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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Stockturm- Phantasie



Christkind
23.10.2015, 16:24
von Walther Domanski

Mitternacht ist nicht mehr fern.Am Himmel jagen die Wolken dahin
und schütten von Zeit zu Zeit ganze Schneeladungen aus, die vom Winde
wirbelnd umhergetrieben werden.Dann kommt wieder für eine Weile
der Mond hervor, und man sieht das tiefblaue Firmament.Ich komme zu so später Stunde noch des Weges daher und stehe am Stockturm still und lausche.Die Wetterfahnen kreischen.Oder ist es das Winseln und Heulen der armen Sünder, die einst in der Folterkammer gefoltert
wurden ?
Horch,nun wird es 12 Uhr vom Rathausturme schlagen. Zuerst
erklingt der Choral, klagend und mahnend, dann 12 dumpfe
Schläge.Die Straßen sind merkwürdigerweise ringsum menschenleer.Ich stehe noch immer wie im wachen Traum.
Da, was ist das? Die schwere Holztür des Stockturms wird
geöffnet wie von Geisterhänden.Ich trete in die dunkle Vorhalle und
drücke mich in eine dunkle Ecke.Was werden meine Augen zu sehen
bekommen?
Da quillt es hervor hinter den vergitterten Fenstern und
eisenbeschlagenenTüren, aus der Peinkammer und von der
hölzernen Galerie her, aus dem " Kain" und dem " Otterloch", oder wie
die Verbrecherzellen alle hießen.Ein langer, langer Zug.Voran eine
unheimliche Gestalt, in ein dunkles Gewand gehüllt, den Kopf dicht
in der Kapuze verhüllt.Und hinter ihr her, oh, ich vermag es kaum zu
erzählen.Welch ein trauriger Zug!Da kommt zuerst Gerd Birnbaum, ein
Bootsknecht, aus Sachsen gebürtig.Den hat man Anno 1360 gefänglich
eingezogen,weil er viele schändliche Mordtaten begangen. Und zwar aus reiner Mordlust.Denn er bekannte,"ihn hätte nur gelüstet anzusehen, wie die Menschen nach dem Tode würden gestaltet sein,die bei lebendigem Leibe so munter,hurtig und schön von Angesicht gewesen".Man brachte ihn aufs Rad, wo er 3 Tage gelegen,ehe er starb.Und gar unbußfertig war sein Sinn, denn es reute ihn, daß er " denen, so die Zähne mit dem Messer gestackert, nicht das Messer in den Hals gestoßen".Ohnmaßen unheimlich scheint er dem Auge, so daß man ihm nicht ins Angesicht schauen mag.
Hinter ihm ein sauberes Pärchen.Ein Jüngling von reichen Eltern,
der sein Erbteil mit einem losen Weibsbild,so man den "Güldenen Esel"
nannte, durchgebracht, und sich alsdann aufs Stehlen gelegt hat.Zudem hat er noch seinen Taufpathen,den Guardian vom Grauen Kloster, der ihn vom Galgen losgebeten,umgebracht.Die beiden,der Jüngling und der " Güldene Esel", kichern leise miteinander, da sie im Zuge mitwandern.
Und nicht weit von ihnen drängt sich der Hans Briger, ein
Fleischhauer aus Schlesien, durch den Haufen der Missetäter.Ein
gräulicher Mordbrenner, der auf alle Mahnungen zur Buße
stockstill geblieben.Den haben sie Anno 1494 mit glühenden Zangen
gerissen,ihm alle Knochen zerstoßen und ihn aufs Rad geflochten.Gar
wüst schaut der schwarzbärtige Geselle aus.
Ach, und da ein unschuldig zart Mägdelein mit goldrotem Haar! Man
hat sie als Hexe gefänglich eingezogen und grausam gefoltert. Wie
ihr die gemarterten Arme schlaff von dem zerbrochenen Leibe
hängen.Nur mühsam schleppt sie sich einher.Da schreitet jenes alte
Weib trotz seiner 88 Jahre noch viel rüstiger aus.Auch sie eine
Hexe.Sie hat den Nachbarn durch Bezauberungen Vieh verlahmet,den
Leuten Gespenster zugebannet und was der gleichen Teufelswerk mehr
gewesen. Den Herren Predigern, die sie vermahnten, begegnete sie
gleichfalls mit Gottes Wort, bis sie endlich ihre Sündengräuel
bekannte.Darauf hat man sie Anno 1659 auf dem Holzmarkt lebendig
