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Wolfgang
21.06.2009, 22:23
Aus "Unser Danzig", 1955, Heft Nr.03, Seiten 6-8, vom März 1955

Danzig im Jahr 1947

Zehn Jahre ist es her, dass ich die Heimatstadt zum letzten Male unzerstört gesehen habe. Es war im Herbst 1944. Was war das damals für ein angenehmes Gefühl, durch die altvertrauten Gassen und Gässchen zu wandern. Während bis dahin schon viele deutsche Städte schwer unter dem "Bombensegen" gelitten hatten, war Danzig, von einigen kleinen Ausnahmen abgesehen, davon verschont geblieben. Demnach war es auch in den Herbsttagen 1944 meine Freude, die vielen schönen Kirchen, die sonstigen Bauten, die Straßen und Plätze Danzigs ohne Schaden zu sehen. Es sollte das letzte Mal gewesen sein, Danzig so in aller Schönheit zu betrachten.

Schon ein halbes Jahr später ist alles, was während vieler, vieler Generationen in Danzig emsig geschafft worden war, darunter weltbekannte Sehenswürdigkeiten, in Schutt und Asche gefallen. Miterlebt habe ich den Untergang Danzigs nicht, aber ich hatte Gelegenheit, im Spätherbst 1947 in Danzig zu weilen.

Ein Autobus (sprich: Lastauto mit Brettern als Sitzgelegenheit), der vollbesetzt war, brachte mich aus Richtung Langfuhr nach Danzig, zum Hauptbahnhof. Ich muss vorausschicken, dass ich zu der Zeit noch keine genaue Kenntnis von den Verwüstungen in Danzig hatte. Als ich vom Autobus herunter geklettert war, wurde ich von einer ungeahnten Bestürzung befallen. Mit der Zerstörung war ganze Arbeit geleistet worden. Der Bahnhof selbst sah einigermaßen in Ordnung aus, aber der ganze Stadtgraben, vom Hansaplatz an bis zum Elisabethwall, war leer, nichts als Ruinen und Berge von Schutt waren dort zu sehen. Auf solch einen Empfang war ich nicht vorbereitet. Das also war die Straße, in der früher der Verkehr und die Menschen nur so herum wimmelten. Das große Bürohaus der AEG auf dem Elisabethwall stand. Das große "Hotel Eden" mit seinem schönen Dachgarten, daneben "Mampe's" Stuben, die Privat-Aktien-Bank, die Filiale der "Hapag", Hamburg, und viele der Häuser am Stadtgraben waren nicht mehr da. Nur das Eckhaus Stadtgraben/Elisabeth-Kirchen-Gasse, direkt an der Ecke, wo früher ein Zigarrengeschäft war, in dem ich oft meine "Regatta" oder "Danziger Flagge" kaufte, sah ich stehen, wenn es auch beschädigt war. Die UT-Lichtspiele fehlten, der Neubau vom "Danziger Vorposten" war erhalten geblieben.

Ich entsinne mich noch sehr genau: Wie ich das alles so sah, wusste ich gar nicht, wohin ich mich zunächst wenden sollte. Keine Richtung war ermutigend und einladend. Jeder Mensch liebt besonders sein Elternhaus, liebt die Gegend, wo er seine Kindheit verlebt hat. Meine Eltern lebten bis Anfang 1939 auf Brabank. Dahin also beschloss ich zu gehen.

Der Kassubische Markt und der Faulgraben bestanden ausschließlich aus Ruinen und Trümmern. Auf ganz Pfefferstadt stand kein Wohnhaus, nur ganz einsam, aber wenigstens unzerstört, das Altstädtische Rathaus. Am Ende von Pfefferstadt bekam ich die Reste der Großen Mühle und der St.-Katharinen-Kirche zu sehen. Von der Großen Mühle war nur noch ein Teil der dicken Mauern vorhanden. St. Katharinen war schwer beschädigt, am Turm fehlten die zierliche Spitze und der Glockenstuhl. Weiter ging ich durch die Paradiesgasse. Der Name "Paradies" war nun reinster Hohn. In dieser Gasse stand kein Haus mehr. Genau so war es in der Baumgartschen Gasse. St. Bartholomäi war beschädigt. In Verlängerung der Paradiesgasse zum Hansaplatz zu, in der Kalkgasse, standen gerade noch zwei Häuser. In einem davon befand sich ehedem das Kolonialwarengeschäft von Machtans, wo ich beruflich öfter gewesen bin. Die runde Straßenbahn-Wartehalle am Hansaplatz stand noch, allerdings ohne Normaluhr.

