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Wolfgang
24.02.2008, 01:06
Bahnfahrt nach Danzig

Dienstag, 25. Februar 2003, nachmittags
Mittwoch, 26. Februar 2003, vormittags

Zwei Seeschwalben ziehen kreischend am Fenster vorbei. Ich sitze hier hoch oben über Saspe, im neunten Stock eines der großen neugebauten Wohnhäuser nördlich der Bahnlinie Danzig-Zoppot. Es ist etwas diesig und das verstärkt die gleißende Sonne, die mich beim Blick nach draußen blinzeln lässt. Weitere Seeschwalben folgen den ersten. Ein langer Güterzug tief unter mir Richtung Danzig. Zwischen Wohnhaus und Bahndamm liegen Schrebergärten, die Beete lückenhaft weiß gesprenkelt. In den letzten Tagen ist es deutlich wärmer geworden, denn noch vor Kurzem muss hier wesentlich mehr Schnee gelegen haben. Hinter dem Bahndamm, im diesigen Dunst, ist das alte Langfuhr auszumachen. Der bewaldete Hügelkamm bildet einen verschwommenen Kontrast zum bleichen Himmel.

Ich habe gut Frühstück gegessen. Rührei, Käse, verschiedene polnische Wurstsorten, schwarzes Kümmelbrot aus Litauen, dazu duftenden Tee. Es schmeckte hervorragend. Kinga, eine gute Freundin, hatte mich vom Bahnhof in Langfuhr abgeholt. Der Zug war pünktlich um 6 Uhr 47 in den Bahnhof eingelaufen. 16 Stunden Fahrt liegen hinter mir. Ich bin (noch?) nicht müde, aber diese Fahrt war doch etwas strapaziös...

Gestern, am Dienstag, war um 15 Uhr 02 die S-Bahn in Stuttgart-Neuwirtshaus losgefahren. Davor hatte ich noch den ganzen Tag gearbeitet. Im Stuttgarter Hauptbahnhof soll es weiter gehen. Mit dem ICE nach Mannheim, dort innerhalb von drei Minuten umsteigen in einen weiteren ICE nach Berlin-Ostbahnhof. In Berlin müsste es dann etwas ruhiger zugehen. Eine knappe halbe Stunde Aufenthalt, dann nach Frankfurt (Oder), wo ich erneut umsteigen muss in einen Liegewagen. Und so Gott und die Deutsche Bahn und die Polnische Bahn will, bin ich pünktlich am Mittwochmorgen in Danzig.

Der ICE fährt fahrplangemäß in Stuttgart um 15 Uhr 51 los. In rasender Geschwindigkeit donnert der Hochgeschwindigkeitszug durch lange Tunnels Richtung Mannheim. Wir werden die Strecke sicherlich wie vorgesehen in 37 Minuten schaffen. Eine Durchsage verkündet die Ankunft in Mannheim - und dann bleiben wir vor dem Bahnhof stehen. 5 Minuten, 10 Minuten, eine erneute Durchsage informiert über ein blockiertes Gleis. Gut, ich weiß, der Anschluss-ICE wird warten, aber die Frage ist, wie weit ich nachher in all der Hektik mit meinem Gepäck laufen muss. Mit 15 Minuten Verspätung läuft der Zug ein. Warum bin ich eigentlich mit dem teuren ICE gefahren? Eine Bummelbahn wäre auch nicht viel langsamer gewesen. Soweit es mein Gepäck zulässt – zwei große Koffer, eine Umhängetasche, zusammen rund 50 Kilogramm – laufe ich am wartenden ICE entlang um zu meinem reservierten Platz zu kommen. Verschwitzt steige ich ein und gerade mal zwei Minuten nach Ankunft des verspäteten Zuges aus Stuttgart fährt der ICE Richtung Berlin los. Wer weiß, ob ich das so ohne weiteres schaffen würde, wenn ich paar Jahre älter wäre. Einige der Sitzplätze sind fleckig und durchgescheuert. Meine Reservierung lautet auf einen solchen Platz. Der Sitz gibt laut knarzende Geräusche von sich als ich mich niederlasse. Während der ganzen Fahrt versuche ich still zu sitzen, denn jede Bewegung verursacht jämmerlich quietschende Laute. Ich döse ein wenig vor mich hin und um 21 Uhr 31 sind wir in Berlin-Ostbahnhof. Die Berliner Luft riecht und schmeckt ein bisschen nach Ruß und Kohle, aber so hatte ich sie schon immer in Erinnerung. Auf dem gleichen Gleis soll nun in wenigen Minuten der Regionalexpress nach Frankfurt (Oder) einlaufen. Von diesem – und von den anderen Gleisen – schallen Lautsprecherdurchsagen, dass sich diese und jene Züge um 5 oder 10 oder 15 Minuten verspäten. Kurz vor fahrplanmäßiger Abfahrt meines Zuges kommt auch für diesen die Durchsage, er werde sich voraussichtlich 10 Minuten verspäten. Die zehn Minuten verstreichen und dann werden es noch einmal 10 Minuten. Ich denke nur, der Zug nach Danzig wird doch hoffentlich in Frankfurt warten. Vorgesehen sind dort lediglich 12 Minuten Aufenthalt. Mit fast 20 Minuten Verspätung fahren wir los. Die Waggons des Regionalexpresses sind moderne zweistöckige Niederflurwagen. In den Abteils sind so gut wie keine Möglichkeiten zur Gepäckunterbringung vorgesehen. Meine Koffer im Schlepptau, überall aneckend, gehe ich zu einem Fahrrad- und Gepäckwaggon. Der Zug scheint etwas Verspätung gut zu machen. Um 23 Uhr 15 ertönt undeutlich die Durchsage Frankfurt –Oder. Ich springe auf, gehe zur Tür, bin aber der Einzige, frage vorsichtshalber noch im Abteil, ob das nun der Hauptbahnhof Frankfurt-Oder sei. Nein, heißt es, das ist erst ein Vorort. Oh, wenn ich hier ausgestiegen wäre... Kurz danach laufen wir im Hauptbahnhof ein. Ich springe mit den Koffern in einer Unterführung vom Ankunftsgleis 3 zum Abfahrtsgleis 11. Der Liegewagenzug wartet noch. Vor dem Zug deutsch-polnische Passkontrolle. Relativ zügig werde ich abgefertigt, frage einen Bahnbediensteten nach meinem Wagen. Er weist mit dem Finger zum Anfang des langen Zuges. Ich kann in der Dunkelheit durch die verschmutzten Scheiben keine Wagennummern erkennen, laufe bis fast zum Anfang, werde vom ungeduldigen Schaffner in den Zug gewinkt. Nach dem Einsteigen stellt sich heraus, dass ich sieben Waggons zu weit gelaufen bin. Der Zug fährt ab. Ich muss mich mit meinem sperrigen Gepäck durch die Liegewagen durcharbeiten. Bereits der erste Übergang in den nächsten Waggon ist abgesperrt. Nach langem hin und her kommt ein Schaffner, öffnet die Tür. Das Passieren der nächsten Waggons gestaltet sich zum Hürdenlauf. In den Gängen liegen Berge von Gepäckstücken, unzählige Fahrgäste stehen herum, gehen nicht in die Abteils, als ich mich mühsam vorbeizwänge. Es ist ein Horror. Pritschnass durchschwitzt komme ich endlich zum Wagen 261, Liegeplatz 32. Glücklicherweise liegen hier nur zwei weitere Fahrgäste in dem 6-Personen-Abteil. Der Liegewagenschaffner händigt mir Bettwäsche aus, möchte meine Fahrkarte. Ich lege mich sofort hin und schaffe es, im dahin rumpelnden Zug hin und wieder einzuschlafen. Kurz nach 6 Uhr hält der Zug, draußen auf dem Gang rumpelt es, Fahrgäste steigen aus. Es dämmert bereits. Wir sind in Dirschau. Es ist also nicht mehr weit nach Danzig. Ich gehe auf die Toilette. Kein Wasser. Es muffelt. Ich gehe in das Waschabteil, will mich ein wenig erfrischen. Kein Wasser. Also muss auch ich weitermuffeln. Ich fühle mich ungemütlich, aber was soll’s, bald werde ich mich waschen und umziehen können.


Draußen, auf dem Gang, lehne ich mich ans Fenster, schaue hinaus, lasse die im fahlen Licht vorbei ziehende Landschaft auf mich wirken. Endlose Felder, Gebüsch, Baumreihen, vereinzelt zugefrorene Gewässer. Alte Häuschen, aus deren Schornsteinen vereinzelt Rauch aufsteigt. Der Zug passiert Ohra. Graue Häuser, bröckelnde Fassaden, unbelebte Straßen. Auch im Sommer macht Ohra keinen wesentlich besseren Eindruck. Im Hauptbahnhof angekommen ruft mir der Schaffner „Gdansk“ zu. Ich schüttle den Kopf, antworte „Wrzeszsc“, da ich ja nach Langfuhr will. Ein paar Minuten später hält der Zug in Langfuhr. Kinga kommt mir entgegen. Wir begrüßen uns herzlich, freuen uns, dass seit unserem letzten Treffen gerade mal sechs Wochen vergangen sind.


In ihrem kleinen Auto geht es zu ihr nach Hause. Wrzeszcz, also Langfuhr, sagt sie, gefalle ihr sehr gut. Obwohl sie in Allenstein geboren sei, lebe sie seit ihrem Studium hier.

Nachdem ich mich frisch gemacht habe, steht bereits der dampfende Tee und die duftenden Rühreier auf dem Tisch. Herrlich. Der Blick aus dem Fenster, die strahlende Sonne, etwas Schnee: Danzig begrüßt mich wie immer freundlich. Ich bin mir sicher: Es liegen zwölf schöne und interessante Tage vor mir.


Kinga muss zur Arbeit. Mittags wird wie wiederkommen. Ich schenke mir eine weitere Tasse Tee ein, zuckere ihn, hole mein Notebook hervor um mein erstes Streiflicht zu schreiben. Nehme einen tiefen Schluck Tee, freue mich unbändig, dass ich wieder hier sein darf. Hier, in Danzig, in der Stadt, in ihrer Umgebung, bei Freunden, bei Verwandten.