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Gerhard Jeske
24.11.2024, 12:39
Gerhard Jeske 22547 Hamburg copyright.

Ein Tag im November 1944 in Danzig

Dieser Sonnabend im November begann wie üblich. Gegen sieben Uhr klingelte der Wecker. Raus aus den Federn, schnelle Katzenwäsche. Rein in die Klamotten und die beiden Stullen runtergemuffelt. Die Brotscheiben waren dünn bestrichen mit Margarine, Vierfruchtmarmelade und Kunsthonig. Aus der Ofenröhre holte Gerds Mutter den Muckefuck, gewürzt mit Zichorie, sie goß den Malzkaffee in die braune Tontasse ein und bevor sie die Tasse auf den Tisch stellte, ermahnte sie ihn langsam zu essen. " Ja, ;a. entgegnete er. "Zweiundreißigmal kauen hilft die Speise besser zu verdauen." Wo hast Du den Spruch aufgeschnappt?" im KLV-Lager. Da habe ich selbst einen vom Stapel gelassen, der durfte am nächsten Tag nicht mehr als Tischspruch auf gesagt werden. " Wie hieß der?" " Rot ist die Rübe, rot ist das Blut, rote Beete sind nicht grün, deshalb schmecken sie so gut:" Seine Mutter grinste. Sie hielt ihm die Joppe hin. Er schlüpfte hinein, hing sich die Tasche über die Schulter, lief zur Tür, riss sie auf und blieb einen Moment wie angewurzelt stehen. Kalter Wind trieb ihm kleine Schneekörner ins Gesicht. Er zog fröstelnd die Schultern zusammen, atmete einige Male tief ein, dehnte den Brustkasten, drückte da! Kreuz durch und rannte los. Vor der langen Holzbrücke am Mottlau Umfluter beendete er seinen Morgenlauf. Hier fegte der heftige Wind vom Bischofsberg herunter. Er schützte mit der linken Hand sein Ohr, wandte das Gesicht von der Windrichtung ab und überquerte die Brücke mit ausgreifenden Schritten. Kaum sah er die Straßenbahn vor sich, zog die Schaffnerin an der Lederschnur. Laut und schrill klingelten die Töne durch die Bahn und noch weit genug über die Straße, dass Nachzügler voller Wut zu rennen begannen. In der Straßenbahn drängelten sich die Mitfahrer, jede Sorte Mensch war dabei. Kurze und lange, dicke und schmale, manche rochen nach kaltem Tabaksqualm, eine Vollschlanke sogar wie Fischsuppe, und auch Urin konnte man gelegentlich feststellen. Die Dame vor Gerd stank nach billigem Parfüm, die hatte vielleicht ihre Tage. Am Langen Markt entstand wildes Geschiebe. Einige Fahrgäste wollten rein in die Bahn, andere raus. Handtaschen blieben zwischen den Körben hängen, es wurde geschupst und gezogen und mancher Fahrgast vermisste später seine Lebensmittelkarten und das war schlimmer, wie der Verlust eines Geldscheines. Da Gerd nahe der Schiebetür stand und von hinten nachgeschoben wurde, konnte die Bahn schnell verlassen. An der Nordseite des mächtigen Klotzes der Marienkirche fegte ein eisiger Wind vom Bischofsberg herunter. Nebelschwaden waberten durch die Gasse. Dieses Wechselbad des unruhigen Wetters in Danzig war um diese Jahreszeit gefürchtet. Manch einer erkrankte an Grippe oder Lungenentzündung. Mit eingezogenem Kopf und zusammengezogenen Schultern versuchte er die Kälte abzuwehren. Kurze, aber schnelle Schritte bewegten ihn über den 1. und 2. Damm. Eine Ecke weiter, am Dritten Damm, sah er Michels Geschäft: >Papier und Bürowaren, „Schreibmaschinen und Kontor-Möbel“ verkündigte das Werbeschild über. einem Schaufenster. Hastig betrat er den 'Hausflur. Lorchen war schon da, sie hatte sich hinten in der Ecke zusammengekauert. Er reichte ihr seine Hand." Oh, die ist schön warm." Sie wickelte ihre Hände um seine Finger, benutzte sie als Wärmepolster und schob sie dann unter seine Jacke. Eine Weile drückte sie ihre Finger gegen seine Brust, zog sie zurück und versteckte ihre aufgewärmten, Hände in ihren Manteltaschen. Auf die letzte Minute hinkte der Arbeiter Ewald herein. Er grüßte nicht, sonder zischte leise die Belegschaft an." Die Russen sind in Ostpreußen!" Das letzte Gespräch verstummte. Jetzt wurde ein neues Kapitel in der Kriegsgeschichte angefangen. Das verschlug ihnen die Sprache. Darüber mussten sie später reden, aber im Flüsterton und in der Abseite.