Die St.-Jacobs-Kirche auf Schüsseldamm war so gut wie unbeschädigt. Das Gebäude der Allgemeinen Ortskrankenkasse konnte ich schon von weitem sehen, es war ohne Schaden, so auch der große Gasometer in der Wallgasse. Auch der kleinere Gasometer, der alte, stand noch. Wohnhäuser waren aber rar in der Wallgasse, alles nur Schuttberge und ein paar Bäume am Straßenrand. Die Fahrbahn selbst war gut passierbar.

Endlich tauchte Brabank vor mir auf. Ich kann es ja gestehen, dass ich doch neugierig gewesen bin, wie ich da alles antreffen würde. Aber nur ein einziger Blick schon genügte, und ich wusste dann, dass kein Haus mehr auf Brabank stand, bloß die Anlagen von Heyking (vordem Klawitter) waren erhalten geblieben. Im Stillen hatte ich doch auf ein wenig mehr gehofft, deshalb war ich so sehr enttäuscht von der harten Wirklichkeit. Ich stand vor dem hohen Steinhaufen, der einmal das Haus Brabank 15 war. Wo wir früher als Kinder herumgetollt hatten, alles war dahin, restlos alles. Ich musste mich sehr anstrengen, um mir in dieser Einöde den früheren Zustand mit den großen Häusern vorzustellen - es gelang mir nicht.

Jeder Danziger, besonders die, die sich in der Altstadt gut auskennen, werden bestätigen, dass von Brabank aus vor der Zerstörung z. B. St. Katharinen nicht zu sehen gewesen war. Jetzt aber konnte ich die Katharinenkirche gut sehen, nicht etwa nur den Turm, sondern auch das Kirchenschiff. Es war in der Richtung alles frei, nur hin und wieder durch ein erhaltengebliebenes Gebäude und durch Bäume unterbrochen. Von dem gleichen Standort konnte ich auch den Gaskessel in der Wallgasse erblicken, weil ja auch dort die Häuser fehlten.

Weiter ging ich durch die zerstörte Große Bäckergasse zu der Brücke, die über die Radaune führt. Die Radaune und die Brücke waren hier die einzigen Dinge, die sich gegenüber früher nicht geändert hatten. Aber sonst, wo ich auch hinsah, war alles eine Trümmerstätte, sei es am Eimermacherhof, sei es am Schild, wo wenigstens ein paar graue Häuser zu sehen waren. Früher lag am Radauneufer eine Menge Paddel- und Ruderboote, mit denen konnte Groß und Klein für einen halben Gulden eine Stunde lang die Mottlau unsicher machen. Groß war die Freude, wenn gerade "Paul Beneke", der alte, aber schmucke und seetüchtige Raddampfer der Weichsel-AG, vorbei kam; dann gab es ordentliche Wellen, die die "Nussschalen" nebst Insassen gut schaukeln ließen. Ja, die Zeiten sind vorbei! - Ich sah keine Boote mehr am Ufer. Nun, wer sollte auch "Bootchen fahren", etwa die Trümmersteine?

Karpfenseigen glänzte direkt vor "Leere", kein Haus war zu sehen, nur hier und da steckten Pfähle mehr oder weniger schief aus den Schutthaufen heraus. Rähm setzte den Reigen der Verwüstung fort. Nur die Mädchenschule ist erhalten geblieben. Einige alte Häuser standen noch in der Rittergasse, alles andere war Schutt. Der hohe Schornstein von der "Danziger Brotfabrik" ragte gen Himmel. So waren auch die Häuser auf Rammbau und Klein-Rammbau zu zählen.

Ich bog in den Heveliusplatz ein, hier war alles verwildert. Das polnische Postamt war zerstört. Vor dem Eingang der Post, zur ebenen Erde, war eine Gedenkplatte angebracht für die Verteidiger des Postamtes im September 1939. Auch im Halbrund über dem Eingang war zu lesen "Poczta Polska 1. 9. 39". Sonst war noch nicht an dem großen Gebäude gearbeitet worden.

Am alten Spendhaus ist der Krieg gut vorbeigegangen, früher war ja im Vorderhaus die "Danziger Volksstimme". Oft haben wir als Kinder, wenn es zur Schule ging, dort die ausgestellten Bücher betrachtet. In der Straße Am Spendhaus standen beinahe alle Häuser, so auch in der Spendhaus-Neugasse. Es war in der Tat ein erfreulicher Anblick für mich, einige Straßen vorzufinden, die fast das vertraute Aussehen hatten, zumal ich so etwas schon gar nicht mehr vermutete.

