PDA

Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Unter die Haut ...



MueGlo
29.06.2014, 18:23
Moin,

der Tag beginnt friedlich im Februar. Die Sonne scheint, es sind 28 Grad, die Vögel zwitschern, der ewige Frühling in Kigali.

Die Mails trudeln ein, eines von Gerhard Sinus. Wir versorgen uns in unregelmäßigem Abstand mit Fundstellen.

„ebay-Angebot Müller, Klein Zünder
Hallo Rainer,
das könnte Dich interessieren.“

Ich folge dem Link zu ebay. Ein Führerschein, ausgestellt 1934 in Königsberg auf den Namen Rudolf Walter Müller, geboren am 12. Febr. 1911 in Klein Zünder, Danziger Niederung.

Ein kurzer Moment und ich falle vom Hocker: Rudolf Walter Müller ist der jüngste Sohn von Bruno Müller, Besitzer des Müllerschen Hofes in Klein Zünder --- siehe
http://www.momente-im-werder.net/01_Offen/30_Klein_Zuender/Klein_Zuender_01.htm

Ein Vetter meines Alten Herrn, ein Onkel 2. Grades.
Ich hatte seinen Geburtseintrag im KB von Groß Zünder gefunden; sowie den Heiratseintrag seiner Schwester von 1939, wo der Pfarrer vermerkte, dass der Bruder der Braut Pfarrer in Königsberg sei. Die Tante bestätigte, dass er Theologie studiert habe. Er sei 1942 gefallen. Gefallen? Ich finde beim Volksbund – Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.: Walter Müller … Todes- / Vermisstenort: B. Konduja. Konduja liegt etwa 90 km südöstlich von Sankt Petersburg. Bei der Suche nach dem Ort stieß ich auf eine Site über die 96. Infanterie Division, die im Winter 1942 in Konduja kämpfte. Dort wird u.a. ein Leutnant Müller mehrmals erwähnt. Da es aber bekanntlich Müllers wie Sand am Meer gibt, wird nicht klar, ob es sich um Walter Rudolf Müller aus Klein Zünder handelt. Eine Anfrage beim Webseitenbetreiber brachte kein Ergebnis. Und: Wieso fällt ein Pfarrer, vermutlich ein Militärpfarrer? – Außerdem weiß ich aufgrund der Todesanzeige von Bruno Müller in „Unser Danzig“ von 1959, dass seine Witwe in Flensburg lebte … aber nach einer Müllerin zu suchen ist einfach ein undankbares Geschäft ….

Und nun sitze ich vor seinem Führerschein. Mich gruselt’s …

Gerhard zwei Tage später: „Da ist noch mehr!“ Ein Fahrzeugschein, eine Reihe von Bildern und Dokumenten.

Allmählich wird deutlicher, wo das alles herkommt. Der Anbieter führt offensichtlich Wohnungsauflösungen in Flensburg durch. Mithin muss die Witwe verstorben sein, entweder in ihrer Wohnung oder in einem Heim. Aber da gab es doch noch eine Tochter … rätselhaft.

Gerhard erklärt sich freundlicherweise bereit, zu versuchen, die Papiere zu ersteigern – der ewige Dank der Familie ist ihm gewiss. Ich muss nur Maximalbeträge angeben … bislang krebsen die Gebote bei ca. 1 €, aber die Versteigerung läuft noch eine Woche. Das Ende der Versteigerung bekomme ich gar nicht mit --- die Internetverbindung ist zu langsam. Aber dann kommt die erlösende Nachricht von Gerhard: Alles ersteigert, für rund 80 €. Wer bietet da warum für einen Führerschein eines Fremden ca. 20 €, für persönliche Briefe und ein paar Familienphotos mehr als 40 €??? Oder haben da ein paar Kumpels des Anbieters nachgeholfen? Egal.

Gerhard schickt die Unterlagen an meine deutsche Adresse, wo sie Vetter Siggi photographiert und mit den Photos nach Kigali kommt. Wir kommen aus dem Staunen nicht heraus: Beileidsbriefe zum Tod von Rudolf Walter Müller, gefallen am 31.03.1942, von militärischen Vorgesetzten und Kameraden einschließlich Beschreibung der Umstände, die zu seinem Tod führten; Rentenbescheide für die Witwe und Tochter vom Juli 1942 über 216 RM – kann man davon leben zur damaligen Zeit; und neben weiteren Dokumenten der handgeschmierte Entwurf eines Lebenslaufes von ca. 1937/38. Siggi und ich haben ja schon einiges erfolgreich gemeinsam entziffert, aber hier kommen wir immer wieder an unsere Grenzen. Die Bruchstücke fügen sich aber trotzdem allmählich zu einem Bild:

