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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : [Tiegenort / Tujsk] Erinnerungen an Tiegenort



Wolfgang
26.02.2017, 15:10
Aus dem Danzig-Westpreußischen Kirchenbrief, Ausgabe Nr. 8 vom Januar-März 1950
Copyright-Vermerk: Herausgegeben von der Gemeinschaft Evangelischer aus Danzig-Westpreußen, (Hilfskomitee) e.V. Lübeck

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Erinnerung an Tiegenort (Kirchenkreis Danziger Nehrung)

Tiegenort war ein schmuckes, weit über die Grenzen des Gr. Werders hinaus bekanntes Dorf, das durch den Krieg schwer gelitten hat und kaum wiederzuerkennen ist. Es liegt hart an der Chaussee, die von Tiegenhof nach Steegen zur Ostsee führt. Jedem Fremden fiel die schöne, altehrwürdige Kirche mit dem gepflegten und geschmückten Friedhofe am Eingang des Dorfes auf. Die Häuser lagen zu beiden Seiten der Straße am Tiegefluß. Die Bewohner waren durch ihre Sangeslust und Sangesfreudigkeit und ihren Frohsinn weit und breit bekannt. Der Männergesangverein, der von dem Kantor Marx gegründet und viele Jahre geleitet wurde, bis er dann in seinem Schüler Hermann Henning einen Nachfolger fand, war durch seine hervorragenden Leistungen bekannt. Die Sangesbrüder hielten treu zusammen, so daß der Verein unter meiner Leitung während der Kriegszeit sein 50-jähriges Bestehen feiern konnte. Der böse Krieg mit seinen schrecklichen Folgen hat auch hierin viel geändert, denn viele Sangesbrüder ruhen in kühler Erde, und die übrigen sind in alle Winde zerstreut, die nur zu gern in die liebe, teure Heimat zurückkehren möchten, um dort noch einmal singen zu können: "Heimat, Heimat, ewig liebe, ach, wie einzig schön bist du." Dieses schöne Heimatlied würde dann noch viel inniger und ausdrucksvoller gesungen werden, als es in früheren, glücklichen Zeiten der Fall war. Schon mehrere Wochen vor dem Zusammenbruch wurde von unseren abziehenden Truppen der Turm der altehrwürdigen Kirche gesprengt. Sie ist über 200 Jahre alt und gehört zu den ältesten und schönsten Kirchen des Werders und lag mitten in der Kampfzone. Bei der Sprengung wurden der Turm, eine Glocke, die Orgel, das Kirchendach mit fast allen Dachziegeln, die hölzerne Kirchendecke zum größten Teile zerstört. Als ich meine liebe Heimatkirche zum ersten Male nach der Zerstörung besuchte, bildete mein Herz, und ich konnte meine Tränen nur schwer unterdrücken. Meine wehmütigen Erinnerungen gingen zurück in die Vergangenheit, weil ich in dem lieben Gotteshause getauft und konfirmiert wurde und schon als Kind im Schülerchor zur Verschönerung des Gottesdienstes beigetragen hatte. Die Kirche sah schon vor dem Zusammenbruch sehr demoliert aus. Der große Teppich vor dem Altar, der wertvolle Läufer vom Eingang bis zum Altar waren gestohlen, ebenso das von Herrn Johann Will aus Tiegenort gestiftete Kirchenschiff, die hölzerne Kirchendecke, der lange Chor mit den altertümlichen biblischen Bildern waren abgebrochen, ebenso die große Vorhalle und die Sakristei. Die Bretter waren zu einem Laufsteg verarbeitet, der von Tiegenort bis zum Weichseldamm reichte, und zu einem zweiten Laufsteg von der Molkerei bis zum Johannes Klassenschen Grundstück an dem Feldweg nach Brunau