die rauhen Nord- und Nordostwinde durch den Zigankenberg geschützte Schidlitzer Tal war für die damaligen Danziger Patrizierfamilien so etwas ähnliches wie deren "Riviera", denn infolge des milden, oft sogar sehr warmen Klimas gediehen sogar Weinreben und wuchsen Walnussbäume in ihm. Und deshalb hatten sehr viele reiche Danziger Patrizierfamilien ihre Sommerhäuser und Gärten in jenem lieblichen Tal.“

Die vorerwähnten Beispiele mögen zeigen, wie vorsichtig man mit Berichten der genannten Art umgehen sollte.

Viele Grüße
Ulrich