verbrannt. Vom Henker wurden ihr ein paar Säcklein Pulver zum Herzen gelegt,daß sie also ihrer Qual desto eher abkommen möge.
Siehe, nun 2 rechte Galgenvögel.Der eine von ihnen hat Anno 1559
einem Gehenkten vom Galgen die Hosen gestohlen und ward dieses
Diebstahls wegen gleichfalls gehenket.Also daß dieselben Hosen mit
ihm zum zweiten Mal an den Galgen kamen.Und der andere war Anno 1573, obwohl man ihn als Dieb eingebracht hatte, wegen seines trefflichen Mundwerkes, womit er sich verteidigte, nur zum Pranger verurteilt, allwo der Henker ihn mit Ruten gestrichen hat.Gab darauf dem Henker die Hand und dankte ihm. Stieg alsdann mit geschwinder Behändigkeit vom Pranger hinunter und stieß die Leiter hinweg.Also daß der Henker, da niemand die Leiter ansetzen wollte, ihn noch bitten
mußte,er möchte es - aber nur gegen ein Biergeld, Meister Hans!-tun,
worauf der Henker und seine Gesellen hinabsteigen konnten.Jene beiden sind allhier guter Dinge und erzählen sich mitten in dem schaurigen Zug allerlei Schnurren.
Und da kommen noch ein paar traurige Gestalten.Auf dem Kopfe tragen sie eine seltsamen Ausputz, wie ein Stiergehörn,aus Eisen
gestaltet,und an den durch eine Kette verbundenen Füßen rollt eine
schwere eiserne Kugel hinter ihnen her.Das sind die
"Karrengefangenen", schwere Verbrecher, wie man sie noch in der
ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts im Stockturm sehen konnte.
Oh, wieviel Unheil wandert da an mir vorüber, während ich noch
immer in der dunklen Ecke stehe und warte.Ist der Zug noch immer
nicht zu Ende? Halt, nun ist es so weit.Ich höre Türen zuklappen.
Wenn ich hier eingeschlossen würde!
Hastig dränge ich mich hinter den Letzten zur Tür hinaus. Nun
sind alle im Freien.Draußen ist wieder ein lustiges Schneetreiben.Die Flocken wirbeln einem ins Gesicht, während ich dem Zuge in einigem Abstand folge.Wie humpeln und stolpern sie in ihren blutgetränkten Lumpen dahin durch die Schneewehen.
Um die Ecke geht es dann den Karrenwall entlang.Da breitet sich am
Ende das unbebaute Feld aus, das der Weiße Turm bewacht.Doch da-da kommt noch vom Wolfshagen( Fleischergasse) her eine neue Gestalt angestürmt.
Den erkenne ich,das ist Simon Matern, der gefürchtete
Räuberhauptmann. Der hat Anno 1516, da man ihm zur Abfassung einer Urgicht oder letzten Bekenntnisses noch Zeit vergönnte, im
Ankerschmiedeturm selber durch den Strick seinem Leben ein Ende
gemacht. Und nun will er im Zuge nicht fehlen.
Und seltsam,die dunkle Gestalt an der Spitze des Zuges,die ich
längst aus den Augen verlor,wedet sich zurück,und holt aus ihrem
Gewande eine Geige hervor.Nun beginnt sie zu spielen, und -oh
Schauder! Die Kapuze fällt bei dem Spielen in den Nacken, und der
Mond, der gerade wieder einmal hervorkommt, beleuchtet ein grausiges Haupt. Es ist--der Knochenmann!
Aber während des wilden Spiels ist die Tanzlust in den Zug
gefahren.Simon Matern, der wilde Geselle, will sich das Hexlein mit
dem rotgoldenen Haar zum Tanz haschen.Aber die Alte mit den 88 Jahren drängt sich vor, und er dreht sich mit ihr lustig im Kreise.Neben
ihm schwenkt der reiche Jüngling den " güldenen Esel", der aus
vollem Halse kreischt.Das ist ein Schreien und Stampfen mitten im
Schnee, wie man es nimmer gesehen.
Auf einmal schweigt die Fiedel.Der Knochenmann nimmt wieder die
Spitze des Zuges ein, und lautlos huschen sie hinter ihm her, die
Unseligen, und verschwinden im Schneetreiben.
Ich sehe nur die vielen, vielen Fußstapfen im Schneeund starre wie
gebannt ihnen nach.
Da-neigt sich mein Kopfgegen die Tischplatte, ich erwache und reibe
mir noch ganz verstört die Augen.
Das kommt davon, wenn man zu Nacht in alten Chroniken gelesen hat.
Walther Domanski