Geboren 1911 als jüngster Sohn, Besuch einer Privatschule in Klein Zünder, dann Städtisches Realgymnasium am Winterplatz zu Danzig, Abitur 1929. 1926 Beitritt zum Jungdeutschen Orden, bei dem mehrere Familienmitglieder engagiert sind. Theologiestudium in Tübingen --- vermutlich der erste Studierende aus einer jahrhundertealten Nachbar- und Hofbesitzerfamilie, was durchaus als sozialer Aufstieg angesehen werden kann. Mitgliedschaft in der Burschenschaft Derendingia (DB); Teilnahme an einem Reichs???lager für Kameradschaftsgrundführer in Rittmarshausen bei Göttingen sowie an einem „Wissenschaftslager ??? Leitung Prof. ???“ – was ist das? 1934 1. theologisches Examen, danach Berufung in den ostpreußischen Kirchendienst, Assistent an einem Lehrheim für Theologiestudenten. Dann heißt es: „Als dann der Trumal der „westlichen Christen“ auch in der ostpreußischen Kirche einge??? war, wurde ich in schneller Folge in westlichen Gemeinden der Provinz ??? und ????? eingesetzt (???, Tilsit, Stahm???, Schakuhnen im Kreis Sin???)“ --- Was ist dieser „Trumal“? Oder verlesen wir uns? Wie ist die Story?

1936 Heirat und 2. theologisches Examen und Ernennung zum Pfarrer.

„Nach Einführung der Wehrpflicht meldete ich mich freiwillig u. wurde vom 5.III. bis 30.IV. 37 zu einem Unterführeranwärter-Lehrgang bei der 17. E.M.G. Kp / 3 R 22 Gumbinnen zugeteilt. Ich wurde als Gefreiter der Reserve entlassen.“ --- Vielleicht können die Militärexperten erklären, für was die Abkürzungen stehen.

Soweit, so gut: Ein Theologe und Pfarrer mit Hang zum Militärischen. Doch dann kommt’s, und es läuft uns kalt den Rücken hinunter: „Im Laufe meiner Studentenzeit habe ich … bis ich schließlich 1933 in die Schutzstaffel eintrat. Zu meinem Schmerz musste ich auf Befehl des Reichsführers der SS mit allen ??? im Frühjahr 35 aus der SS austreten.“

Mein Gott! Was bewegt den Sohn eines wohlhabenden Hofbesitzers als 22-jähriger Theologiestudent in die SS einzutreten? Zum gleichen Zeitpunkt ist der Vater Bruno Müller Mitglied der Partei „Deutsche Volksgemeinschaft“ / DVG, eine Konkurrenzpartei zur NSDAP, und sitzt für diese im Danziger Volkstag.

Und was steckt hinter dem Rauswurf aus der SS 1935? Wurden gezielt Pfarrer aus der SS entfernt oder steckt etwas anderes dahinter?

Da hatten wir gedacht, dass die Großfamilie in Danzig und der Niederung weitestgehend von der NSDAP etc. verschont geblieben sei --- nur ein Onkel ist als Adolf-Fan bekannt --- und dann kommt solch eine unter die Haut gehende Geschichte hoch …

Beste Grüße, Rainer MueGlo

Ute Marianne
29.06.2014, 18:46
Hallo Rainer,

DAs ist ja unglaublich. So ein Zufall und dann noch die eigene Verwandschaft bei Ebay zu finden.
JA man wundert sich was so alles er und versteigert wird.

Liebe Grüße Ute Marianne

christian65201
29.06.2014, 20:05
Hallo Rainer,
ist es möglich, daß Dein Verwandter auch noch einen Karabiener aus der Waffenschmiede Danzig besaß??? Ein solcher wird in Flensburg in einem Waffengeschäft für 229€ angeboten.
Grüße
Christian

Beate
29.06.2014, 20:07
Guten Abend. Rainer,

da laufen einem ja Schauer über den Rücken, wenn man sowas liest (Familiengeschichte). Muss schon mal das eine oder andere Kapilel in den Familiengeschichten bissl umgeschrieben werden, wenn man forscht, nicht wahr?
Sag, könnte der "Trumal" auch ein "Taumel" sein, und bezieht sich das eventuell auf viele Wechsel in den Kirchen? Vielleicht fand dergleichen damals besonders im Westen statt und setzte sich später im Osten fort... Bin aber in Kirchengeschichte bzw. kirchlicher Entwicklung nicht bewandert.

Schöne Grüße Beate

christian65201
29.06.2014, 21:01
Hier der angesprochene Karabiener
18385
Grüße
Christian

truscho
29.06.2014, 21:45
Hallo Rainer,


--- und dann kommt solch eine unter die Haut gehende Geschichte hoch …
Ja, wirklich, gute Geschichte und so viele Informationen. Ich suche jetzt auch mal bei Ebay....

Grüße aus dem Schwabenland

Gertrud