Dann stand ich vor der Hakelwerk-Schule; es war meine Schule. Sie stand vollkommen unbeschädigt, das Hauptgebäude sowie die Badeanstalten und die darüber befindliche Turnhalle. Nur der Bürgersteig war aufgewühlt. Zu gerne wäre ich einmal in die Schule hineingegangen; leider war sie verschlossen. Vermutlich hatte sich in den Klassenräumen gegen früher nichts geändert, höchstens dass die großen Bilder mit dem Alten Fritz, mit Bismarck, Hindenburg usw., die während meiner Schulzeit die Wände zierten, gegen andere Bilder vertauscht worden waren. Aber den Schulhof sollte ich doch noch zu sehen bekommen. Die Wohnhäuser nach der Schule fehlten sämtlich, nur das große Eckhaus Hakelwerk/Am Stein stand noch. Dieser Raum, von dem Eckhaus bis zur Schule, war lose mit Ziegelsteinen aufgeschichtet. Diese "Mauer" war an zwei Stellen eingefallen, so dass ich bequem hindurch konnte, dann noch ein paar Schritte, und ich befand mich im Schulhof. Ich sah die Rückfront der Schule, es schien tatsächlich alles so wie früher, nur dass die Bäume, die im Schulhof standen, inzwischen viel größer geworden waren. Heute, wo ich dieses niederschreibe, kann ich nicht mehr so genau sagen, wie mir zumute war, nach langen Jahren und den umwälzenden Verhältnissen in Danzig, wieder den Schulhof zu betreten. Erinnerungen an meine Schulzeit, an das Lehrpersonal und an gut bekannte Mitschüler werden wohl wach geworden sein. Das Gebäude der Mädchenschule Niedrige Seigen, das den Schulhof begrenzt, war ebenfalls unbeschädigt.

Ich ging wieder zurück auf die Straße. In der Verlängerung der Jungferngasse sah ich den Turm von St. Johann, ohne sein Dach. Es irritierte mich anfangs, da ich zuerst annahm, es sei der Marienturm, der ja oben eine Plattform hat. Aber eindeutig waren die Stellen zu sehen, wo sich früher die Uhren am oberen Turm der St.-Johannis-Kirche befanden. In der Jungferngasse selbst standen gerade noch vier oder fünf Häuser.

Außer dem schon erwähnten Eckhaus Hakelwerk/Am Stein habe ich Am Stein kein Haus mehr sehen können, auch auf Hinter Adlers Brauhaus war alles dem Erdboden gleich. So kann ich noch gleich dazu Niedrige Seigen und die Köksche Gasse aufzählen, denn die hatten auch nichts mehr zu bieten.

Von der Kökschen Gasse bog ich links in die Tischlergasse ein oder, genauer gesagt, was einmal die Tischlergasse war, denn sie ist "gründlich" zerstört. Rechts sah ich St. Brigitten über die Ruinen ragen, ebenfalls sehr vom Krieg mitgenommen, über die Näthlergasse kam ich zu dem Altstädtischen Graben. Dort sah es auch sehr traurig aus. Die Markthalle war aber unbeschädigt. Der "Kiek in de Kök" neben der Markthalle stand ohne Dach da.

Von den vier Dämmen ist auch nichts übrig geblieben. Denke ich heute nach, so kann ich nur sagen, dass die vier Straßenzüge eine einzige Wüste waren. Ein Blick in die Häkergasse zeigte verhältnismäßig viele der alten Häuser, wenn ein Teil auch leichte Schäden hatte. In der Johannisgasse herrschten wieder mehr die Ruinen vor. Die Nikolaikirche blieb vollkommen erhalten. Die vielen Kostbarkeiten, die die Johanniskirche barg, müssen wohl als verloren gelten, sollten sie nicht noch vorher sicher verlagert worden sein.

Dann sah ich die Breitgasse, nichts erinnerte mehr an früher, nicht einmal das Krantor, das nicht mehr besteht. Das große Verlagsgebäude der "Danziger Neuesten Nachrichten" war Ruine, wenigstens was das Vorderhaus betrifft. Die bekannten "Lachs-Stuben" in der Breitgasse, wo man ehedem das gute "Danziger Goldwasser" und andere herrliche Spezialitäten probieren konnte, bestand nur noch aus einem Haufen Steine.