Pünktlich erschien die Prokuristin. Sie murmelte einen Gruß über ihre Lippen. In ihrer Nähe hatte noch keiner von den Angestellten, es gewagt mit" Hei Hitler " zu grüssen. Das war ihnen allen recht. in einer öffentlichen Versammlung, in der Berufsschule oder sonst wo in einer Behörde konnte dieser deutsche Gruß an den neuen Heiland meistens nicht unterlassen werden. Aber hier arbeiteten sie als Kollegen, verkehrten privat miteinander, so ignorierten sie ein wenig den stürmischen Zeitverlauf.
Ewald wurde mit Fragen bestürmt. "Ja, ja meinte er, es stimmt. Am 19. Oktober zogen sich unsere Truppen vor Tilsit zurück; na, und deshalb gibt es nun keinen Käse " Fräulein von Scholz konterte". Umgekehrt ist richtig: Weil es sowieso keinen Tilsiter Käse gibt, nicht mal auf Marken, brauchen wir die Stadt Tilsit auch nicht mehr."
In östlicher Richtung war Gerd über Elbing nie hinausgekommen. Später wollte er das Land mit dem Fahrrad erobern, nicht unter dem Stahlhelm und dem Karabiner auf dem Buckel, nur privat, als Wandervogel. Die geheimnisvollen, wohlklingenden Namen zogen ihn an, wie schön klang das: Nicolaiken, Wormditt, Eydtkunen, Pillkallen oder Stallupönen. Habt ihr schon mal den Namen ." Kukerneese" gehört?
In Kommisstiefel marschieren sie bis Moskau hin und Barfuss laufen sie zurück." Hatte ihnen der alte Lucht prophezeit. Da fällt jeder Urlaub flach. So ist es beim Militär. Die fünfundvierzig Stunden gibt es dort nicht, der Tag hat jetzt vierundzwanzig Stunden und die Nacht zählt extra.
Die Expressformulare mussten täglich in der Bahnspedition vorgeprüft werden. Deshalb verließ Gerd gegen Mittag das Geschäft und machte sich zum Güterbahnhof auf den Weg. Der private Versand war erheblich eingeschränkt worden, so gab es vor dem Schalter keine Kunden und er wurde schnell abgefertigt. Ei verstaute die Papiere in der Aktentasche und eilte nach Hause. Meistens blieb er für eine Spucke lang auf der langen Holzbrücke stehen, aber heute trieb ihn der kalte Wind vorwärts. Rechtzeitig zum Mittagessen trat er in die Küche ein. Dunstige, mollige Wärme umhüllte ihn. Mutter Jeske hatte Pellkartoffel gekocht, dazu gab es eingebrannte Mehlschwitze und Salzheringe. Ohne Lebensmittelmarken, meist im Tausch gegen Zigaretten oder Schnaps, erhielt sein Vater Pomuchel (Dorsch) Flundern, und Heringe von den kaschubischen Fischern bei Adlershorst. Das war nicht ungefährlich. Hamsterei wurde mit KZ-Haft bestraft. Nach dem Essen verschwand Gerd. Bald hörten sie, wie er im Stall mit dem Beil alte Latten zerhackte. Das trockene Holz eignete sich prima zum Feuer anmachen. Harry brütete über Rechenaufgaben und der kleine Jürgen strengte sich mächtig an, das Laufgitter zu überklettern. Beinahe konnte man vergessen, dass die Russen zum Großangriff auf Ostpreußen rüsteten. Früh dunkelte der Winter in die Küche hinein. Die Mutter rief die Vesper aus. Gerd ging zu den Holzläden und klappte sie über die Fensterrahmen. Verdunkelung war wichtig. Darauf achtete er. Der Tisch war gedeckt. Statt Kuchen gab es Kartoffel Plätzchen. Der Deutschen Nationalgetränk, Malzkaffee, dampfte in den Tassen. Eine geheimnisvolle Stille verband sie miteinander. Vom ältesten Bruder war endlich ein Lebenszeichen gekommen. Er hatte eine Postkarte geschrieben. Kurz teilte er ihnen mit, dass er im Wehrertüchtigungslager an der Weichsel ausgebildet wird. Bei Bohnsack übten sie zwischen den hohen Dünen und Wäldern den Krieg und nichts für den Frieden. "Mit unserem Vater stimmt etwas nicht. Sonnabends bekam er doch immer dienstfrei." flüsterte Mutter Jeske ihren Jungens zu. Die Angstschlinge zog sich in der Familie enger zusammen. Was hatte das zu bedeuten?
Die kleine gelbliche Flamme der Stearin Kerze stänkerte eine faden Rauch gegen die Decke. Jürgen patschte mit der Hand auf den Tisch. Beinahe wäre die Kerz am November Nachmittag umgefallen." Finger Weg!" Bevor Mutter Jeske weiter sprechen konnte, bellte der Hund auf und lief zur Tür. Alle schauten auf Senta. Der Hund wedelte freundlich mit dem Schwanz; ein Fremder konnte sich nicht dem Haus nähern. Harte Tritte klappten über den Bohlenweg durch den Garten, " Da kommt Papa!" freute sich Harry. Kräftig wurde die Tür aufgerissen. im Rahmen stand der perfekt ausgerüstete Krieger. Die Familie war baff. Ängstlich starrten sie ihn an. Den Stahlhelm auf dem Kopfe, das Gewehr über die Schulter gehängt, Gasmaske, Brotbeutel und Bajonet am Koppel, dazu die 08 Pistole umgeschnallt, so feldmarschfertig stand ihr Vater vor ihnen. Der Mutter stockte der Atem. Sollte das sein Abschied werden', Sie sah auf seine schmutzigen klobigen Stiefel. "Musst Du fort ?" Schweigend trat er ein." Nein," sagte er " Ich komme gerade zurück."
Forsch ging er ins Kinderzimmer, dort stellte er den Karabiner in den Schrank, den Mantel, die Jacke, und das Koppel, mit dem Drum und Dran, legte er auf das Bett. Danach setzte er sich vor den Küchentisch auf einen Holzhocker.
"Trink Dich warm!" munterte Mutter Jeske ihn auf. Warum hast Du Dich nicht gemeldet?" Vater Jeske trank von dem Kaffe. „Gemeldet? Es gab Nachrichtensperre. Die Russen waren in Ostpreußen durchgebrochen, da wurden alle verfügbaren Einheiten in Richtung Grenze gefahren. Soweit ist es gekommen. Die Front ist nicht zu halten. Warum machen die da oben nicht Schluss, bevor hier alles zerstört wird."
Abwesend starrte er ins Licht der Kerze. Den Kopf in die Hand gestützt, unterdrückte er mühsam seine Wut. Seine Schultern zuckten und dann schluchste er auf. Tränen perlten über die Wangen." Ich kann nicht, ich will nicht, warum soll ich töten, dazu hat Gott uns doch nicht geschaffen." So quälte sich seine Trauer über die Lippen. " Mach Dir keine Sorge, Ihr fahrt nicht mehr nach Ostpreußen. Die Würfel sind schon gefallen. " beruhigte ihn seine Frau. Sie erzählte, dass sie seinetwegen beim Hauptzollamt vorgesprochen hatte, und dass der Beamte ihr versicherte, dass die Danziger Zollkompanie, wegen Unzuverlässigkeit, in Richtung Westen abkommandiert wird. Wahrscheinlich werdet ihr an der Schweizer Grenze eingesetzt werden. " Pass auf", sagte Mutter Jeske. " Bevor wir hier wegkommen, bist Du schon in der Schweiz gelandet." Er atmete auf. " Hoffentlich wurde Heinz nicht an die Front gefahren." sorgte er sich. Über seinen Einsatz verlor er kein Wort, nur noch so viel.
Als sie die Stadtgrenze am Werdertor erreichten, platzte ein Reifen des LKW -,. Da kein Ersatzreifen im Wagen war, entließ sie der Kompanieführer bis zum Zapfenstreich, auf Ehrenwort. Das nutzten die Danziger sofort aus, um ihre Familien aufzusuchen. Die Nachricht, dass die Kompanie zur Schweizer Grenze verlegt werden soll, stimmte die Familie froh. Der Gedanke, dass wenigstens einer von ihnen diesem Schlamassel entkommen könnte, verbreitete zwischen ihnen eine hoffnungsvolle Stimmung. Sie hatten sich darauf geeinigt zu türmen, wenn der Russe bis zur Weichsel vorstürmen sollte und bei völligem Durcheinander sollte jeder das eigene Leben retten .Als Treffpunkt hatte ihnen der Flaksoldat Fleckenstein aus Franken seine Adresse gegeben.
Mutter Jeske ermahnte alle, die Adresse auswendig zu lernen. Sie notierte die Anschrift auf einen Zettel und schob sie ihrem Mann über den Tisch zu. " Für alle Fälle meinte sie.“

Gerhard Jeske co.

Stejuhn
24.11.2024, 14:37
Guten Tag Herr Jeske,

ich möchte mich einfach nur bedanken, dafür, dass
sie mich durch diesen Bericht an ihren Erinnerungen teilhaben lassen.

Viele Grüße
Sigrid