waldkind
23.10.2015, 17:36
Gute Geschichte, Christa. So so, die Hexen hatte man also auf dem Holzmarkt verbrannt? LG wk.

Gerhard Jeske
23.10.2015, 19:15
Waldkind #2
Für diese Veröffentlichung danke ich Ihnen. Die Sprache und Wort Erfindungen erhebt die Geschichte zusätzlich in die Literatur. Gerhard Jeske

waldkind
24.10.2015, 15:51
Lieber Herr Jeske,
Sie meinen in Beitrag 3 sicher das Christkind nicht mich.
Schließe mich dem an, ganz meine Meinung. waldkind.

StampCollector
24.10.2015, 20:02
Nun, ob Marcel Reich-Ranicki diesen Beitrag als "Große Literatur" im Sinne der Germanistik bezeichnet hätte, sei dahingestellt.
Ich glaube es eher nicht.

Trotzdem sehe ich da in diesem Artikel einige wichtige Hinweise zur Danziger Kriminalgeschichte:

Gerd Birnbaum scheint wohl nach heutigem Verständnis ein Serienmörder (Serial Killer) gewesen zu sein. Die Opferzahl von 700 (!) ist wohlmöglich mittelalterlich übertrieben...

SC

Christkind
24.10.2015, 20:33
Allerdings steht es auch so im Curicke, SC.
Das dritte Buch,XXXVIII. Kapitel.
Sicher hatte Herr Domanski darin gelesen.
Schöne Grüße, Christa

StampCollector
24.10.2015, 20:45
Hallo Christa,

klar, daß das so gewesen sein kann.
Diese Zahl von 700 Opfern ist allerdings schon sehr hoch und unheimlich.

In der antiken und mittelalterlichen Geschichtsschreibung wurde gerne etwas übertrieben um ein Geschehnis noch unheimlicher zu machen.

Eventuell kam Gerd Birnbaum auch aufgrund seines Berufes viel herum, so daß er auch viele Gelegenheiten zum Morden hatte.
In Danzig ist man ihm aber dann "auf die Schliche" gekommen...

SC

waldkind
24.10.2015, 21:12
Hallo SC,
mag sein, dass Reichs-Raniki kein Auge, kein Ohr dran verloren hätte. Darauf kommt es wohl nicht an. Domanski hat versucht die alten Geschichten neu zugängig zu machen, das finde ich gut. und da er sich selber als Träumer darstellt, erhebt er nicht einmal Anspruch auf Wahrhaftigkeit.

Hallo Christkind,
einiges habe auch ich gleich aus dem Curicke erkannt. LG wk.

StampCollector
24.10.2015, 21:21
Jedenfalls ist da wohl ein "Körnchen" Wahrheit enthalten.

Offensichtlich gab es bereits um 1360 Serienmörder.

Interessant wäre ja eine möglichst zeitnahe Quelle für diesen Sachverhalt.

SC

Christkind
24.10.2015, 23:01
Gleichermaßen grausig war auch Hanß Brigers, der seinen Vater mit seinen Händen ermordete,weil der schon zu lange lebte, auch andere des Geldes wegen.1494 wurde er"mit glühenden Zangen gerissen, danach auf ein Raht geleget und mit dem Halse an einen Galgen, so über dem Rade stund,angehangen."

Schöne Grüße, Christa

StampCollector
25.10.2015, 15:40
Wie gesagt, die Opferzahl von 700 ist sehr hoch und Reinhold Curicke wurde 1610 geboren, also 250 Jahre nach diesem Kriminalfall.

Er wird auch seine Quellen gehabt haben, aber waren das die originalen Prozessakten?

Falls die unwahrscheinlicherweise noch heute existieren, dann wüsste man vielleicht mehr.

SC