zu. Die Ländereien und die Chaussee bis zum Weichseldamm waren nämlich zum größten Teile überschwemmt, stellenweise 1 bis 2 m und noch höher. Um die Feinde aufzuhalten, war der Weichseldamm bei Rotebude durchstochen, und die niedrig gelegenen Felder und Wege standen bis 3 m hoch unter Wasser. Beim ersten Ansteigen des Wassers war auch der Friedhof überschwemmt, das sich aber bald verlief, so daß die Gräber völlig unbeschädigt und trocken dalagen. Die zweite Glocke wurde von den Polen nach Tiegenhof geholt und auf den Turm der katholischen Kirche gebracht. Das Harmonium, die Abendmahlsgeräte, sämtliches Inventar waren auch bald geraubt oder zerstört. Die großen Ölbilder der Geistlichen Leu, Rübsamen und Kosack waren erhalten geblieben und schmückten die Kirchenwand am Eingang zur Sakristei. Regen und Schnee fielen in das Innere der Kirche und vollendeten das Zerstörungswerk. Viele alteingesessene Bürger von Tiegenort, die zum Teil treue Kirchenbesucher waren, starben vor oder kurz nach dem Zusammenbruch, nämlich Robert und Ewald Krüger, Frau Kretschmann, Frau Rittker, Frau Engbrecht, Frau Johanna Cornelsen, Fräulein Henriette Cornelsen, Gustav Tornier und Frau, Frau Klempnauer und ihr Sohn Erich, Heinrich und Robert Cornelsen, Ferdinand Witting, Heinrich Fröse, Frau Malvine Foth. Sie konnten den Verlust und die Zerstörung der Heimat nicht überwinden und gingen seelisch zugrunde. Der Friedhof neben der Kirche sah nach einem Jahre furchtbar aus, denn Brennesseln, Diesteln und anderes Unkraut wuchsen meterhoch, daß jedem das Herz bluten mußte, der die Ruhestätten der Toten in solchem jämmerlichen Zustande sehen mußte, die früher immer schön sauber gepflegt waren. Die Bänke im Gotteshause waren zum Teil abgebrochen und als Brennholz verbrannt. Pfarr- und Organistenhaus waren äußerlich gut erhalten, das Innere geraubt, durch wühlt und verschmutzt, ebenso die meisten Kirchenbücher zerrissen oder verbrannt. Auf dem Friedhofe wurden die Ziegen geweidet. Alle Flüchtlinge möchten so gern in ihre Heimat zurückkehren, um alles aufzubauen, den Friedhof zu säubern, die Kirche aufbauen zu helfen, denn es werden viele Jahre vergehen, ehe das Gotteshaus wiederhergestellt ist, was nur Deutsche fertigbringen werden. Das schöne Dorf Tiegenort ist auch nicht wiederzuerkennen, wenn auch die meisten Häuser, darunter auch die Schule, erhalten geblieben sind. Die hohen Bäume zu beiden Seiten der Straße sind abgeholzt, die Zäune um die Häuser und Gärten umgebrochen, Fenster und Türen fast alle gestohlen und fortgeschafft worden. Wenn die rein deutsche Bevölkerung einmal in ihre Heimat zurückkehren sollte, wird es kaum ein Haus geben, das sofort bewohnbar ist. Die beiden Kornmühlen sind abgebrannt, andere Häuser vom Sturm oder vom Wasser umgeworfen. Die Sangesbrüder des Tiegenorter Männergesangvereins haben in früheren Jahren so oft unter meiner Leitung gesungen:

Denk ich dein, du liebes Dörfchen, schau ich auf ein lieblich Bild,
grüne Täler, bunte Gärtchen, alles rings in Duft gehüllt.
Du mein Dörfchen, in der Ferne grüß ich dich viel tausendmal.

denken wohl heute alle noch lebenden Tiegenorter in Liebe an ihr fernes Heimatdorf

Hermann Henning, Oberlehrer i. R.
Zirndorf b. Nürnberg, Nibelungenstr 18