Die ganze Heilige-Geist-Gasse, vom Tor angefangen bis zu dem Holzmarkt, wies kein heiles Haus auf. Die meisten Häuser waren Trümmer, und die paar Gebäude, die noch zu sehen waren, waren ausgebrannt. Nicht einmal die steinernen Beischläge vor den Häusern, von denen die Heilige-Geist-Gasse noch viele besaß, überlebten die Feuersbrunst, hier und da waren noch einige Reste zu sehen.

Die Heilige-Geist-Gasse heißt heute genauso, doch da es ja keine "Gassen" mehr in Danzig gibt, jetzt Heilige-Geist-Straße = ulica Sn. Ducha. Die Breitgasse heißt Breite Straße gleich ulica Szeroka. Viele Straßen in Danzig haben die alten Bezeichnungen, nur verpolnischt, wie auch noch die nachfolgenden Beispiele zeigen: Fischmarkt — Targ Rybny, Tobiasgasse = ul. Tobiasza, Große Mühlengasse gleich ul. Wielkie Mlyny. Sogar die Professorgasse, an der St.-Katharinen-Kirche, hat ihren Namen behalten, sie heißt ul. Profesorska.

Einige Straßenamen wurden geändert, z. B. die Johannisgasse in ul. Swietojanska, nach der Johanniskirche, die heute den Namen Sn. Jana hat. Genauso ist es mit dem St.-Katharinen-Kirchensteig, der in ul. Katarzyny geändert wurde. Brabank wiederum heißt ul. Stara Stoczna, was soviel wie Alte-Werft-Straße bedeutet. Die Baumgartsche Gasse wurde in Heveliusstraße, die Jungferngasse in Frauenstraße geändert. Die bekannte Frauengasse erhielt den Namen Marienstraße, nach der Marienkirche. Die Junker, nach denen eine Straße an der Markthalle benannt wurde, sind nicht mehr gelitten, sie heißt jetzt Herrenstraße.

Aber wie sah denn unsere schöne Marienkirche aus? Das ganze Dach fehlte von St. Marien, die hohen Kirchenfenster waren vielfach große Löcher, an manchen war wenigstens noch das Gerippe der Verglasung zu sehen. Da auch ein Teil der Kirchendecke beschädigt war, war von innen der Himmel zu sehen. Auch der Marienturm war vollkommen ausgebrannt und ohne Dach, er wirkte wie ein leerer Kamin. Obwohl die Marienkirche selbst so schwer gelitten hatte, wurde ich den Eindruck nicht los, dass sie auch in diesem verwundeten Zustand noch wie ein Schutzpatron, gegenüber der völlig verwüsteten Umgegend, wirkte. Die Zeit heilt, so wird gesagt, heute nach sieben Jahren sieht es nicht ganz so grausam mehr in der Altstadt aus. Es ist aufgeräumt worden, freistehende Ruinen wurden zum Einsturz gebracht, Trümmerberge eingeebnet, und es sind auch schon wieder Häuser gebaut worden. Vor allen Dingen in der Langgasse, der Breitgasse und in der Heiligen-Geist-Gasse. Vereinzelt sind neue Hauser auf dem Altstädtischen Graben und in der Junkergasse. Der Wiederaufbau Danzigs beschränkt sich bis jetzt mehr auf die Rechtsstadt, also auf den Kern Danzigs.

In der Altstadt ist man zumindest den Sehenswürdigkeiten zu Leibe gegangen, um zu retten, was zu retten ist. Kirchen haben Dächer bekommen, und wo es nötig war, wurden Bauten abgestützt, Fenster eingesetzt bzw. vermauert, um Baulichkeiten vor Witterungseinflüsse zu schützen.

So sind auch der Schwanenturm am Fischmarkt und der "Kiek in de Kök" erneuert worden. Durch die Altstadt von Danzig führt jetzt eine Eisenbahnlinie, die eigens für den schnelleren Abtransport der riesigen Schuttmengen gebaut wurde. Alle Häuser, die der Zerstörung entgangen sind, sind jetzt auch bewohnt. Der Markt in Danzig spielt sich wieder vor und in der Markthalle ab. In den ersten Nachkriegsjahren wurde beinahe überall gehandelt, wenn es überhaupt ein Handel im üblichen Sinne gewesen ist.

In der Altstadt werden es nicht mehr die alten Häuser sein, hier sollen ganz moderne Bauten entstehen, auch rein äußerlich. In der Rechtsstadt hingegen sind die Häuser im alten Stil wiedererrichtet, nur dass die Innenräume modern gehalten sind.
H.St.

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Die Veröffentlichung dieses Artikels erfolgte mit freundlicher Genehmigung des "Bundes der Danziger" in Lübeck.

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Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang