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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Mierau-Beiträge in den Neuteich-Briefen von 1995 und 1996



sarpei
02.03.2019, 17:17
Hallo miteinander,

die Neuteich-Briefe wurden vom Heimatbund der Neuteicher meiner Kenntnis nach von Dezember 1989 bis Dezember 2008 herausgegeben. Der Heimatbund ist nicht mehr existent und der leitende Redakteur der Heimat-Briefe verstorben. Das Wissen über die ehemalige Heimat ist zwischenzeitlich - bis auf wenige Ausnahmen - mit den Zeitzeugen verstorben. Ein wenig davon lässt sich aber in den Beiträgen in den jährlich erschienenen Veröffentlichungen wiederfinden.

Um das 'Papierwissen' einiger weniger Eingeweihter (wer außerhalb des Heimatbundes hat die Briefe wohl erhalten?) einem interessierten Kreis zur Verfügung zu stellen, nahm ich Kontakt mit dem ehemaligen Vorstandsmitglied Herrn Adolf Schütz auf. Er hat aus seiner Sicht keine Vorbehalte, Auszüge aus den Neuteich-Briefen mit Quellenangabe zu verwenden. Sollten Autoren oder deren Nachkommen dies anders sehen, bitte ich um Kontaktaufnahme mit mir.

Mein persönlicher Dank gilt nicht nur allen ehemaligen Autoren und Herrn Schütz, sondern auch Delia Güssfeld, die den Kontakt mit Frau Steinborn hergestellt hat. Frau Steinborn hat mir einen kompletten Satz der Neuteich-Briefe überlassen. Und natürlich geht auch ein 'Dankeschön' an Beate und Wolfgang aus dem Forum.

Soweit der 'allgemeine Vorspann'.


Beiträge zu Mierau finden sich in den Neuteich-Briefen vom Dezember 1995 und Dezember 1996:

- Nach 50 Jahren wieder ins Heimatdorf Mierau (Wally Ludwig), 1995
- Spontane Erinnerungen an ihre Heimat: Mierau (Frieda Langmaack), 1995
- Erinnerungen an Mierau bei Neuteich (Hans Joachim Stahnke), 1996
- Erinnerungen an Mierau (Wally Ludwig), 1996
- Erinnerungen an unser Dorf Mierau (Frieda Marschatz), 1996


Viele Grüße

Peter

sarpei
03.03.2019, 07:28
Nach 50 Jahren wieder ins Heimatdorf MIERAU
von Wally Ludwig aus dem Schwentenfeld, 1995

Mierau bei Neuteich. So lautete in den 20-iger und 30-iger Jahren die postalische Anschrift unseres kleinen idyllisch gelegenen Dörfchens MIERAU.

Woher kam der Name Mierau? Lasst mir meine kleine Aue oder Au zufrieden, denn jeder zog an einem Zipfel Land und wollte es kaufen. Bei uns im Schwentenfeld der Arndt aus Tiege, einige Bauern aus Bröske usw. Eigentlich hielten aber alle Bewohner recht gut zusammen. Mein Mann und ich waren im August 1994 und 1995 nach 50 Jahren Abwesenheit wieder in meinem Dörfchen. Ich möchte jetzt meine Erinnerungen von früher als Kind niederschreiben und meine Eindrücke nach 50 Jahren Abwesenheit wiedergeben. Es hat sich vieles verändert und manches ist kaum wiederzuerkennen. Zur nachfolgenden Schilderung gehört ein Messtischblatt, in dem Mierauer Gehöfte und markante Punkte von mir mit Nummern versehen sind; die entsprechenden Nummern finden sich im Text wieder.

23851

Von Neuteich fuhren wir Richtung Norden und verpassten rechter Hand die Abfahrt nach Mierau, weil es keinen Sommerweg mit Kopfsteinpflaster mehr gab. Nach Mierau führt jetzt eine breitere Asphaltstraße. Links liegt der ehemalige Hof von Jerrosch (1) auf einer kleinen Anhöhe, die Mühle ist abgebrannt, der Hof wird noch bewirtschaftet. Mit Karacho kam uns ein Trecker vom Hof in die Quere. Die Gebäude verstecken sich hinter größerem Buschwerk und sehen nicht sehr einladend aus.

Ein Stück weiter rechts an der Straße die total zerfallene Instkate von Andres (2), der von der Straße etwas abgelegene Hof der Familie Andres (3) sieht von weitem auch sehr baufällig aus. Das damals von drei Familien bewohnte Haus vom Gut Driedger (4) rechts an der Straße ist in einem sehr guten Zustand und wird sogar gerade ausgebaut. War die Straße bisher nur von niedrigen Bäumen und Gebüsch umsäumt, so stehen ab hier hohe und recht alte Lindenbäume bis ans Ende des Dorfes. Zwischen der Straße und den Grundstücken befindet sich auf beiden Seiten meistens ein kleiner Graben, dann kommt die Grundstückseinzäunung - entweder Mauer oder Drahtzaun, fast immer ein großer Vorgarten oder Hof und dann beginnen die Gebäude.
Links in der alten Kirchhofskate (5) vom alten Karnath wohnte Frau Worrach mit ihren Kindern. Nr. (6) ist unser Friedhof (wir sagten Kirchhof), umzäunt mit Maschendraht jüngeren Datums, das hohe Kraut aus dem Jahre 1994 war jetzt abgemäht und türmte sich links im Hintergrund. In der Mitte des Friedhofes war von einigen Grabstellen noch die Steinumfassung sichtbar, links davon lag der Grabstein von Wiens, links an der Seite standen zwei eiserne Grabkreuze, in einem fehlt die Inschrift, im anderen stand der Name Jerrosch. Alle anderen Grabsteine lagen mit der Inschrift "auf der Nase". Hinter dem Friedhof führt die Straße links um die Ecke nach Norden. Auf der rechten Seite zweigen zwei Stichstraßen (Feldwege) in die Feldmark ab. Gegenüber dem Friedhof der Hof von Driedgers (7). Er ist bewohnt. Es stand eine Dreschmaschine vor der Scheune und es wurde gedroschen. An den Stallungen vorbei führte der Weg in die Feldmark zum Bauern Bergtholt (8). Der Hof gehörte früher dem Bauern Reimer, der immer zu Pferde mit Pantoffeln ritt und deshalb den Spitznamen "Schlorren-Reimer" erhielt. Über den jetzigen Zustand des Hofes kann ich keine Angaben machen. Rechts in der Kurve stand das neuerbaute Haus von Julhkes (9); es steht noch heute, aber die lange Baracke, in der Familie Gelewski und Borkowskis wohnten, fehlt. Am Friedhof stand der Hof von Abraham Regehr (10). Leider ist auch der Hof nicht mehr da.

Der Teich, auf dem wir Kinder im Winter oft Schlittschuhen liefen, ist bis auf einen kleinen Rest zugeschüttet. Gegenüber waren die Häuser (11) von Pölk, Harwarth, sowie die Kate von Krügers, in der Pleschings wohnten. Diese Häuser stehen noch. Der Hof von Krügers (12) ist noch bewirtschaftet und war 1994 noch zur Straße durch eine hohe Mauer mit Tor abgegrenzt. In der Mauer war schon fast kein Mörtel mehr vorhanden, aber die Steine waren noch recht gut erhalten. Wo die Mauer 1995 geblieben ist, weiß ich nicht. Gegenüber dem Krügerschen Hof steht noch das alte Rentierhaus (13) in einem großen Vorgarten, das in der guten alten Zeit viele Mieter beherbergte. Jetzt steht es vor dem Zerfall. Ein paar Zimmer sind noch bewohnbar. Die einzige Deutsche - Ella Gelewski mit einem Polen verheiratet - hält alles so gut es geht instand. An dieses Grundstück schließt sich das kleine Haus von Schuster Kirsch (14) an. Fenster sind zugemauert, es träumt von besseren Zeiten. Danach kommt das Haus von Wienßens Mitarbeitern (15), hier wohnten Kock, Schmidt usw. Es steht noch. Der gegenüberliegende Hof von Jakob Wiens (16) steht auch noch. Das Haus von Scharpings (17), genannt "Pinkerton" habe ich nicht gesehen.

So ziemlich in der Dorfmitte kommt jetzt links unsere "heißgeliebte" Schule (18). Unser Lehrer hieß damals Stahnke. Seine "Gattin" unterrichtete uns in Handarbeit. Später kam der Junglehrer "Theo Wendler" in die Schule. Er löste den Herrn Stahnke ab. Als Handarbeitslehrerin hatten wir Frl. Grabowski aus Neuteich. Sie war das Beste, was wir je dort hatten, außer natürlich Theo Wendler. Wir Schüler gingen für die beiden durchs Feuer! Es gab keinen Rohrstock mehr, es gab keine Prügel. Es gab nur eifriges Lernen und viel Freude. Frl. Grabowski strickte oder häkelte mit uns Mädchen Pullover, einfach toll.
Die Schule wird heute zur Hälfte als Laden genutzt, die andere Hälfte - ich weiß es nicht. Etwas entfernt steht neben der Schule das damalige kleine Feuerwehrhaus (19). Es muss damals eine Feuerspritze gegeben haben, die wahrscheinlich gezogen wurde. Ich kann mich nicht mehr erinnern, der Feuerwehrhauptmann war der Schuster Kirsch, an Feuer im Dorf kann ich mich auch nicht entsinnen. Hinter dem Haus sind drei neue Häuser gebaut worden, die an den Dorfteich = Feuerlöschteich grenzen. Das neue Haus von Gutowski (20), damals mit dem Kolonialwarengeschäft, steht auch noch. Das Haus von Schröter auf der rechten Straßenseite (21), in dem der Stellmacher Öhlert und der Melker Grabowski wohnten, ist abgebrannt. Bei Öhlerts war ich wie ein eigenes Kind im" Hause. Lotte und ich waren sehr gute Freundinnen. Wenn es im Sommer heiß war, rief Frau Öhlert: "Lottchen, bring die Wally mit zum Mittagessen aus der Schule. Es gibt ein Gewitter, sie schafft die vier Kilometer nicht so schnell durch das Schwentenfeld bis nach Hause! In der großen, guten Stube spielten wir dann den ganzen Nachmittag mit den Puppen.

Die alte Schmiede (22) vom Schmied Gutowski steht nur noch zur Hälfte. Dort war in den 30-iger Jahren der Geselle Heinrich Barwich tätig. Wir Mädchen haben ihn immer ausgelacht und er warf uns dann Pferdeäpfel hinterher. Aus Rache haben wir ihm beim Zaunsetzen die von ihm gegrabenen Löcher für die Pfosten immer wieder zugeschüttet. Das große Haustor ist zugemauert. Links liegt die lange Kate vom Schröter (23). Die Käserei (24) steht nicht mehr. (25) ist ein Haus, das zu Wiebes Hof gehörte, im Haus (26) wohnten Franz Jansen und Waselowskis. Vespers Imkerei (27) und die Brotniederlage von Paulwitz, das Grundstück ist leer. Heute verkauft uns dort keiner mehr für 5 Pf. zwei Fladen (Schnecken). Links daneben steht auch noch heute das Haus (28) in dem Familie Wilm wohnte. Das Grundstück mit dem Hof von Wiebes (29) sieht unbewohnt aus.

Jetzt kommt auf der rechten Straßenseite der Hof von Japchen und Lenchen Reimer (30). Die Läden vom Wohnhaus sind geschlossen. Es sieht aus, als träume das alte liebe Haus traurig vor sich hin. Jacob und Lenchen waren zwei so hilfsbereite Menschen. Sie sind auf dem Hof umgekommen. Früher, wenn wir aus der Schule kamen, stand Lenchen am Tor und schenkte uns Kindern Äpfel, Obst oder wenn es heiß war, selbstgemachte Brause aus Wasser, Zucker und Natron! Wir Kinder freuten uns sehr, denn wir hatten einen weiten Schulweg.
Hieran schließt sich das Gut von Schröters (31) an. Ich konnte nichts mehr finden, es scheint dem Erdboden gleichgemacht zu sein. Es stehen nicht einmal mehr die damals schon wunderschönen Eichen. Um dieses Gut führte mein Schulweg vom Schwentenfeld ins Dorf. Ich habe den Schröter in schlechtester Erinnerung, denn er hat unseren Hund Karo - ein Mischling zwischen Bernhardiner und ??? -, der mir das Leben rettete, als ich mit 1 1/2 Jahren in die Schwente gefallen war, wegen angeblicher Wilderei auf seinem Gut erschossen und den toten Hund dann auf meinen Weg nach Hause gelegt. Zu seinen Arbeitern und Saisonarbeitern soll er auch nicht freundlich gewesen. Er hat das Kriegsende nicht überlebt.

Am Ende des Dorfes nach Tiege zu hört die Asphaltstraße beim Hof des Herrn Harder (32) auf. Er trug den Beinamen "Dribbel-Harder" wegen seiner trippeligen Gangart. Die Familie war sehr arbeitsam und zu allen Menschen gut und freundlich. Heute steht der Hof noch in vollster Blüte. Es herrschte Leben und Treiben auf dem Hof, es wurde gerade Korn gedroschen und die Leute winkten uns fröhlich zu. Ab hier geht es nur noch mit "Pferd und Wagen" oder mit dem Trecker weiter, fast wie früher unser Sommerweg mit Kuhlen, Rinnen und Löchern. Auch mein Schulweg nach Hause sieht nicht sehr einladend aus. Über den "Storchenschnabel" und den "Weidenwall" gelangte ich früher durch das Schwentenfeld, vorbei an Kopfweiden, Wiesen und Äckern zu unserer Wassermühle (Entwässerungsmühle) an der Schwente und dem Hof (33), von dem heute nichts mehr steht.

Auf der Schwente wurde früher mit Kähnen getreidelt. Die Ernte (Zuckerrüben) wurden nach Neuteich gezogen oder es ging durch die Brückstelle weiter nach Norden nach Tiegenhof. Heute ist die Schwente mit einer dicken Schicht Algen und Entenflott bedeckt, von Kähnen keine Spur, nur die Enten und Wasservögel haben einen Wasserweg hinterlassen.
Im Schwentenfeld liegen an der Schwente auf der Seite nach Mierau der Hof von Koeslings (34), der Hof von Funk (35) ehemals "Klops-Regehr" ist auch nicht mehr vorhanden. Der Bauer hieß Regehr und sein Bauch hatte die Form eines Klopses.

Soweit unsere Eindrücke von meinem Dörfchen Mierau und meine Erinnerungen.

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Quelle: Neuteich-Brief Dezember 1995 vom Heimatbund der Neuteicher, Seiten 29-33 - Fotos weggelassen

sarpei
03.03.2019, 08:37
Spontane Erinnerungen an ihre Heimat: Mierau
erinnert in einem Telefongespräch von Frau Frieda Langmaack, geb. Bleschick aus Mierau

Frau Langmaack wurde am 24.10.1924 geboren, sie ist also auf den Klassenbildern von Mierau drauf. .....

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Mierau hatte ungefähr 210 Einwohner.

1 Schmied (Gutowski)
1 Stellmacher (Ehlert)
1 Bäcker (Filiale) Vesper (wurde beliefert von Bäckerei Dzaack aus Neuteich)
1 Bürgermeister (Herr Wiens, Bauer)
1 Meierei-Genossenschaft
2 Schneiderinen (Frau Pohl, Frau Dück (?))
1 Schule mit zwei Lehrern u.a. Herr Wendler (Sohn Wolfgang in Großhansdorf)
11 Bauernhöfe
1 Mühle (Jerosch) (2 Söhne).

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Hiermit endet (vorläufig) ein erster Bericht über das Nachbardorf von Neuteich: Mierau.

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Quelle: Neuteich-Brief Dezember 1995 vom Heimatbund der Neuteicher, Seite 40

[Ich beabsichtige, die o.g. Klassenbilder von Mierau später in diesem Thread einzustellen]

sarpei
08.03.2019, 11:01
Erinnerungen an Mierau bei Neuteich
von Hans-Joachim Stahnke

Ein Memoirenschreiber erfährt sehr schnell, dass mit seinem Vorhaben einige Problematik verbunden ist: soll er die Gefühle, die ihn damals bewegten, in sich wieder herauslocken, oder soll er lieber seinen heute überlegenen Standpunkt vertreten? Soll er vielleicht sogar auf jede persönliche Ansicht verzichten und den Wunsch des Publikums nach Objektivität erfüllen? Wie weit darf er in der Nachzeichnung intimer Einzelheiten gehen? Ohne Frage würde dadurch das Gesamtbild bunter, aber die Gefahr, noch lebende Personen oder Angehörige zu verletzen, würde größer.

Ich hatte meine Erinnerungen ursprünglich nur für meine Familie bestimmt. Es ist also auch allzu Persönliches darin enthalten. Auch Schrulliges, wie es manchen Menschen so anhaftet, konnte ich mir zu schildern nicht verkneifen. Durch Zufall geriet der Text in Hamburg an ehemalige Mierauer und fand Zustimmung. "Es stimmt alles!" lautete ein Kommentar. Nun, dass in solcher Art Beschreibungen alles 'stimmt', ist wohl auch das Wenigste, was man verlangen kann. Aber ist auch die Atmosphäre getroffen, das 'Ambiente', wie es so schön heißt? Das zu beurteilen muss ich meinen Lesern überlassen.

Ich habe meine Kindheits-Memoiren, von denen dem Heimatbund der Neuteicher ein knappes Viertel als Auszug vorliegt, nicht nach Sachgebieten gegliedert, sondern bin einfach meinen Assoziationen gefolgt: ein Einfall ergab den nächsten. Ich danke Herrn Dirschauer, dass er diesen Erzählstil akzeptiert und das für seine Zwecke Brauchbare herausgepickt hat. Der Zusammenhang konnte aber nicht immer zufriedenstellend gewahrt werden, weil einige Intimitäten, die ihn im Urtext herstellen, herausfallen mussten.

[Beschreibung von drei Bildern, die ich hier weggelassen habe]

Bad Segeberg, am 18.7.1996

[Unterschrift]

sarpei
08.03.2019, 14:24
Bei meiner Verabschiedung als Lehrer wurde ich an eine Formulierung aus meinem Lebenslauf erinnert, den ich als Student in Kiel abgefasst hatte: Aufgewachsen in einem kleinen Dorf inmitten eines Flachlandes, dem Mündungsgebiet der Weichsel, dessen Begrenzungen, am Horizont sichtbar, als atmosphärisch blau gefärbte Höhenzüge auch als Begrenzungen der eigenen Lebenswelt gelten konnten. Dem Kind jedenfalls erschienen sie so: die Danziger Höhe im Westen, die Elbinger Höhe im Osten, dazwischen die schwere, fruchtbare Schwemmlanderde der Werderlandschaft, durchzogen von ‚Mühlengräben‘, die zu eigenständigen kleinen Flüssen, besser Flüsschen, hin entwässerten, der Mottlau im Danziger Werder links der Stromweichsel, der Schwente/Tiege und Linau im Großen Werder zwischen Weichsel und Nogat, und zum Drausensee im Marienburger Werder rechts der Nogat. Letzteres aber gehörte politisch zu Ostpreußen, und somit zum ‚Reich‘, während die erstgenannten Werder den landwirtschaftlich bedeutsamen Teil des Freistaats Danzig darstellten, eines Gebildes, das gegen den Willen der Bevölkerung geschaffen worden war, womit man gemeint hatte, deren erklärtem Willen, deutsch zu sein, entgegenzukommen und Polen, das den uneingeschränkten Besitz Danzigs und seines Umlandes anstrebte, zu beschwichtigen.

Dieser politische Kompromiss hat das Leben der Werderaner mitgeprägt, und schon als Kind bin ich mit Begriffen, die aus der geographischen und politischen Zwischenstellung entstanden, bekannt geworden: Grenze, Kontrolle, Pass, Zoll, Schmuggeln, mit dem ‚Reich‘ als Hort der Solidität und Marienburg als Einkaufsparadies. Niemals wäre es einem Werderaner eingefallen, etwa in dem polnischen Dirschau einzukaufen, das von Neuteich genauso weit entfernt war wie Marienburg, trotz des einfacheren Grenzübertritts wegen der Zollunion Danzig-Polen. Der Grund lag nicht nur in der Abneigung gegenüber dem polnischen Staat und der Mentalität seiner Menschen, sondern auch in dem quantitativ wie qualitativ minderen Warenangebot. Polen hatte nach seiner Neugründung wirtschaftlich schwer zu kämpfen und konnte mit dem übrigen Europa nicht konkurrieren. Nichtsdestotrotz war der Nationalstolz der Polen nicht zu überbieten. Er wurde von den Danzigem teils verlacht, teils gefürchtet, wenn man nähmlich bei Grenzkontrollen in die Hände ausführender Organe geriet, die stets martialisch mit schwerer Pistole und hängendem Dienstmützenkinnriemen auftraten: „Prosze pasporte!“ Zu einem deutschen Wort ließen sie sich nicht herab. Der Groll, Danzig nicht zugesprochen bekommen zu haben, war im Benehmen dieser Grenzpolizisten spürbar. So habe ich sie als Kind viele Male erlebt, wenn wir mit dem Zug nach Danzig fuhren. Die Eisenbahnstrecke führte über Dirschau (Tczew), wo sich die Beamten in die Abteile stürzten und Personenkontrollen vornahmen, obwohl der Zug hinter Dirschau gleich wieder Freistaatgebiet erreichte. Dann erst atmete alles wieder auf, war es doch vorgekommen, dass Fahrgäste aus den Abteilen herausgeholt worden waren. Ich habe es selbst miterlebt, dass eine allein reisende alte Frau mitsamt dem Gepäck mitgehen musste. Der Zug fuhr ohne sie weiter. Meine Eltern versicherten mir zwar immer, Kindern könne nichts passieren, sie brauchten auch keinen Pass vorzuzeigen. Trotzdem bemächtigte sich meiner immer Aufregung und Angst, wenn wir Berührung mit polnischen Beamten hatten.

Die Marienburger Grenze war nicht in diesem Sinne gefährlich, dafür sorgten hier aber die Zollbestimmungen für Spannung: die meisten Waren unterlagen ihnen, weil die Einfuhrverbote für das vereinigte Zollgebiet streng waren. Südfrüchte, Tabakwaren, Bekleidung waren Konterbande. Die Beamten waren Freistaatler, sie drückten meist ein Auge zu, aber wissen konnte man das vorher nicht. Und wenn ein Oberaufseher, meist ein Pole, kontrollierte, dann gab es Leibesvisitationen. Um dabei nicht hereinzufallen, wurde folgende Strategie entwickelt: Man zog zu Hause die ältesten Sachen an, kleidete sich in Marienburg neu ein und ließ sie entweder im Bekleidungsgeschäft oder, was sicherer war, zog sich im Café in der Toilette um unter Zurücklassung des alten Zeugs. Oft soll auch die Kanalisation in Marienburg verstopft gewesen sein, wenn nämlich überängstliche Leute ihre alten Textilien aus Furcht vor Anzeige im Klobecken herunterspülten.

Mitten im Großen Werder also liegt Mierau, ein Kolonistendorf, gegründet im 14. Jahrhundert vom Deutschen Ritterorden, als die Bodenverhältnisse es gerade erst erlaubten, dass sich Menschen hier ansiedeln konnten. Denn Weichsel und Nogat als Mündungsarme und dazwischen die Schwente hatten erst an ihren jährlichen Überschwemmungen gehindert werden müssen. Das geschah durch Deichbauten, die der Orden organisierte. Damit wurde aber gleichzeitig eine weitere Erhöhung der Flur verhindert, und wenige Kilometer nördlich von Mierau, dicht hinter dem Nachbardorf Tiege, blieb ein Depressionsgebiet erhalten. Zwei bis drei Meter liegt es bis heute unter dem ‚Meeresspiegel‘, wie es damals immer hieß. Ich hörte diesen Begriff im Vorschulalter oft von meinem Vater in der Schulklasse, die ich während des Unterrichts betreten durfte. Ich saß dann auch ganz still und sah und lauschte: Vorn stand die Karte vom Freistaat Danzig, rechts auf ihr war ein scharf umrissener, rechteckiger roter Fleck. Das muss der Meeresspiegel sein, log mir meine kindliche Phantasie vor. Es war der Grundriss der Stadt Elbing, rechteckig angelegt wie die meisten Ordensstädte. Ich bin aber nie nach Elbing gekommen. Das war die reichsdeutsche Einkaufsstadt für das nördliche Werder, etwa ab Tiegenhof, der Kreisstadt mit Sitz des Landrats. Tiegenhof ist viel jünger als Neuteich, da es im Überschwemmungsgebiet liegt, hat sich dann aber doch schneller entwickelt und Neuteich überholt.

Mierau, zwischen beiden Werderstädtchen, ist ein Straßendorf mit Bauernstellen zu beiden Seiten der geraden, ein Kilometer langen Kopfsteinpflasterstraße, die genau von Süden nach Norden führt. Diese zufällige Besonderheit hat bewirkt, dass ich bis heute diese Erinnerung als Orientierungshilfe in jeder Landschaft benutze: Norden ist da, wo die Dorfstraße zu den Bauern Wiebe, Reimer, Schroedter und Harder führt, und weiter geht' s nach Tiege auf einem Feldweg, von Weiden gesäumt. Nach Süden zu wohnen Wiens, Krüger, Regier und Driedger, und vom Dachboden des Schulhauses sah man die Kirchtürme und den Schornstein der Malzfabrik von Neuteich. Im Westen schimmerte bläulich die Danziger und im Osten die Elbinger Höhe. Ich glaube, dieses einfache geographische System hat wesentlich dazu beigetragen, mein Interesse für geographische Verhältnisse zu wecken und das Studium von Landkarten zu einer bevorzugten Beschäftigung zu machen. Die Mierauer Dorfstraße machte beim Bauern Driedger eine Rechtskurve, in dem rechten Winkel lagen ein Teich für Löschwasser und der Friedhof. Dann standen noch drei Insthäuser, Katen, am Straßenrand, und man fuhr etwa zwei Kilometer nach Westen zur Chaussee Ladekopp-Neuteich. Kurz vor der Einmündung liegt rechts das Mühlengrundstück. Der Müller war Adolf Jerosch. Ich habe die Windmühle etwa bis 1930 laufen gesehen. Es war eine Bockmühle, d. h. der ganze Mühlenkörper wurde mittels Seilwinden nach der Windrichtung gedreht. Danach aber verrichteten Dieselmotoren, wahre Ungetüme wie Schiffsmotoren, die Mahlarbeit, und die schöne alte Windmühle verfiel: ein Flügel nach dem anderen brach ab. Als wir 1975 in Mierau waren, stand aber immer noch der Rumpf.

Viele der in Armut und Enge dahinvegetierenden Landarbeiter waren fanatische Kommunisten. Der Hass dieser Menschen auf die Besitzenden nahm Formen an, dass man sich auf der Straße nicht mehr sicher fühlen konnte. Die kommunistische Gefahr brauchte nicht erst propagandistisch ausgemalt zu werden. Wir haben sie am eigenen Leibe erlebt. Als unsere Familie an einem Sonntagnachmittag auf dem Weg nach Tiege spazieren ging, kam uns ein Trupp vom ‚Arbeiter-Schutzbund‘, das war die halbmilitarisierte Schlägertruppe der KPD, auf Fahrrädern entgegen. Einer aus dem Trupp reckte die Faust, schrie ‚Freundschaft‘ und sprang vom Rad. Die anderen machten es ihm nach und umringten uns mit drohenden Gesichtern und erhobenen Fäusten. Mein Vater sagte kein Wort - zehn Sekunden Stille. Dann rief der Anführer: „Weiterfahren“. Es waren fremde Leute aus Nachbardörfern.

SA-Trupps hatte ich zu dieser Zeit noch nicht zu Gesicht bekommen. Die lernte ich erst bei einer Wahlschlacht auf unserem Schulhof kennen. Die Schulklasse war Wahllokal. Vor dem Eingang saßen zwei SA-Männer in einer herausgestellten Schülerbank. Sie sollten wohl für den Schutz ihrer Sympathisanten unter den Wahlberechtigten verantwortlich sein. Es geschah damals nämlich durchaus nicht selten, dass Wähler, deren politische Gesinnung bekannt war, beim Betreten oder Verlassen des Wahllokals von Herumstehenden, die meist noch gar nicht selbst wählen durften, angepöbelt wurden. Letztere unterschieden sich schon durch ihre betont arbeitsmäßige Kleidung von den sonntäglich angezogenen Bürgerlichen. Dieses junge Arbeitervolk, das sich stolz Proletarierklasse nannte, frozzelte die beiden SA-Männer auf der Schulbank an. Ich stand dabei und hörte: "Kick di moal dä Swinshut an! Wenn ek dem in min Swinstall hätt, dem Kuijjel mecht ek afmurksen". Ob solcher Reden sammelte sich immer mehr Volk und lachte sich schief auf Kosten der Uniformierten. Denen wurde es immer ungemütlicher, bis einer seine Mütze aufsetzte, aufstand und im Wahllokal verschwand. Später hörte ich vom Vater, der zum Wahlvorstand gehörte, dass der SA-Mann telefonisch Hilfe aus Neuteich anfordern wollte. Dazu musste er zum Vorderausgang des Schulhauses, unseres Wohnflurs, schräg über die Straße zum Bauern Wiens gehen, der eines der drei Telefone in Mierau hatte. Es dauerte nicht lange, da begann ein großes Getümmel auf Hof und Straße. Ich stand im Chausseegraben und hätte gern den weiteren Verlauf der Dinge beobachtet, denn inzwischen war ein SA-Rollkommando per Lastauto eingetroffen, und ca. 20 - 30 Mann formierten sich zur Räumung der Umgebung des Wahllokals: Sturmriemen unterm Kinn, Schulterriemen in der Faust, die Eisenschnallen als Schlagwaffe schwingend. Da rief meine Mutter mich ins Haus. Den weiteren Schlachtverlauf habe ich aus einer Bodenluke beobachtet: Die Arbeiter wehrten sich mit Messern und Steinen. Einzelne wurden eingekreist und verdroschen. Die SA-Männer waren auch mit kleinen Pistolen bewaffnet, wie Damen sie in Handtaschen trugen, aluminiumfarben mit Kaliber 3,5 mm. Damit verschafften sie sich Respekt, wenngleich die Geschosse nicht durchschlugen. Der Lärm war unbeschreiblich bei diesem Aufeinanderprall von ca. 50 Männern. Inzwischen hatte Bauer Wiens, selbst auch im Wahlvorstand, telefonisch das Neuteicher Überfallkommando herbeigerufen. Auf eine Begegnung mit der Polizeieinsatztruppe ließ es die SA aber nicht ankommen: ein scharfer Pfiff, und die Braunen enterten ihr Auto. Ein Mann in Zivil fiel beim Anfahren wieder herunter, dem Vernehmen nach der Arzt der Gruppe. Er lief wie um sein Leben, denn die ganze Arbeiterschar wollte sich auf ihn stürzen. Der Laster hielt, der Mann wurde mit knapper Not heraufgezogen, und das Auto verschwand in Richtung Tiege. Da rollte von der andern, der Neuteicher Seite die Polizei herein, und jetzt gab' s Prügel mit Gummiknüppeln. Sogar ein völlig unbeteiligter älterer Mann, der mit der Sense Gras für Ziege und Kaninchen gemäht hatte, wurde verprügelt, denn er trug eine Waffe des Landvolks wie die anderen auch: Sensen und Dreschflegel sind die klassische Bewaffnung der Unterdrückten. Ihm liefen die Tränen, als er meinem Vater von seinem Pech erzählte. Es war der Flickschneider Kornath.

Das war die Volkstagswahl im November 1930. Ich war 9 1/2 Jahre alt und seit einem halben Jahr Sextaner der Realschule i. E. (‚in Entwicklung‘) in Neuteich. Die Schule führte nur bis zur Mittleren Reife, damals im Volksmund immer noch ‚Einjähriges‘ genannt, weil ihre Absolventen zur Kaiserzeit nur ein Jahr zu dienen brauchten, also militärpflichtig waren.

Die Grundschule hatte ich bei meinem Vater durchlaufen, und zwar knapp vor Beginn meines fünften Lebensjahres war ich eingetreten. Meine frühe Einschulung war darauf zurückzuführen, dass ich mich am liebsten im Klassenraum aufhielt, wenn mein Vater unterrichtete. Es war viel interessanter, den Vorträgen in Heimatkunde, den Erzählungen der biblischen Geschichten, worin mein Vater Meister war, und den Darstellungen anderer Wissenschaften zu lauschen, als draußen allein zu spielen.

Ins Dorf auf Erkundigungen ausgehen durfte ich ohnehin nicht, höchstens ließ meine Mutter mich zu Hilla Regier, meiner Spielgefährtin der Vorschuljahre, gehen, einem Kind mit sehr interessanter bäuerlicher Häuslichkeit: da gab es eine Wagenremise, Speicher genannt, weil der Oberboden Getreidesäcke fasste. Zum Wagenpark gehörte eine Kutsche, ganz wie die alten Postkutschen gestaltet, nur schwarz wegen der feierlichen Anlässe, zu denen sie ausschließlich eingesetzt wurde: Hochzeiten und Begräbnisse ließen sie zu Ehren kommen. Das geschah selten genug, uns Kindern aber war die Kutsche ein geheimer Spielplatz. Auch im Scheunenstroh wurde die Zeit nie zu lang: rutschen, springen, Höhle bauen, fast schwerelos kam man sich vor, als noch kein Mensch an Trampolin und Satellitenflug dachte. Auf dem Scheunendach nistete regelmäßig im Sommer ein Storchenpaar und zog Junge groß. Frösche gab es genug auf den Wiesen, an den Wassergräben und Teichen. Das Dorf besaß vier große Teiche an der Straße und noch ein paar kleinere in den Gärten. Sie waren als Feuerlöschteiche gedacht, verlandeten aber allmählich und bildeten ‚‘Feuchtbiotope‘, wie man heute sagt. Den Storch auf der Scheune haben wir besungen:

Storch, Storch, bester,
bring mir eine Schwester!
Storch, Storch, guter
bring mir einen Bruder!

Regiers hatten auch ein ‘Rosswerk‘ auf dem Hof stehen, ein im Boden fest verankertes Drehgestell aus vier kreuzförmig angeordneten Balken bestehend, an die die ‘Rösser‘ zum Umtreiben gespannt wurden. An die eiserne Kraftübertragungswelle wurden Landmaschinen angeschlossen: Dreschtrommel. Häckselschneider, Reinigungsgebläse usw. Für uns Kinder aber war das Rosswerk ein herrliches Karussell. Man durfte nur nicht in das Getriebe in der Mitte geraten. Meine Eltern hatten immer ein wenig Angst vor den Gefahren, die auf einem Bauernhof auf Kinder lauern, besonders auf unerfahrene wie mich. Die Bauernkinder selbst waren mit den Geräten und Tieren natürlich vertrauter durch tägliches Erleben und Umgehen. Es gab Regeln:

o Geh nie an ein Pferd von hinten!
o Geh nie auf eine Wiese mit Rindern! Es ist meistens ein Bulle dabei, der dich auf die Hörner nimmt.

Bei Spaziergängen war es sogar ratsam, sich nicht in die Nähe einer solchen Herde zu begeben. Bösartige Bullen könnten das Gatter durchbrechen und angreifen. Es gab bei uns einige von dieser Sorte. Ich habe sie öfter an einer langen, festen Stange am Nasenring mit einer breiten Augenabdeckung, einer ‘Bullenbrille‘, durch das Dorf führen sehen. Anders waren diese Bestien nicht zu beherrschen. Trotzdem kam es vor, dass die Tierpfleger verletzt oder gar getötet wurden. Nach landläufiger Meinung hatte das Opfer dann eben einen Fehler gemacht. Jeder Bullenführer war stolz auf seine Geschicklichkeit und Erfahrung. Einmal raste ein Hengst in Panik die Dorfstraße entlang, die Hufe schlugen das Pflaster, der Schwanz stand steil aufwärts, die Augen waren weit aufgerissen. Leute liefen hinterdrein und schrien: "Aufhalten! Aufhalten!" Ein Pferd in diesem Zustand kann Katastrophen auslösen: Zugtiere wild machen, Radfahrer und Kinder umrennen, gegen Zäune und Mauern rasen und selbst zu Tode kommen. Durch den Lärm aufmerksam gemacht, rannte unser Nachbar Peter Janzen, Vorarbeiter bei Wiens, auf die Straße, breitete seine Jackenflügel aus und stellte sich so dem rasenden Hengst in den Weg. Und tatsächlich stoppte das Tier seinen Galopp und stieg vor dem Mann auf die Hinterbeine. Der griff nach oben in den Zaum, holte den Hengst wieder in die Waagerechte und beruhigte ihn mit Klopfen und Zureden. Das war ein Lehrstück in Tierpsychologie: Die eigene Angst verdrängen, Überlegenheit suggerieren und dem Tier die Angst nehmen. Emotionen sind nur durch überlegenen Willen beherrschbar, das gilt für Mensch und Tier.

Die Hauptpersonen im Dorf waren selbstredend die Bauern, die ‚Besitzer‘, wie sie meist betitelt wurden, d. h. Land- und Gebäudebesitzer. Die Arbeiter wohnten zur Miete in den zum Hof gehörigen ‚Katen‘ Die wenigen ‚Häusler‘, Eigentümer mit etwas Getreide- und Gartenland, drei Handwerker und der Lehrer rundeten das gesellschaftliche Bild ab, alles in allem etwa 350 Einwohner. Drei Bauernstellen, eine Entwässerungsmühle und die Windmühle lagen außerhalb, ‚im Felde‘, und waren, außer dem Müller Jerosch, nur über im Herbst grundlose Feldwege erreichbar. Das waren: Otto Andres im SW Richtung Schwente nach Neuteich zu, der zeitweise Amtsvorsteher des Amtes Broeske mit Polizeigewalt war, Gustav Bergtold im SO an der Schwente nach Brodsack zu, und die kleineren Anwesen Funk und Ludwig im NO Richtung Marienau, ebenfalls an der Schwente. Dieses Flüsschen bildete also die Grenze der Feldmark Mierau in den genannten Richtungen.

Jedes Grundstück hatte seinen Brunnen mit darauf montierter Pumpe mit Schwengel. Grundwasser war im Sand und Mergel des Deltas überall vorhanden, bei uns schon in zwei Meter Tiefe. Es konnte ungereinigt getrunken werden. Auch Bauer Johannes Wiebe hatte solch einen Brunnen, aber keine Pumpe, sondern eine Winde mit Eisenkette und Eimer. Dieser Apparat prangte auffällig im Garten am hinteren Hauseingang zur Küche. Das galt als altmodisch, zumal in den offenen Brunnen Verunreinigungen fallen konnten. Ob das Wasser in den verdeckten Brunnen mit Pumpe sauberer war, ist wohl kaum jemals festgestellt worden: die Düngerhaufen waren nach heutigen Maßstäben nicht immer weit genug entfernt. Der Abstand zwischen der Sickergrube des Schulklos und dem Küchenbrunnen betrug ca. 30 Meter! Der Sand im Untergrund muss eine unheimliche Filterkraft gehabt haben.

Gustav Schroedter war der reichste Bauer im Dorf. Er besaß ungefähr doppelt so viel Land wie die anderen, ca. sieben Hufen. Nach meiner Schätzung muss früher einmal ein Hof in der Dorfmitte aufgegeben worden sein. Das Wohnhaus war Arbeiterunterkunft geworden: die Familie Grabowski und der Stellmacher Oehlert wohnten darin. Scheune und Speicher wurden vom Hof Schroedter genutzt. G. Schroedter war auch der einzige Autobesitzer im Dorf. Er fuhr einen offenen Viersitzer mit Notverdeck, Baujahr ca. 1917, Handbremse außerhalb der Tür; der Richtungsanzeiger war ein Pfeil mit Handbedienung. Das Spiel in der Lenkung war beängstigend.

Der beleibteste Bauer war Jakob Wiens. Würdevoll trug er seinen Schmerbauch vor sich her, wenn er vormittags um zehn Uhr, nachdem er seine Leute zur Arbeit eingeteilt und kontrolliert hatte, in den ‚Amboss‘ ging. Dort traf er meistens schon den Nachbarn Otto Krüger, der es genauso machte. Da saßen sie denn bei Frau Gutowski, die einen kleinen Kramladen betrieb. Sie verkaufte auch Lebensmittel und unterhielt einen Ausschank. Ihr Mann war Schmiedemeister, daher der Name ‚Amboss‘. Zum Mittagessen kehrten sie dann, manchmal war auch Abraham Regier mit von der Partie, den Spazierstock schwingend, in ihre Häuslichkeit zurück, nachdem einige Bier und Machandel gekippt worden waren. Der Mittagsschlaf war obligat. Erst gegen Abend wurde wieder kontrolliert und Anweisung für den nächsten Tag gegeben. Kein Wunder, dass körperliche eigene Arbeit je länger desto weniger in Frage kam. Aber die ‚Leute‘, also die Arbeiter, fanden den Zustand angenehm, und die Wirtschaften vertrugen das bei dem fetten Boden auch.

Ein Ei kostete fünf Pfennige, ein Liter Milch 12 Pfennige, ein Kilo Brot 80 Pfennige, ein Pfund Butter 1,30 Gulden, ein Pfund Fleisch ein bis zwei Gulden je nach Güte. Den Brotvertrieb im Dorf hatte die Frau des Imkers Vesper inne, geliefert wurden die Backwaren vom Bäcker Paulwitz in Neuteich. Wurst- und Fleischwaren mussten wir in Neuteich selbst einkaufen: Unser Fleischer hieß Becker. Salzheringe hatte Frau Gutowski im ‚Amboß‘. Auch Petroleum für die Lampen gab es da.

An jedem Freitag aßen wir zum Abend Salzheringe mit Pellkartoffeln und Fett. Danach wurde gebadet, in einer Zinkwanne voll auf dem Küchenherd erhitzten Wassers. Es war im Anstellungsvertrag eines Dorfschullehrers festgesetzt, dass er bei dringenden Fahrten in die benachbarte Stadt ein Pferdefuhrwerk beanspruchen konnte. Mein Vater hat das auch wahrgenommen, und ich musste einige Male reihum zu Wiens, Krüger oder Regier unseren Bedarf anmelden und um ein Fuhrwerk bitten. Das hat natürlich immer ein wenig nach Bettelei gerochen, wurde aber damals noch mehr wie ein ‚Deputat‘ angesehen, also wie eine dem Lehrer zustehende Zuwendung, wie sie die Arbeiter an Kartoffeln, Getreide und Milch auch erhielten. Mit zunehmender Gehaltsaufbesserung der Lehrer nach 1919 wurde aber die Fragwürdigkeit dieser Regelung, wie sie im 19. Jahrhundert und vor dem Ersten Weltkrieg selbstverständlich war, immer deutlicher. Ein Lehrer war nun auch nicht mehr der Untergebene des Pfarrers im Sprengel wie noch zu Kaisers Zeiten. Jetzt gab es den Kreisschulrat und das Unterrichtsministerium, in Danzig den Senator für Kultus-, Schul- und Kirchenwesen. Trotzdem nutzte der Lehrer natürlich die günstigen Seiten alter Bräuche gerne aus.

Als allerdings die Spannungen wirksam wurden, blieb nichts anderes übrig, als Fahrräder zu benutzen. Im Winter jedoch war es kein Vergnügen, die vier km auf schlechter Straße mit engem Seitenpfad auf dem Rad sich durch Schnee oder Pfützen nach Neuteich zu quälen. Eine Taxe war viel zu teuer: 3,50 Gulden kostete die Fahrt. Nur, wenn wir spät in der Nacht mit dem Zug aus Danzig kamen und nicht zu Fuß nach Mierau marschieren wollten, wurde Herr Dombrowski, Fuhrhalterei und Kohlenhandel, herausgeklingelt. Er erschien, verschlafen und mit schwarzen Runzeln im Gesicht, man sah ihm den Umgang mit Kohlenstaub an. Als Autobesitzer aber genoss er großen Respekt bei mir, und die Fahrt mit seiner Limousine mit ihrem Leder- und Benzingeruch war fast der Höhepunkt des Tages.

Für meinen Schulbesuch in Neuteich ab 1930 hatte ich radfahren gelernt, und zwar auf dem Rad meines Vaters, ‚Stoevers Greif', das die Eigenschaft hatte, in der Rücktrittnabe, wenn lange nicht nachgeschmiert worden war, durchzudrehen. Die Nabe musste dann vollständig auseinandergenommen und alle Teile eingefettet werden. Ein Kinderrad anzuschaffen kam wegen der Kosten nicht in Frage. Mein Vater aber kaufte sich ein neues Rad, Marke ‚Viktoria‘, damals der letzte Schrei in Sachen Zweirad. Meine Beine waren mit neun Jahren gerade lang genug, dass die Zehen bei auf den Rahmen montierter Satteldecke die Pedale erreichten. Das Lernen aber war bei diesen Voraussetzungen eine Quälerei. Auch Roller waren für damalige Verhältnisse Luxusgegenstände. Trotzdem lernten auch die Arbeiterkinder radfahren: seitlich unter der Querstange hindurch wurde getreten, wenn kein Damenrad zur Verfügung stand. Kinder brachten sich solche Fähigkeiten am besten unter sich bei.

Eine etwas ältere Nachbarstochter, Grete Scharping, war für diesen Fall meine Lehrerin, und so war ich bald für die täglichen Fahrten zur Schule gerüstet. Bei schlechtem Wetter und besonders im Winter aber nahm mich mein Freund Egon Harder mit dem Fuhrwerk mit, solange es ging. Ich bin dann natürlich, wann es nur immer ging, mit dem Rad gefahren, habe mich dabei ordentlich abgehärtet und meine kleinen Erlebnisse gehabt. Am Wegesrand grasten oft Ziegen. Die störten sich an dem Verkehr überhaupt nicht, man musste ihnen brav ausweichen. Solch eine Ziege lag einmal überraschenderweise auf dem Straßenpflaster, war aber am Grabenrand angepflockt, so dass die Kette den Fahrradsteig querte. Ich fuhr einfach drüber. Im selben Moment stand die Ziege auf, mein Hinterrad hob sich, und ich stürzte kopfüber in den Graben, zum Glück ohne mich zu beschädigen. Ein anderes Mal bin ich vor Müdigkeit während des Fahrens auf dem Rad eingeschlafen und landete unsanft an einem Chausseebaum. Das war schon härter, ist aber auch gut abgelaufen.

Ab 1933 wechselte ich dann an die Tiegenhöfer Schule über, die bis zum Abitur führte. Ich bin auch dahin einige Male mit dem Rad gefahren. Es war doppelt so weit und ging nur über Landwege und Wiesenpfade. Die Regel war aber, dass ich mit dem Postbus von der Mühle Jerosch über Ladekopp mit Umsteigen in den Schulbus Schöneberg-Tiegenhof zur Schule fuhr. Andere Neuteicher Jungen machten mir das nach: Klaus Zielinski und UIi Steiner, zwei Arztsöhne, und Lothar Matzkuhn, Sohn eines Hotelbesitzers.

Die Landarbeiter waren eine Klasse für sich: Proletariat. Keiner von ihnen hatte entfernt die Möglichkeit, zu eigenem Land- oder Hausbesitz zu kommen. Sie erstrebten solches auch gar nicht, denn ihr Leben lief zwar dürftig, aber doch gesichert ab: Jede Familie hatte ihre Wohnung und genügend Gartenland für Kartoffel- und Gemüseanbau. Etwa auftretende Wohnungsnot wurde von der Gemeinde behoben. Ziergärten hatten nur die Bauern, kaum die Häusler. Die Wohnverhältnisse waren beengt: Der Eintritt in die Wohnung geschah durch die Küche. Dahinter lag das Wohnzimmer, in dem meistens auch Betten standen. Dann gab es noch eine Schlafkammer. Oft schlief noch ein Kind auf der Küchenbank. Geld als Arbeitslohn gab es wenig, dafür aber Lebensmitteldeputate vom ‚Hof‘. Der Altknecht war dem Hof verhaftet, oft half seine Frau noch im Bauernhaus mit, und auch die Kinder wurden im Sommer bei der Ernte eingespannt. Das hatte sich so eingebürgert, dass der Schulbesuch darüber zur Nebensache geriet, und mein Vater musste, als er die Lehrerstelle angetreten hatte, mühsam durchsetzen, dass die Kinder mindestens um Urlaub baten, wenn ein Bauer sie beanspruchte. Das hörte sich dann am Abend vorher so an: "Ob der Herr Lehrer mich kennt freijeben morjen. Ich soll beim Driedger weiterricken", Der kleine Bursche saß dann am nächsten Morgen auf dem Pferderücken und fuhr den Wagen auf dem abgemähten Getreidefeld von Hocke zu Hocke zum Aufladen, er ‚rückte weiter‘.

Das Mähen, Garbenbinden, Aufstellen zur ‚Hocke‘ zum Nachreifen und Trocknen, Einfahren und Dreschen waren die fünf Arbeitsgänge bei der Getreideernte. Die beiden letzten erlebte ich im Dorf mit. Dann schwankten die Leiterwagen die Dorfstraße entlang, und bald summten die Dreschkästen in den Scheunen, getrieben von einer Lokomobile, die der Maschinist mit Kohlenfeuer am Laufen hielt. Es war der alte Kirsch, der Vater vom Schuster August Kirsch, der sich damit noch Geld zur Rente dazuverdiente. Die Lokomobile gehörte dem Bauern Schrödter. Immer, wenn eine Garbe von oben in den Dreschsatz eingegeben wurde, sank die Umdrehungszahl, der Brummton desgleichen, um aber sofort wieder anzusteigen. Die Säcke hingen an vier Abfüllöffnungen. Wenn sie prall waren, wurden sie von kräftigen Kerlen auf dem Buckel zum Speicher geschleppt. Die Treppe hinauf war immer steil und schmal.

Bauer Gustav Schroedter benötigte, da er doppelt so viel Ackerland besaß wie die anderen Bauern, im Sommer und Herbst eine zusätzliche Arbeitskolonne aus Polen, sog. ‚Saisonarbeiter‘. Das waren Frauen und Männer aus Südostpolen, den ärmsten Gegenden dieses Staates, die mit einem Kolonnenführer anreisten. Sie konnten in Danzig mehr Geld verdienen, als bei sich zu Hause. Besonders die Hackfrüchte mussten einzeln von Hand bearbeitet werden. Diese Kolonne zog morgens durch das Dorf aufs Feld und kam am späten Nachmittag zurück zu ihrer Unterkunft, die außerhalb des Dorfes im Norden am Weg nach Tiege lag. Man sah sie also kaum, zudem waren die Gesichter der Frauen vollkommen von gestärkten Kopfhauben verdeckt, die wie Scheuklappen keine Profilsicht zuließen. Es gab keinen Kontakt mit ihnen, was die deutsche Arbeiterjugend vielleicht bedauert hat. Diese ‚Apartheid‘ war aber so selbstverständlich, dass niemand auf den Gedanken kam, doch mal eine Annäherung zu wagen. Wahrscheinlich war der Kolonnenführer von Haus aus verpflichtet, strengstens auf die Moral der Truppe zu achten. Die Mitglieder dieser Kolonnen waren die einzigen Polen, die es in Mierau gab. Für die übrigen Dörfer galt das gleiche. Die polnisch klingenden Namen Burkowski, Gelewski, Gutowski, Grabowski, Wasielewski, Zerfowski stammten noch aus der Zeit vor 1772, als Westpreußen der polnischen Krone unterstellt war. Ihre Träger aber unterschieden sich in nichts von den Trägern deutscher Namen: Schmidt, Janzen, Tetzlaff, Hinzmann, Blesching, Sommer, Schlott. Sie sprachen alle das Werderaner Platt, manche noch nicht einmal das, sondern hochdeutsch mit Werderaner Tonfall wie die Bauern unter sich.

Es gab bei uns einige wenige Landarbeiterfamilien, die ein gestörtes Verhältnis zu häuslicher Sauberkeit und Körperpflege hatten. Bei ihnen traten Kopfläuse auf. Mein Vater achtete streng auf Isolierung der betreffenden Kinder und richtete anfangs eine ‚Läusebank‘ im Klassenraum ein. Die Kinder mussten melden, wenn sie bei jemand anderem eine Laus entdeckten: "Herr Lehrer, bei N.N. kräuft Ungeziefer!" tönte es dann durch die Klasse. Der oder die so an den Pranger Gestellte wurde sofort nach Hause geschickt, zur Generalreinigung, und saß dann einige Zeit in ‚Quarantäne‘ auf der Läusebank. Die Fama berichtet, dass ich als Kleinkind selbst zu eben diesen Kopfläusen Beziehungen aufgenommen hatte, wie, bleibt rätselhaft. Darauf ist wohl zurückzuführen, dass ich, soweit meine Erinnerung reicht, mich nicht aus dem Garten entfernen durfte, ohne ein festes, unser würdiges Ziel genannt zu haben.

Als Umgang für mich kamen deshalb nur Kinder aus Bauernfamilien oder Handwerker in Frage: der Stellmacher Oehlert, der so manchen Gebrauchsgegenstand anfertigte, der Schmied Gutowski, dem bei der Arbeit zuzusehen mir großen Spaß machte, und vor allem der Schuster August Kirsch, mit dem mich sogar eine Art Freundschaft verband, weil er Schifferklavier spielte. Die Handwerker bildeten eine gehobene Klasse. Sie kamen durch Fleiß zu Eigentum, was einem Landarbeiter unmöglich war. Schuster Kirsch baute sich sogar ein eigenes Häuschen: Flur und Küche waren ein Raum, dahinter lag das Wohn- und Schlafzimmer in ganzer Hausbreite, und nach Kehrtwendung gelangte man in die Werkstatt, von gleicher Größe wie die Flurküche und daneben gelegen, alles in allem vielleicht 35 qm.

Bruno Stahnke, ein sehr entfernter Vetter meines Vaters und Kollege aus dem Thorner Lehrerseminar setzte sich in Danzig für die Mierauer Schule ein. Senator war jetzt Adalbert Boeck, auch ein Thorner und demnach Duz-Freund aller Thorner Lehrer im Werder. "Also, die Mierauer Schule muss zweiklassig werden. Du weißt doch, da ist der Christian. Der arbeitet sich halbtot mit seinen 60 Kindern auf einem Haufen". Der Christian, mein Vater, hätte sich nie getraut, so aufzutreten. Er machte so etwas lieber schriftlich und hatte dadurch erreicht, dass das Schulhaus 1928 modernisiert worden war: Küchenanbau, Gewinn eines Kinderzimmers, neue Treppenaufgänge und Sondereingang für die Schüler. Aber die Beziehung alter Seminarbekanntschaft auszunutzen, war ihm zu peinlich. Onkel Bruno war ein kleiner, aber sehr agiler Mann voller Pläne und Tatkraft. Er brachte es bis zum Kreisschulrat. Sein Leben endete 1945 durch Tieffliegerbeschuss. "Minister könnt ihr werden", hat er mir einmal verkündet. Die Zeit voller Betriebsamkeit, Aufbauwillen und Erfolgserlebnisse war so recht nach seinem Gusto, ihm sozusagen auf die Seele geschrieben.

Mein Vater musste nun, wie alle Thorner, in die NSDAP eintreten. Um nicht allein zu handeln - zu zweien macht sich' s leichter - beredete er einen Neuteicher Kollegen, Gerhard Raddach, das gleiche zu tun. Dessen Bearbeitung - er war Kunsterzieher, Kunsthandwerker, ausgesprochener Individualist - dauerte einen ganzen Besuchsnachmittag lang. Aber schließlich hieß es: „Hans-Joachim, geh' mal rüber zu Herrn Scharping und lass' dir zwei Anmeldeformulare geben!" Ich trabte los. Nero, ein zotteliger Hirtenhund, meldete mich lautstark an. Herr Scharping war ein großer, aber von der Arbeit schiefer, zudem schielender Mann. Meistens roch er nach Alkohol. 'Zellenleiter' war sein Status in der Partei.

Die NSDAP wurde von Woche zu Woche honoriger im Bestand der Mitglieder. Ein Besitzer nach dem andern wurde ‚Parteigenosse‘, bald auch deren Frauen, die dann zur NS-Frauenschaft gehörten. Einen großen moralischen Werbeeffekt bewirkte die NSV (Volkswohlfahrt), deren Leiter mein Vater wurde. Mit ihrem WHW (Winterhilfswerk) betrieb sie großangelegte Sammelaktionen für die Dorfarmen. Die Sammelbüchsen klapperten auf den Straßen, von honorigen Persönlichkeiten, aber auch Schülern, kräftig geschüttelt. In der Schulklasse stapelte sich Winterkleidung aus alten Beständen der Wohlhabenden. Es war tatsächlich so etwas wie eine Gemeinschaft im Entstehen. ‚Volksgemeinschaft‘ hieß der offizielle Ausdruck. Natürlich ließen sich die Standesschranken nicht so schnell niederreißen: Nachbarabende mit den Handwerkern oder gar den Arbeitern gab es nicht. Aber politische Querelen und Konfrontationen fielen aus. Den Höhepunkt der Gemeinschaft erlebten wir kurz vor dem Verlassen des Dorfes beim Erntedankfest im Oktober 1935. Da war die ganze Einwohnerschaft in Harders Tenne versammelt. Bier gab es auf Gemeindekosten und manche Zwistigkeit, aus der ‚Kampfzeit‘ stammend, wurde beigelegt.

Im Freistaat Danzig gab es im Gegensatz zum Reich eine Mehrparteien-Demokratie. Deshalb waren auch Volkstagswahlen nötig. Solch eine Wahl fand am 7. April 1935 statt. Die seit dem 20. Juni 1933 mit absoluter Mehrheit regierende NSDAP hoffte, ihre Stellung weiter auszubauen und die SPD, die Deutschnationalen (Liste Weise) und das Zentrum noch mehr zurückzudrängen. Um dieses Ziel zu erreichen, schien ihr ein wenig Druck durch Einschüchterung, sprich: Verletzung des Wahlgeheimnisses, nicht verkehrt zu sein. Der Gauleiter Albert Forster wollte wohl auch seine eigene Stellung gegenüber der Regierung unter Senatspräsident Greiser stärken. Der erste NS-Präsident Rauschning war von ihm mit Rückendeckung aus Berlin schon hinausgeekelt worden. Der Grund war dessen Streben nach Ausgleich mit Polen in Fragen des Hafens, der Eisenbahn und der Post gewesen, auf welchen Gebieten Polen Rechte in Danzig hatte. Aber auch Greiser war kein Scharfmacher, und somit blieben Zerwürfnisse zwischen Partei- und Staatsführung nicht aus. Gerüchte sprachen davon, dass Greiser und Forster sich geprügelt hätten. Sie müssen danach aber einen modus vivendi gefunden haben. Greiser ging zwar eine Zeitlang am Stock, blieb aber bis zum Einmarsch deutscher Truppen Senatspräsident. Hitler soll vermittelt haben in dem Sinne, dass Forster nichts übereilen möge. Die Zeit zum Konflikt mit Polen war noch nicht gekommen.

Unter diesen Voraussetzungen fand also die Wahl am 7. April 1935 statt. Was an diesem Tage in Mierau geschah, konnte ich mir damals nicht erklären, erst sehr viel später begriff ich die Zusammenhänge und die Tragweite der Handlungen. Der Antisemitismus moderner Prägung entstand im 19. Jahrhundert, als immer deutlicher wurde, dass gerade die Juden es waren, die ein völlig neues Verständnis im Handelswesen entwickelt hatten: Geld war für sie nicht nur Mittler im Warentauschgeschäft, sondern selber Ware geworden. Daraus folgte für sie nach alter Regel, dass es teuer wird, falls Knappheit herrscht. Da aber nun jemand, der Geld braucht, selber keines hat, kann man es ihm nur leihen, gegen eine Leihgebühr selbstverständlich. Soweit ist auch nicht dagegen einzuwenden, selbst wenn die Zinsen hoch sind bei allgemeiner Geldknappheit. Nur warf man den Juden, die den Geldmarkt zu großen Teilen beherrschten, vor, sie träfen Absprachen, hielten künstliche Knappheit aufrecht, um hohe Zinsen fordern und Grundstücke auf diese Weise in eigenen Besitz bringen zu können. Diese Vorstellungen waren bei den deutschen Unternehmern und Freiberuflichen lange vor Hitlers Auftreten im Schwange. Hitler hat diese Gedanken aufgegriffen und systematisch aufgearbeitet: Das Weltjudentum ziele bewusst auf die Verknechtung aller Nichtjuden. Es sei somit der Weltfeind Nr. 1.

Nach meiner Beobachtung an den in Neuteich lebenden Juden, die vor nicht langer Zeit aus Polen zugewandert waren, ist das erste Geheimnis ihres Erfolges die Bedürfnislosigkeit in der Anfangsphase der Existenzgründung. Jeder Groschen wird gespart oder investiert, damit er sich vermehre. Dazu kommen der Einfallsreichtum an Ideen und konsequente Durchführung von Plänen, falls sie erfolgversprechend sind. Ehrgeiz und Härte gegen sich selbst in teilweise feindlicher Umwelt werden den Kindern vorgelebt, die dann schon mit günstigeren Ausgangspositionen rechnen können. Ich hatte zwei jüdische Mitschüler von der Sexta bis zur Quarta, ein Mädchen und einen Jungen. Ilse Ruhm, Tochter des Bankiers Ruhm, war ein sympathisches, hübsches Kind, das durch nichts auffiel als durch Fleiß und gutes Benehmen. Für die Schwester Eva im nächst höheren Jahrgang galt das Gleiche. Das Bankhaus Ruhm war anscheinend seit längerem ansässig, die Familie sehr wohlhabend. Man erkannte es an der Kleidung und der Distinguiertheit der Töchter. Sie waren in der Klassengemeinschaft voll anerkannt. Nach 1933 wanderte die Familie rechtzeitig aus. Auch Manfred Hermann, Sohn des Textilkaufmanns Hermann mit Schwerpunkt Herrenkonfektion, hatte unter Mitschülern keine Voreingenommenheiten durchzustehen.

Mein Vater besaß zwei Pistolen, eine doppelläufige Jagdflinte und einen Tesching. Mit dem Tesching schoss er Spatzen, die leicht überhandnahmen, da sie überall beim Hühnerfüttern mitfraßen und unter den Dachpfannen ideale Nistmöglichkeiten fanden. Ich durfte mich nur mit dieser leichten Waffe im Schießen üben. Einmal kroch beim Scheibenschießen eine Spinne über die Scheibe und blieb rechts unten auf Ring zwei sitzen. "Auf die Spinne", rief ich spontan. "Die triffst du ja doch nicht", meinte mein Vater. Ich drückte ab und setzte die Kugel unmittelbar neben den Spinnenkörper, zwei Beine waren weg. Die Spinne schien das nicht gemerkt zu haben. Sie kroch erst einige Zeit später langsam weiter.

Mehr Spaß machten unsere Jagdzüge. Die Mierauer Jagdrechte hatte der Bauer Gustav Schroedter zusammen mit Otto Andres gepachtet. Gustav Schroedter war ungefähr 1930 Gemeindevorsteher geworden. Da ihm die Amtsführung einige Schwierigkeiten bereitete, sprang mein Vater öfter ein, d. h. er bearbeitete den gesamten Schriftverkehr mit dem Amt Broeske, das die Polizeigewalt ausübte, und dem Kreis Großes Werder, der vom Landrat mit Sitz in Tiegenhof verwaltet wurde. Für diese Dienste durfte mein Vater seiner Jagdleidenschaft nachgehen. Wir besaßen aber leider nur einen Kurzhaardackel. Da der sich als unbrauchbar auf Hasen und Rebhühner erwies, schaffte mein Vater sich einen Spaniel an, also einen Hund für Wasservögeljagd, und hoffte auf großen Entenreichtum an der Schwente. Einige Male brachte er auch einen solchen Vogel nach Hause, gab es aber bald auf, denn das Fleisch war wenig schmackhaft, es blieb zu trocken und tranig. Am besten schmeckten Rebhühner. Bei denen protestierte aber meine Mutter, weil die meist stark zerschossen waren, so dass sie sich beim Saubermachen ekelte. Es blieben also Hasen, die reichlich geschossen und verspeist wurden, natürlich nur außer der Schonzeit, also von September bis Februar. Für die Felle zahlte der Jude Spiro, Altwarenhändler, 50 Pfennige pro Stück. Bodo, der Spaniel, lief immer fleißig mit, trotz seiner relativ kurzen Beine. Aber apportiert hat er nicht. Wir mussten selbst das Wildbret suchen.

Einmal kamen Kinder aufgeregt durchs Dorf gelaufen: "En Boor, en Boor!" Mein Vater rannte mit seiner Flinte, andere mit Forken und Dreschflegeln in die Richtung, wo der .Boor", also ein Bär, angeblich gesehen worden war. Nur von ferne bekam mein Vater das Tier auf der Feldmark zu Gesicht. Es entpuppte sich als Wildschwein, das sich wahrscheinlich aus den Wäldern der Danziger Höhe in die Werder verirrt hatte. Es entschwand durch die Schwente. Bei uns gab es nur Niederwild, für größere Tiere fehlte die Deckung. Nur im Außendeich der Weichsel hielten sich Rehe. Mein Onkel Heinrich Dyck hatte dort Rehböcke geschossen.

Im Umgang mit Schusswaffen war man damals unbekümmerter als heute. Jeder Bauer hatte sein Schießgewehr im Schrank, und mit der Freigabe von Faustfeuerwaffen für unbescholtene Bürger verfuhren die Behörden großzügig. Das verführte natürlich zu einigem Leichtsinn seitens der Waffenbesitzer. Einmal hörte man einen Schrotschuss im Dorf. Bald darauf rief es aufgeregt hin und wider. Ich lief in den Garten und hörte deutlicher: „Frau Janzen ist getroffen!“ Was war geschehen? Bauer Otto Krüger hatte auf eine Katze angelegt, die in einem Baum saß. Otto Krüger schoss also schräg in die Luft. Frau Janzen arbeitete in ihrem Gemüsegarten am Boden, für den Schützen unsichtbar. Ein einzelnes verirrtes Schrotkorn schlug ihr gegen die Stirn und fuhr unter der Kopfhaut am Knochen lang. Otto Krüger hat den Schaden bezahlt, einschließlich Schmerzensgeld. Ob der behandelnde Arzt Anzeige erstattet hat, ist mir nicht bekannt. Fälle dieser Art wurden im Allgemeinen unter der Hand geregelt. Man fühlte solidarisch.

Ein anderer Fall von Solidarität spielte sich zwischen der gesamten Schulkinderbelegschaft und meinem Vater ab: meine Eltern merkten eines Tages, dass die Hühner immer weniger Eier legten. Das ging nicht mit rechten Dingen zu! Und richtig, während des Unterrichtens sah mein Vater - der Hühnerverschlag mit Luke lag gegenüber dem Klassenraum im Stallgebäude, wie der Terrier des Schmiedemeisters Gutowski im Loch verschwand, mit einem Ei im Maul wieder herauskam und schnellstens Richtung Schmiede Leine zog, geduckt mit eingezogenem Schwanz. Statt nun aber mit dem Hundebesitzer zu sprechen, griff mein Vater zur Selbsthilfe. Er holte seinen Tesching, lud ihn und stellte ihn neben das offene Fenster. Die Kinder wussten inzwischen, worum es ging, und waren gespannt auf den Ausgang. Für das Vergnügen versprachen alle ohne Ausnahme äußerstes Stillschweigen. Als der Hund tatsächlich wiederkam, legte der Herr Lehrer am Fensterrahmen an und setzte dem Räuber die Kugel genau in die Hinterbacke. Aufjaulend ließ dieser das Ei fallen und rannte hinkend heimwärts. Der Schmied wird wohl erfahren haben, dass sein Hund Eier stahl, aber wo ihm das ausgetrieben wurde, blieb ein Geheimnis des Klassenzimmers.

Die bedeutsamste Unternehmung meines Vaters in Mierau war der Umbau des Schulhauses. Als er 1919 die Stelle übernahm, bot das 1866 gebaute Holzbohlenhaus manche Unbequemlichkeit. Die Schüler konnten den Klassenraum nur durch den Wohnflur betreten. Was dieser Umstand an Dreck und Lärm mit sich brachte, kann man sich vorstellen. Ferner bestand die Küche aus einem dunklen Mittelraum, etwa vier qm groß, ziegelgepflastert, unter einem offenen Rauchabzug. Der Feuerrauch wurde allerdings schon aus dem geschlossenen Herd in den Rauchfang über der Küche abgeleitet. Dieser Rauchfang war eine begehbare gemauerte Kammer, in der Würste und Schinken zum Räuchern aufgehängt werden konnten. Denn zur Lehrerstelle gehörte ursprünglich auch Schweinehaltung. Im Stallgebäude gab es Schweineboxen und einen Stand für zwei Kühe oder Pferde. Meine Eltern haben anfangs noch ein Schwein gefüttert und geschlachtet. Die Bauweise des Wohnhauses war ursprünglich in allen Bauernhäusern anzutreffen. Während die Bauern aber längst umgebaut und die Küche als Anbau nach außen verlegt hatten, war das Schulhaus so altertümlich verblieben. An ihm erklärt sich das Lied: "Hans saß im Schornstein und putzte seine Schuh". Auch das Dachgeschoß war schlecht genutzt, lediglich ein Giebel, der nach Süden, war zum Schlafzimmer ausgebaut, d. h. es gab kein Kinderschlafzimmer. Unten hatte das Haus zwei Wohnräume, nach üblicher Einteilung also ein Ess- und ein Herrenzimmer, oder Wohnstube und gute Stube. Der Klassenraum nahm die ganze Nordhälfte des Hauses ein. Er war durch den Eingangsflur, Küche und einen Wirtschaftsflur mit Treppen ins Obergeschoss und in den Keller akustisch vom Wohnteil abgetrennt.

Mein Vater drang nun darauf, nach Art der Bauernhäuser zu vergrößern: die Küche sollte als westlicher Anbau erstehen, womit auch ein Sondereingang zum Klassenraum gewonnen werden konnte. Die alte Küche und der Wirtschaftsflur sollten ein drittes Zimmer ergeben. Die Treppen mussten dann in den Vorderflur verlegt werden. Allerdings geriet die Tür zur Kellertreppe in das neue Zimmer, das für uns Jungen als Spielzimmer fungieren sollte. Es war auch als Essraum konzipiert, da es unmittelbaren Zugang zur Küche hatte. Über dieser neuen Anbauküche sollte das Kinderschlafzimmer entstehen. Nach schweren Kämpfen und viel Schreiberei einigten sich Senat und Gemeinde über die Finanzierung des eingereichten Kostenvoranschlages einer Platenhöfer Baufirma. Nur der letzte Punkt wurde gestrichen: die Kinder konnten unten schlafen!

Sorgenvolle Nächte haben meine Eltern gehabt, um das Projekt durchzubringen. Am dickfelligsten stellten sich die Bauern an: Was so lange ausgereicht hat, muss ausreichend gewesen sein, also reicht es auch weiter aus. Wenn sie gewusst hätten, so die Gemeinderäte, dass mein Vater Bauforderungen stellen würde, hätten sie ihn nicht gewählt. In Zukunft würden sie sich gegen solchen Übermut vertraglich absichern. Es gab aber auch Fürsprecher, die ein Einsehen hatten, und so kam die Finanzierung zustande. Nur eben den Küchentrakt sollte mein Vater im Dach selbst ausbauen. Er war in Holzarbeiten sehr geschickt, hatte schon eine Dienstmädchenkammer abgeschlagen und seine sämtlichen Bienenhäuser selbst gebaut. So bekamen wir Jungen also ein eigenes Schlafzimmer, nachdem wir vorher bei den Eltern je in einem Alkoven geschlafen hatten, die unter der Dachschräge Kleiderschränke gewesen waren.

In den Sommerferien 1929 sollte der Umbau von statten gehen. Wir machten unterdes unsere große Sommerreise nach Berlin, Flensburg, Helgoland und Hamburg. Bei der Rückkehr fanden wir den Bau ungefähr so, wie wir ihn verlassen hatten. Mit den Fertigstellungsterminen war es damals nicht anders als heute, wenn man sich nicht mit Konventionalstrafen absichert. Ausreden gibt es dann immer. Wir mussten also weiterhin sozusagen aus dem Koffer leben: auf der Leiter ins Bett und den Behelfsherd neben der Schlafkammer. Auch das Schulehalten machte bei dem Baulärm keinen Spaß. Zum Herbst aber war das Haus wieder bewohnbar, und nun war das Vergnügen doch ungeteilt: Die geräumige Küche ist ein Prunkstück gegen das alte Räucherloch, aus dem man in den Himmel sehen konnte. Die Treppe zum Boden ist gerade und breit, während die enge alte Wendeltreppe manchen Sturz verursacht hatte. Und am Abend konnten die Eltern in Ruhe mit Kopfhörern der Radiosendung lauschen, ohne vom Kinderlärm gestört zu werden. Auch wir Jungen fühlten uns im eigenen Spielzimmer nicht mehr so beaufsichtigt wie früher. Denn das Dienstmädchen, das bei uns Wäsche ausbesserte, störte uns nicht, war auch toleranter.

Trotz aller finanzieller Beschränktheit haben die Eltern immer eine Haushaltshilfe beschäftigen können, denn mein Vater erhielt zusätzlich zum Gehalt 30 Gulden monatlich für die Klassenreinigung, und genau diesen Betrag empfing das Dienstmädchen als Monatslohn in bar plus Verpflegung und Invalidenversicherung. Dafür leistete es besagte Klassenreinigung und -heizung, im Winter, sowie Haushalts- und Gartenarbeit. Trotzdem kamen die Mädchen gerne in einen Lehrerhaushalt, sie hatten es hier immer noch leichter als beim Bauern, wo Melken und im Sommer Erntearbeit verlangt wurden. Es wurde viel verlangt von einem Dienstmädchen, bei vergleichsweise geringer Entlohnung: Um 5:30 Uhr Aufstehen im Winter, da der Klassenraum um 8 Uhr warm sein muss. Der Kachelofen brauchte so lange, ehe er Wärme abgab, hielt dann aber bis zum Abend. Die beiden andern Öfen in der Wohnung wurden gleich mitgeheizt. Zum Frühstück war die Wohnung schön warm.

Auch das Heizmaterial war für uns sehr billig: Steinkohle für die Schulheizung war so reichlich bemessen, dass die Lehrerfamilie profitierte. Man musste aber die Kohlenblöcke, oberschlesische Rohkohle mit hohem Kalorienwert, erst mit einem schweren Hammer zerschlagen und dann ins Haus tragen. Auch das Holz zum Anheizen wurde in Kloben geliefert. Wir mussten also sägen und spalten. Eine Ziehsäge partnerschaftlich gut zu führen, will gelernt sein, ebenso das Schwingen von ‚Molotows‘, von Vorschlaghämmern. Die hießen damals zwar noch nicht so, die russische Bezeichnung passt aber lautmalend ausgezeichnet für dieses Instrument, das in der Schmiede immer der Lehrling handhaben musste, damit sich seine Muskeln bildeten. Der Meister hielt den kleinen Trennhammer auf das glühende Eisen, und der Lehrling bolzte drauf. Oft habe ich in unserer Schmiede zugesehen beim Bearbeiten der Hufeisen oder anderer Werkstücke. Wehe, wenn der Lehrling nicht traf: die Flüche von Meister oder Gesellen sind nicht wiederzugeben. Es soll auch geschlagen worden sein, allerdings nicht vor Zeugen. Vor gerichtlicher Verfolgung brauchte sich aber kein Lehrherr zu fürchten, außer bei weitergehenden Misshandlungen. 'Gelobt sei, was hart macht' war nicht nur ein Slogan nationalsozialistischer Erziehung, sondern allgemeine Überzeugung. Auch in der Schule war der Rohrstock die ultima ratio der pädagogischen Künste.

In der einklassigen Volksschule wurde gruppenweise unterrichtet, d. h. dass eine oder zwei Gruppen sich selbst still beschäftigen müssen, damit der Lehrer mit der dritten neuen Stoff durcharbeiten kann. Strengstes Redeverbot ist dann erste Schülerpflicht. Wenn Verwarnungen nichts nützten, trat eben der Stock in Aktion, auch bei Mädchen. Diese wurden auf die flach hingestreckte Hand geschlagen, die älteren Jungen auch. Jüngere Knaben erhielten die Schläge auf die Sitzpartie. Am schlimmsten war, dass der zu Bestrafende sich nach der Stunde ‚melden‘ musste, weil der Lehrer sich in der Arbeit nicht unterbrechen wollte. Man saß dann die ganze lange Zeit und wartete auf die Tortur. Manche Jungen waren aber auch so heldenhaft oder hart im Nehmen, dass sie sich nichts anmerken ließen .... .

Von Herrn Bäßler von der Realschule aus Neuteich erfuhren wir, dass wir Preußen seien. Das hatten wir bis dahin noch nicht gewusst. Wir hatten uns immer für Deutsche gehalten. Es war dies meine erste Begegnung mit dem Föderalismus.

Im Jahre 1930 kam eine große Zahl süddeutscher Studienräte nach Danzig, weil es im Reich nur geringe Anstellungsmöglichkeiten gab. Dr. Zehrer war ebenfalls Bayer, Dr. Metzger Hesse. In Tiegenhof lehrten die Bayern Dr. Badewitz und Schlicht. Natürlich mussten wir auch bayrisch lernen: Es heiße nicht Oobst, sondern Oppst! Werde das Wort vielleicht mit Dehnungs-h geschrieben? lautete die Begründung. Und ‚Rotkohl‘ zu sagen, sei ja nun ganz unsinnig. Sei das Kraut vielleicht rot? Nein, also ‚Blaukraut‘!

Übrigens lobte Herr Bäßler das Blaukraut, wie meine Mutter ihn, nein es, zubereitete, aufs höchste: Äpfel, Gänseschmalz, Schweineschwarten mitgekocht, lautete das Rezept. "Siehst du, so musst du Theres' Weisung gebn, dass sie kochen soll", bedeutete er seiner Frau. Therese war die Wirtschafterin, aus Bayern mitgebracht, wohl aus Angst, im preußischen Norden gastronomisch geschädigt zu werden. Frau Bäßler war Schlesierin. Sie wirtschaftete überhaupt nicht, war ausgebildete Lehrerin, aber in Neuteich ohne Anstellung. Sie gab zu, von der Hauswirtschaft rein gar nichts zu verstehen. Frau Raddach, eine andere Kollegenfrau, befand sich in gleicher Situation.

Dr. Metzger von der Realschule in Neuteich gab Deutsch, ein Fach, das mir von Haus aus nicht schwer fiel. Mit Begeisterung hatte ich schon in der Grundschule meine Tafel vollgeschrieben, dann im Heft die Sütterlinschrift gelernt, zusammen mit meinem Freund Egon Harder. Ich schrieb fehlerlos, las fließend und wunderte mich sehr über einige Sextaner, die silbisch-buchstabierend lasen. Dr. Metzger hatte mit mir also keine Mühe, war aber äußerst genau. Einmal hatte ich in einem Diktat einen U-Bogen vergessen. Note: 1? Ein anderes Mal zog ich die vor mir sitzende Lore Toews am Zopf. Eine Backpfeife war die Quittung.

Dr. Bäßler verriet uns augenzwinkernd, dass die Hessen bei den übrigen Deutschen einen Spitznamen hätten: ‚blinde Hessen‘ auf Grund eines lange zurückliegenden geschichtlichen Ereignisses. "Aber sagt nicht, dass ihr das von mir habt!" Der fränkische Bayer pflegte bei sich also Stammesrivalitäten. Uns Schüler hat das wenig interessiert.

Aber wo Kassel liegt, das hatten wir zu wissen, und ich bekam nur eine Drei im Zeugnis, als ich nicht wusste, wo auf der Karte ich suchen sollte. Ich hielt das für sehr ungerecht, denn einmal erfährt man jedes Faktum zum ersten Mal, und Kassel lag hunderte Kilometer weit weg von Neuteich.

Dr. Zehrer gab Französisch. Er sah aus wie Papa Fittig in ‚Plisch und Plum‘ von Wilhelm Busch. Er strengte sich sehr an mit seinem Unterricht und ging, wenn er Aufsicht hatte, griechisch lernend im Schulflur auf und ab. Er hatte die Angewohnheit, die rechte Hand bei nach unten gestrecktem Arm in den Ärmel zurückzuwerfen, als hätte diese Hand die Absicht gehabt, sich selbständig zu machen. Es muss dies ein Zeichen von Nervosität gewesen sein, die ihn früh befallen hat.

Alle drei reichsdeutschen Lehrer waren noch jung, höchstens 35 Jahre alt. In der Mentalität näher standen mir und wohl auch den Mitschülern die eingesessenen Lehrkräfte: der Schulleiter Dr. Knutowski, Fräulein Toews, eine Tante der oben erwähnten Lore Toews, und Heinrich Lettau, Oberschullehrer für Musik. Dessen Stunden waren besonders gemütvoll, da wir nur gemeinsam Lieder sangen: ‚Ein getreues Herze wissen‘ war genau das richtige für aufkeimende Sympathiegefühle einer schönen Mitschülerin gegenüber, die es aus Insterburg nach Neuteich verschlagen hatte.

G. H. hieß das beeindruckende Mädchen mit langen braunen Zöpfen und einem leicht lispelnden Zungenschlag. Sie war die erste, die mich in Unruhe versetzt hat - andere Jungen übrigens auch - und da ich der Jüngste in der Klasse war und im ganzen wenig nach Jungenmanier hervortrat, hatte ich keine Chancen und hielt mich fein zurück, beobachtete aber umso schärfer, was sich um die Angebetete herum tat. Das war nicht wenig, und der Schülerklatsch vermehrte dies noch. In einer Musikstunde wurden Spottverse gesungen:

In dem wilden Kriegestanze
schlug ein Ochse mit dem Schwanze
einer Dame ins Gesicht.

Herr Lettau tat mit, ohne zu wissen, dass Eingeweihte damit jemand meinten, der bei dem Mädchen abgeblitzt war. Selbiger stierte wütend vor sich hin, heulte los, packte seinen Ranzen und rannte aus dem Klassenraum. G.B. war sichtbares Opfer einer gezielten Indiskretion geworden. So wüteten die Leidenschaften schon in Sextanerseelen. Heinrich Lettau ließ das hingehen, klopfte mit dem Geigenbogen auf den Boden seines Instruments an die sichtbar abgenutzte Stelle, damit wieder Ruhe einkehre, und begleitete das nächste Lied: Prinz Eugen, der edle Ritter, nach dessen Melodie übrigens die Spottverse gesungen worden waren.

Die Geige war auf der Decke zwischen Griffbrett und Steg dick mit Kolophoniumstaub belegt. Der sei für ihn Beweis reger musikalischer Betätigung, eine Art Trophäe, und ehrenhalber putzte er ihn nie weg. Ich nahm das gläubig hin und erkannte erst später die Marotte an solchem Verhalten. Wir kamen mit Herrn Lettau gut aus, und ich habe ihn nur einmal böse gesehen: da hatte sich doch jemand erdreistet, in seiner Mathematikstunde - er gab auch dieses Fach - allerdings nur bis zur Quarta, eine Apfelsine zu schälen in der Absicht, sie auch zu verzehren, natürlich mit Einbeziehung der nächstsitzenden Mitschüler und -schülerinnen. Die Unruhe wurde dadurch zu groß, und Herr Lettau schritt ein, indem er das störende Objekt samt Messer und Papiertüte einzog. Bei seiner folgenden lautstarken Ermahnung stellte sich aber heraus, dass er nicht etwa durch den Faktor ‚Störung des Unterrichts‘ zum Eingreifen motiviert worden war, sondern durch die Apfelsine: "Esst die schönen deutschen Äpfel! Apfelsinenkauf belastet unsere deutsche Volkswirtschaft; unser gutes Geld geht ins Ausland und fehlt unseren Obstbauern. Mit unseren Devisen müssen wir wichtigere Sachen kaufen, z. B. Viehfutter, damit wir uns ernähren können mit Fleisch, Milch und Butter. Jeder Apfelsinen- und Bananenkauf nimmt also einer Familie etwas von ihrem Lebensunterhalt!" Das war Nationalökonomie im Jahre 1931. Die konfiszierte Apfelsine gab er zum Ferienbeginn zurück. Sie war frisch wie bei der Beschlagnahme. Er musste sie also gegen eine neu gekaufte umgetauscht haben.

Heinrich Lettau hat sich als Heimathistoriker Verdienste erworben: er gab 1929 eine Geschichte der Stadt Neuteich heraus. „Di stat czum Nuwentiche". Ich besaß es damals und habe mir jetzt den Nachdruck besorgen können. Der geschichtliche Teil befasst sich mit der Gründung der Stadt und der umliegenden Dörfer, darunter Mierau im Jahre 1318 durch den Hochmeister Werner von Orseln. Fräulein Gertrud Wilda, unsere Zeichenlehrerin, versah das Buch mit Linolschnitten. Leider war sie als Lehrerin der Rasselbande gegenüber machtlos, in der Klasse ging es drunter und drüber. Sie lehrte auch Biologie. Wir sollten als Hausarbeit Kartoffelmehl produzieren. Sie gab Anweisungen: "Aber holt euch nicht welches vom Kaufmann!" So ungeschickt darf ein Lehrer nicht sein. Zu Anfang der nächsten Stunde läuft der größte Frechdachs der Klasse, Klaus Zielinski, Sohn des praktischen Arztes, mit offener Tüte nach vorn: „Frl. Wilda, vom Kaufmann!" und präsentiert sein Kartoffelmehl. Sie schlägt zu, trifft aber die Luft. Klaus war weggeduckt und lief zurück.

Zum Zeichnen und Malen mussten wir uns Holzkohle, einen Kasten mit Wasserfarben, und graues Zeichenpapier besorgen. Ich hatte gegen alles einen Widerwillen: Die Kohle kratzte auf dem Papier, dass ich zusammenschauerte, die Farben verliefen, und das Papier war mir zu unansehnlich. Weiß hätte es sein müssen, Bleistifte wünschte ich zum Zeichnen und Deckfarben zum Malen. Unter diesen Umständen konnte ich den Zeichenstunden keine Reize abgewinnen. Eine Aufgabe lautete: Ritterburg. Ich malte eine Mauer mit Zinnen und rechts einen Turm in Frontansicht mit Tor. Darüber plakatierte ich einen lila Himmel, einfarbig. Frl. Wilda verwarf das Produkt: phantasielos, einen lila Himmel gibt es nicht: fünf! Mich störte das wenig, hatte ich doch zu Hause erfahren, dass ich im Zeichnen nichts zu leisten brauche, in der Familie' könne niemand zeichnen, das sei nicht wichtig. Dabei konnte mein Vater ganz gut zeichnen, er unterrichtete in seiner Volksschule ja selbst auch das Fach. Abzeichnen von Gegenständen war üblich: Äpfel, Flaschen, Gläser etc. Mich hat das Vorurteil, zeichnen sei nicht wichtig, die ganze Schulzeit über begleitet.

Umso mehr warf ich mich auf Musik. Seit dem sechsten Lebensjahr hatte ich bei meiner Mutter Klavierunterricht nach der Klavierschule von Damm. Erst mit zehn Jahren nahm sich eine ausgebildete Klavierlehrerin in Neuteich, Frl. Claaßen, meiner an. In dem Kreis ihrer Schüler galt ich bald als der beste - und hatte immer noch nichts von den Sonaten der Klassiker gehört. Es war ein Jammer. Erst in Tiegenhof ließ Herr Spode, der auch die Oberschule in Musik betreute, mich die höheren Weihen des Klavierspiels ahnen. Da waren aber entscheidende Jahre schon vertan. Zudem sollte ich auch noch Geige spielen lernen, da ein Lehrer immer auch Geige spielen müsse, wie mein Vater meinte.

Denn Lehrer wollte ich werden, wenn auch nicht Volksschullehrer. Für die Geige war ich vom Körperbau her zu wenig locker. In Danzig bei dem Konzertmeister Max Dowideit wurde dies offensichtlich. Zudem ließ der neue Lehrer mich wochenlang immer nur die leere A-Saite streichen, was mir keinen Spaß machte. Mein bisheriger Lehrer müsse aufgehängt werden. So und ähnlich wetterte er in jeder Stunde. Der Unterricht war eine einzige Katastrophe.

Auf dem Klavier blieb ich mangels Weiterbildung ein Dilettant. Aber ich bildete mich selbst auf einem Akkordeon in Tanzmusik aus. Damit hatte ich viele schöne Stunden. Modulationen in der damaligen Schlagerliteratur - meistens war es Filmmusik der Zarah-Leander-Filme - machten mir riesigen Spaß, und ich stand bei Tanzabenden und Schulfesten manchmal sogar fast im Mittelpunkt des Interesses. Das war eine völlig neue Erfahrung für mich, und das Spielen hat mir deshalb oft mehr Freude gemacht als das Tanzen, obwohl auch dies nicht zu kurz kam. Man war nämlich auch schon richtig verliebt.

Im Sommer 1933 musste ich die Schule wechseln, da Neuteich kein Abitur anbot und ich auch Latein lernen sollte als Voraussetzung für ein Universitätsstudium. Zunächst wurde eine Lösung mit Privatlehrer versucht. Die Kosten aber störten zu sehr, ein Schulgeld von 25 Gulden monatlich plus Lernmaterial belastete zur Genüge. Also wurde ich nach Tiegenhof umgeschult, mit schönen Grüßen von Dr. Bäßler an den Kollegen Badewitz, die ich auch gleich ausrichtete.
Damit sei von Mierau und der Kindheit Abschied genommen. Die Erinnerung bleibt bestehen, sie konnte mir auch durch einen Besuch in den 1970er Jahren, der die ganze Trostlosigkeit unter polnischer Herrschaft offenbarte, nicht genommen werden.

Hans-Joachim Stahnke

sarpei
08.03.2019, 16:49
Erinnerungen an Mierau
von Wally Ludwig
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Mein Besuch in meinem Geburtsort Mierau nach 50 Jahren der Abwesenheit hat gezeigt, dass bei näherem Nachdenken doch einige Geschichten und Anekdoten von damals wieder ins Gedächtnis zurückgekehrt sind.

Ich bin an der Schwente groß geworden. Was war das für uns Kinder für ein Fluss! Wir haben darinnen gebadet, es wurden dort Fische aller Art gefangen, hier wurde von Neuteich nach Tiege auf Kähnen - es konnten sogar zwei Boote aneinander vorbei gezogen werden -landwirtschaftliche Güter und manch andere Handelsware transportiert und getreidelt. An unserer Mühle machten die Schiffer häufig Rast und erfrischten sich oder kauften Eier, Käse, Milch, Obst und Kleinvieh.

Auf unserer Fahrt durch Neuteich fiel mir schon der ‚Teich‘ auf, den ich von der Brücke aus sehen konnte, es war der damals für mich stattliche Hafen! Verkrautet und zugewachsen! Von meinem Flüsschen Schwente war nicht viel zu sehen. Da wir nicht von Mierau aus zu Fuß an die Schwente kamen, fuhren wir weiter zur Brückstelle, zwischen Ladekopp und Marienau. Es muss schon immer einen Kopfsteinpflasterweg zwischen den beiden Orten gegeben haben, denn das Auto bekam ihn zu spüren. Eine feste Betonbrücke, wie sie heute über den Fluss führt, gab es damals nicht. Die Kreuzung Fluss/Straße regelte eine Zugbrücke, wie sie heute noch hin und wieder im Großen Werder anzutreffen ist. Gewohnt hat dort früher die Familie Fischer. Noch heute steht dort ein Haus mit etwas Landwirtschaft drum herum. Aber meine Schwente von damals ist nicht mehr. Träge, mit Algen ganz bedeckt, verkrautet und zu einem schmalen Flüsschen ist sie geworden. Bald sind die, noch ihre goldenen Zeiten miterlebten, auch nicht mehr.

Beim Blick über das Brückengeländer auf eine kleine freie Wasserfläche, die sich Kinder zum Angeln freigezogen hatten, fiel mir die in der Schule und aus den früheren ‚Hilf mit‘ Monatsheften noch behaltene Geschichte der

‚Schwenten-Sage‘

wieder ein.

Hiermit möchte ich erzählen, wie die Schwente (am oberen Wasserlauf auch Tiege genannt) zu ihrem Namen kam:


Vor urlanger Zeit war das große Werder ein ertragreiches Land. Es gab dort reiche Fürsten und Grafen. unter ihnen war ein Fürst, dessen tugendhafte Tochter den Namen Tiega oder Swenta hatte. Es war ein sehr schönes und ebenso tüchtiges Mädchen. Viele Männer ihres Standes hätten sie gerne zur Ehefrau gehabt.

Vor allem aber ihr Nachbar Haffo, ein wüster, räuberischer Riese hatte um Tiega geworben. Ihr Vater aber hatte dem Haffo die Hand seiner Tochter wegen eben dieser Untugenden verweigert. Haffo sann deshalb darauf, wie er mit Gewalt die edle Jungfrau trotzdem in sein Haus führen könnte.

So war Tiega eines Tages mit einem Tonkrug auf der Schulter an einen kleinen See gegangen, um dort Wasser zu schöpfen. Mit dem gefüllten Krug schritt sie heimwärts. Da sah sie von weitem, wie der grimmige Haffo ihr den Weg zu Vaters Burg versperrte. Erschrocken wandte sie sich zurück und eilte, bald die Schritte des Bösewichts hinter sich hörend, mal nach rechts und mal links ausweichend, im schnellen Lauf davon. Aus dem schweren Krug, den sie von der Schulter genommen hatte, floss reichlich das Wasser. Immer näher kam ihr Verfolger. Nun stand Tiega plötzlich vor einem großen Wasser. Sie stürzte sich mutig in die Fluten! In blinder Gier sprang Haffo ihr nach! Aber die Wellen schlugen über seinem schweren Körper zusammen und zogen ihn hinab!

Unweit von dieser Stelle war ein Fischer dabei, seine Reusen auszulegen. Er sah das verängstigte Mädchen und zog es in seinen Kahn. Vorsichtig ruderte er ans Ufer und geleitete die liebliche Jungfrau heim zur Burg.

Als der Fischer zu seinem Kahn zurückkehrte, rieselte das vergossene Wasser, welches Tiega bei ihrer Flucht aus dem Tonkrug vergossen hatte, als kleines Flüsschen daher.

Zum Gedächtnis an das tugendhafte Fürstenkind wurde dieser Wasserlauf Tiege oder Schwente genannt! Das große Wasser, das dem Riesen Haffo zum Verderben wurde und verschlang, heißt heute noch das Haff!


Ein schönes Märchen, das früher zu meiner Schwente sehr gut passte, aber heute?

sarpei
09.03.2019, 13:02
Erinnerungen an unser Dorf Mierau
Erinnerungen im Jahre 1996 von Frieda Marschatz geb. Kirsch
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Angeregt durch die Berichte und Erinnerungen im Neuteich-Brief Dezember 1995

o Seiten 29 - 39 'Nach 50 Jahren wieder ins Heimatdorf MIERAU', von Wally Ludwig aus dem Schwentenfeld, und

o Seite 40: 'Spontane Erinnerungen an ihre Heimat Mierau' von Frieda Langmaack, geb. Bleschick

schrieb Frau Frieda Marschatz, geb. Kirsch am 20.Februar 1996:

"Als gebürtige Mierauerin möchte ich zur Erinnerung an unser Dorf einen kleinen Beitrag leisten. Aus dem Gedächtnis habe ich einen Lageplan der Häuser in Mierau gezeichnet und die Eigentümer und - soweit bekannt - auch die Mieter angegeben.

Dem Bericht von Wally Ludwig möchte ich noch etwas hinzufügen:

1) In der Scheune des Rentierhauses befanden sich eine Leichenkammer und auch das Spritzenhaus. Die Feuerspritze wurde von zwei Pferden gezogen. Die Bauern waren verpflichtet, bei einem Brand die Pferde zur Verfügung zu stellen.

2) Die Käserei wurde in den 1930er Jahren geschlossen. Die Milch wurde per Pferdefuhrwerk in die Käserei nach Ladekopp geliefert. Der Käsekeller wurde umfunktioniert zum Dorfgemeinschaftsraum. In ihm fanden die Feiern zum 1. Mai und zum Erntedankfest statt. Während des Krieges waren in diesen Räumen englische Kriegsgefangene, die bei den Bauern arbeiten mussten, untergebracht.

In der Hoffnung, dass noch viele Mierauer aus der Vergangenheit noch etwas zu berichten haben, verbleibe ich Ihre und Eure Frieda (Friedchen) Kirsch."

sarpei
09.03.2019, 14:30
Mierau - Lageplan der Häuser und Angabe der Namen
aus dem Gedächtnis aufgezeichnet von Frieda Marschatz geb. Kirsch
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23856

1 - Driedger (Birchert, Prohl?)
2 - Karnath (Worrach)
3 - Schroedter (Schulz, Krause?)
4 - Gemeinde (?)
5 - Otto Worrach
6 - Gemeinde (?)
7 - Pölk
8 - Bergtholdt (Blesching?)
9 - Krüger (Bleschick?)
10 - Gemeinde (Laschewski, Blesching, Hinzmann, Tetzlaff, Sommer, Gelewski)
11 - Scheune, Gemeinde
12 - Leichenkammer, Gemeinde
13 - Spritzenhaus, Gemeinde
14 - Kirsch
15 - Wiens (Kock, BIesching)
16 - Schule
17 - Toiletten für Schule und Stall
18 - Scharping
19 - Schroedter (Schlott, Schulz, Kock, Blesching, Wilms)
20 - Käserei, gestrichelter Teil später Dorfgemeinschaflsraum, dann Unterkunft für englische Kriegsgefangene (Kock, Schlott, Schmidt)
21 - Gutowski Kolonialwarenhandlung
22 - Schroedter (früher van Riesen) (Grabowski, Oehlert)
23 - Schroedter (Scheune)
24 - Werkstatt
22 - 24 früher van Riesen
25 - Gutowski (Schmiede)
26 - Wiebe (Janzen, Zerfowski)
27 - Reimer (Wasilewski?)
28 - Janzen
29 - Vesper
30 - Harder (Schulz, Harnarth)
31 - Schroedter (Polnische Saisonarbeiter)

A - Regiers Teich
B - Riesens Teich
C - Reimers Teich
D - Harders Teich


Angegeben sind die Eigentümer der Häuser; in Klammern die Mieter (1942/43)


Frieda Marschatz geb. Kirsch

MeinEichwalde
10.03.2019, 13:48
Liebe Abschreiber (?),
vielen Dank !! Ich finde, es wird immer gesagt, dass unsere Zeitzeugen sterben. Ja, dass ist wahr, aber wer so schreibt, bleibt in Ewigkeit in Erinnerung und rührt zu Tränen und regt weitere Erinnerungen an zu einem Werk der Trauer. aber auch de Genugtuung, dass das Schreiben und Veröffentlichen ( in den Neuteich Briefen) möglich war.
Liebe Grüße Eure Delia

sarpei
10.03.2019, 19:22
Mierau - Volksschule 1933 - 1.-8. Schuljahr
Bild und alle Namen von Herbert Hinzmann
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23858

obere Reihe - von links nach rechts:
Alfred Schlott, Bruno Hinzmann, Bruno Schmidt, Paul Janzen, Ernst Vesper, Hans Grabowski, Helmut Laschewski, Willi Janzen, Franz Grabowski

2. Reihe von oben - von links nach rechts:
Erna Tetzlaff, Lotte Oehlert, Lisbeth Birchert, Friedel Worrach, Wally Ludwig, Lehrer Stahnke, Erna Behrendt, Else Tetzlaff, Grete Bleschik, Elisabeth Berchtold, Ursula Wiebe, Anna Bleschik, Hilde Regier, Herta Lau, Gustav Behrend, Walter Janzen, Martin Pelk

3. Reihe von oben - von links nach rechts
Gustav Birchert, Willi Tetzlaff, ? Janzen, Erich Wilm, Hans Blesching, Walter Blesching, Willi Jelewski, Hans W. Wiebe, Joachim Stahnke, Bruno Bleschik, Erich Kock, Paul Schulz, Herbert Janzen, Herbert Krause, Paul Laschewski

2. Reihe von unten - von links nach rechts
Frieda Kirsch, Gertrud Kock, Elisabeth Krause, Hedwig Hinzmann, Meta Behrend, Herta Funk, Frieda Bleschik, Annemarie Tetzlaff, Chr. Sommer, ? Janzen, Bruno Pelk, Franz Laschewski, Ernst Bleschik, Kurt Kock, Reinhard Wiens

letzte Reihe - von links nach rechts
Hans Meller, Ernst Krause,? Janzen, Hans Schulz



Quelle: Neuteich-Brief Dezember 1995, Seite 34

sarpei
10.03.2019, 19:25
Mierau - Volksschule 1936 - 1.-8. Schuljahr
Bild und alle Namen von Herbert Hinzmann
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23859

obere Reihe - von links nach rechts:
Ernst Bleschik, ? Janzen, Franz Laschewski, Kurt Kock, Erich Wilm, Reinhard Wiens, Erich Janzen, Fritz Hinzmann, Bruno Pelk , ? Janzen , Herbert Kock

2. Reihe von oben - von links nach rechts:
Friedel Worrach, Hans MeIler, Meta Behrend, Elisabeth Krause, Erna Tetzlaff, Lisbeth Birchart, Lotte Oehlert, Hedwig Hinzmann, Wally Ludwig , Lehrer Wendler

3. Reihe von oben - von links nach rechts:
Ernst Krause , Hans Schulz , H. W. Wiebe , Hans Funk, Erich Kock, Paul Schulz , Walter Blesching, Bruno Bleschik, Hans Blesching, Herbert Hinzmann

letzte Reihe - von links nach rechts:
Gertrud Kock, Edith Laschewski, Frieda Kirsch , Herta Blesching, Hildegard Blesching, Erika Zervowski, Herta Funk, Frieda Bleschik


Quelle: Neuteich-Brief Dezember 1995, Seite 36

sarpei
10.03.2019, 19:28
Mierau - Volksschule 1938 - 1.-8. Schuljahr
Bild und Namen - soweit bekannt - von Herbert Hinzmann
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23860

1. Reihe von oben - von links nach rechts:
Herbert Hinzmann, Herbert Janzen, Hans Schulz, Erich Kock, Hans Funk, Erich Wilm, Ernst Krause, H. W. Wiebe. Hans Blesching

2. Reihe von oben - von links nach rechts
Bruno Bleschik, Peter Wiens, Herbert Kock, Heinz Blesching, A. Meller, H. O. Wiebe, Walter Blesching, Kurt Wilm, Paul Schulz, Herbert Krause, Lehrer Wendler

mittlere Reihe:
Herbert Schlott, Kurt Schlott, Heinz Schlott, Heinz Zervowski, Frieda Kirsch, Dora Krause, Heinz Blesching, Wilfried Keßling, Wemer Tetzlaff, ?, ?, ?, Ursula Schlott, Heinz Sommer, Arthur Hinzmann

letzte Reihe:
Ella Gelewski, Grete Schulz, Waltraud Sommer, Hildegard Wilm, Edith Laschewski, Dora Laschewski, Hildegard Blesching, Gertrud Huttmann, Gertrud Bleschik, Erika Zervowski, Herta
Funk


Quelle: Neuteich-Brief Dezember 1995, Seite 37