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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Einst lebte ein Volk an der Weichsel



waldkind
12.03.2023, 13:04
Liebe Forumer,

auf einem "Schmierpapier" fand ich gestern dieses Gedicht Marke Eigenbau. Will nicht wissen, wie viele gute Dinge wegen Zeitmangel verloren gingen. Dieses hier will ich Euch zum Besten geben, bevor es frech verlustig geht. So weit ich mich daran erinnere wollte ich mal ein deutsches Versformat ausprobieren. Habe eine Weile drüber nachdenken müssen und ich finde, es ist richtig gut bis auf ein paar Stellen, die ich hätte besser machen können. Aber die gibt es ja immer. Ich hoffe, dem einen oder anderen sagt es etwas. Euch allen einen schönen Sonntag.

Einst lebte ein Volk an der Weichsel

Einst lebte ein Volk an der Weichsel,
das fischte die Fische, das barg den Bernstein,
das sammelte die Lieder der Alten und Ahnen.
Von seinen Lippen kam Wissen und Wort.

In Wald und Wiesen Herden und Hirten,
auf Flur und Felder Müller und Mühlen,
Bauern banden Gerste und Garben.
Vom Rate sprach man Ruhe und Recht.

Schuten und Schiffe, Handel am Hafen.
Stapel und Stände, Krüge und Körbe,
Gemüse, Gewebe, Gequassel der Frauen.
Marktplatz und Laden voll Handwerk und Höker.

Kirche und Küche, heilig wie Himmel.
Früh freiten Jungmann und Jungfrau,
gelobten Treue sich unter Kirchengeläut.
Kirche und Küche, Wiege der Kinder.

Die Mauern aber hielten nicht Helm und Heer.
Die Stadt brach ihr Dach im Dunst des Krieges.
Das furchtlose Volk geflohen, vertrieben.
Verlassen Haus, Hof, Heimat und Habe.

Nicht Ziu, nicht Pekun hielten das Band.
Verloren die Mundart, verworfen das Volk,
verworren das Erbe der Eltern und Älteren.
Ihr Wahlspruch aber blieb verschont:

„Weder unbesonnen noch furchtsam“,
so flüstern Ostseewinde und Mottlauwoge,
so wispern Danzigs Wände und Kieferwipfel,
so pocht das Herz und regt sich das Gewissen.

Inge-Gisela
12.03.2023, 20:04
Liebes Waldkind,

man fragt sich doch wieder, was bleibt erhalten in heutiger Zeit. Allein, wie heute unsere Sprache verschandelt wird. Bestimmte Bücher sollen nicht mehr gelesen werden. In welcher Zeit leben wir denn? Man kann heute doch nur noch verständnislos den Kopf schütteln, vorsichtig ausgedrückt. Mir gefällt Dein Gedicht. Wenn man sich mit Ahnenforschung und der Geschichte befasst, kommt einem durch das Gedicht Vieles nicht fremd vor.

Lieben Gruß

Inge-Gisela

waldkind
12.03.2023, 20:28
Liebe Inge-Gisela,

genau das war die Überlegung als ich es schrieb, was bleibt eigentlich erhalten von dem so großen und wunderbaren Schatz? So ziemlich alles ist dahin. Und trotzdem, es kann ja nicht alles verloren sein! Was ist der Kern? Es kann nur etwas in der Mentalität sein und das wird weiter gegeben. Mein Gedicht ist auch so was wie ein Erbe, ein Erbe in zwei Richtungen an die Nachwelt und ein Geschenk an die Vorwelt. Ohne das, was vor uns war, sind wir nicht das, was wir sind. Ob die Nachwelt es versteht, sei mal dahingestellt ;-) Aber mentale Erben sind sie so oder so, ob sie es wissen oder nicht. Die Altvorderen verstehen dieses Gedicht, da bin ich mir ganz sicher. Mein Dankeschön für die gemeinsame Zeit :-) LG vom waldkind

Belcanto
13.03.2023, 17:46
Das Gedicht finde ich ohne weiteres in Ordnung. Ein deutsches Vermaß kenne ich nur als "Vagantenzeile". Aber ich habe natürlich keine Ahnung. Vielleicht sollte man Herrn Jeske fragen.

waldkind
13.03.2023, 20:49
Lieber Belcanto,

ich wollte kein vorgeformtes Versmaß füllen. Vielmehr wollte ich selbständig die Mentalität der frühen Mittelalterdichterey fortentwickeln nach dem Motte "Was hätte herauskommen können, wenn sich die Deutschen in ihrer eigenen Dichterey treu geblieben wären. Merkmale dieser Dichterey habe ich in diesem Gedicht etwas an die Spitze getrieben. Das ist vor allem die Alliteration, das Tautogramm und das Hendiadyoin. Der Fokus liegt also nicht auf einen Endreim, sondern darauf wie die einzelnen Wörtern zueinander stehen und was sie im Zusammenspiel aussagen. So zum Beispiel "Handel und Höker". Wenn man nur diesen einen Satz auf sich wirken lässt "Verlassen Haus, Hof, Heimat und Habe." dann sagt der schon alles aus, was in den ganzen Strophen insgesamt steckt, nämlich "alles ist verloren".

Der Rhythmus wird nur in einem Satz unterbrochen, nämlich bei "Weder unbesonnen, noch furchtsam". Und da, so finde ich, passt es stilistisch perfekt, weil es definitiv an dieser Stelle im Gedicht den inhaltlichen Umbruch gibt.

Ja, ja, da habe ich mir schon ganz schön viele Gedanken gemacht und bin richtig stolz auf meine Zeilen, die meisterhafte Frucht Jahrzehnte langer Übung :)

Jedenfalls habe ich die deutsche Sprache und ihre ursprüngliche Mentalität mit dieser "Übung" um einiges mehr zu schätzen gelernt. Abgesehen von der Form, enthält dieses Gedicht die Quintessenz dessen, was ich in zehn Jahren über Danzig und von Danzigern emotional erfahren habe. Es ist also, wie immer, UNSER ALLER Gedicht. Schön, dass auch Dir das Gedicht gefällt. LG waldkind

Christkind
13.03.2023, 22:41
Ich lese mir das Gedicht immer wieder durch und sinniere, ob ich mich darin wiederfinde. Das Volk an der Weichsel. Es ist nicht mehr. Ich bin noch. Habe ich mich einem anderen Volk angeschlossen? Untergeordnet? Ich fühle noch so wie das Volk an der Weichsel. Weit weg und doch nah. Unter Menschen und doch allein.-
Danke für das Gedicht, Waldkind. Ein Wort aber stört mich, es klingt so hart: Gequassel.....
Schöne Grüße, Christa

Belcanto
14.03.2023, 09:08
Das ist völlig in Ordnung. Ich finde es gut, wenn sich jemand mit Gedichten und Lyrik beschäftigt. Du hast selbst geschrieben, dass du eine deutsches Versformat ausprobieren willst.

waldkind
14.03.2023, 12:48
Für diejenigen, die sich für die Versform interessieren, sei gesagt, dass es sich um den frühdeutschen Stabreim handelt. Es ist genial wie viel Freiheiten und Möglichkeiten diese Form bietet. So kann man einzelne Strophen gegeneinander austauschen oder einfach weglassen. Genau genommen würde die erste und die letzte Strophe zusammen schon ein Gedicht ergeben ohne die ganzen anderen Strophen. Oder dass man einzelne Wörter strophenübergreifend miteinander in Beziehung setzen kann. Lies es mal, wie genial es ist:
"vertrieben-verlassen-verloren-verworfen-verworren-verschont" wie alles-umfassend das ist!

Liebe Christa
so ist es gemeint. Mag sein, dass ich in diesem Gedicht nur nach einem Strohhalm greife. Aber letzten Endes haben die Nachkommen die Möglichkeit irgendetwas zu erhalten, vielleicht auch etwas, das man weitergeben kann? "Nicht unbesonnen noch furchtsam" ist zumindest eine Option, die man umzusetzen versuchen kann. Und die einen dann zumindest noch mit den Altvorderen verbindet. Ist es nicht auch so, dass die Nachwelt im Regelfall irgendetwas tut aus Respekt vor der Vorwelt? Aber im Grunde verstehe ich dich voll und ganz!

Über das Wort "Gequassel" habe ich viele Stunden nachgedacht, ob ich es nehmen kann. Aber ganz zuletzt habe ich das leise Summen der "Quaseleien" am Hafen auf mich wirken lassen. Ist das nicht ein heimischer, wärmender, wiegender Ton? Im Übrigen ist das ein aussterbender Begriff "die Quaselei". Ich finde das Wort schön, denke aber gerne noch einmal darüber nach.

Im Übrigen habe ich ohnehin schon ein paar Korrekturen durchgeführt. Weil es noch nicht ganz überarbeitet war, war es wohl in einer Ecke versunken. Nun will ich ihm das rechte Leben einhauchen. LG waldkind