Wolfgang
17.10.2009, 22:47
Aus „Unser Danzig“, 20.09./05.10.1963, Nr.18+19, jeweils die Seiten 12-13
Badefahrt zur Westerplatte
von Theodor Wallerand
Wer in den verflossenen heißen Sommerwochen dieses Jahres Gelegenheit hatte, in den kühlen Fluten der Ostsee ein erfrischendes Bad zu nehmen, dessen Gedanken schweiften dann sicher mit Wehmut zurück zum heimatlichen Strand. Wohl kaum eine andere Stadt hat so günstige Badeverhältnisse an der See aufzuweisen wie gerade Danzig. Viele Meilen weit zieht sich ja in unserem Freistaatgebiet vom Menzelbach bis zur Neuen Welt auf der Frischen Nehrung ein wunderbar reiner weißer Sandstrand von oft beträchtlicher Breite hin. Vergleichen wir ihn mit dem, den wir an der westlichen Ostseeküste meist vorfinden, können wir nur mitleidig lächeln. Und wie klar und rein ist dort das Wasser! Die unangenehmen Feuerquallen waren uns so gut wie unbekannt. Wie leicht und bequem konnte überall der Strand erreicht werden! Jeder suchte sich nach seinem Geschmack aus der Fülle der Bäder das aus, das ihm zusagte. Die meisten Danziger kennen wohl noch das Badeleben in Zoppot, Glettkau, Brösen und Weichselmünde, in Heubude, Krakau, Plehnendorf, Neufähr und Bohnsack, Schnakenburg, Schiewenhorst und Nickelswalde, in Pasewark oder Junkeracker, Steegen oder Stutthof bis hin nach Voqelsanq. Diese Kette von Bädern bot jedem das Seine. Das international berühmte Zoppot mit der Vielfalt seiner prächtigen Veranstaltungen, das ruhige gehoben bürgerliche Glettkau, Bad des idyllischen Oliva, Brösen, das Volksbad der Langfuhrer, Heubude, das Volksbad der Innenstädter, Bohnsack mit seinem kräftigen Wellenschlag, das robinsonhafte Gebiet des Weichseldurchbruchs, das einzigartig schöne und einsame Strommündungsgebiet des Weichseldurchstichs und die weiter östlich gelegenen Bäder, wo man an Wochentagen den riesigen kilometerlangen und manchmal mehr als 100 Meter breiten rein-weißen Sandstrand für sich allein haben konnte, sie alle hatten ihre Eigenart, ihre Vorzüge, ihre Liebhaber.
Ein Bad ist in dieser Perlenkette der östlichen Ostsee nicht genannt worden: Die Westerplatte. Die garstige Politik riss es aus der Reihe, denn nach Gründung des Freistaates nach dem I. Weltkrieg musste Polen ja unbedingt ein Munitionslager auf Danziger Gebiet unterhalten. An Wirklichkeit war das natürlich nur ein Vorwand für die Errichtung eines militärischen Brückenkopfes am Ausgang des Danziger Hafens, zu dem die Danziger außer dem Grund und Boden noch kräftige finanzielle Beihilfe zu leisten hatten. Der Völkerbund, der uns so oft im Stich gelassen hat, wachte in diesem Fall sehr gewissenhaft über die Ausführung der getroffenen Bestimmungen.
Vor dem ersten Weltkrieg aber war die Westerplatte mit ein Hauptseebad für die Danziger Bevölkerung. Als Junge habe ich das Leben und Treiben dort Sommer für Sommer mitbekommen, und die Erinnerung daran ist mir unauslöschlich eingeprägt geblieben. Damals war die Urlaubsreise breiter Volksschichten noch nicht üblich. Es gab noch keine Autos, abgesehen von den ersten ganz wenigen Ungetümen, die hie und da mal aufkreuzten, es gab auch noch nicht den heutigen Wohlstand um jeden Preis, zu dessen Erringung so manche wertvollen Sitten und Gepflogenheiten früherer Zeiten bedenkenlos geopfert werden. Zudem hatten wir Danziger ja unsere Erholungs- und Reisegebiete dicht vor der Haustür, und das in einer derartigen Fülle der Auswahl und Verschiedenheit der Landschaft, dass uns jede andere deutsche Stadt beneiden musste. Nur wir selbst waren in dieser Hinsicht vielleicht zu verwöhnt, dass wir es als selbstverständlich ansahen.
Die Seeküste erhielt im Sommer den Vorzug, und das war ganz natürlich. War doch unser Danziger Klima erheblich günstiger als etwa das der westlichen Ostsee. Wir hatten infolge der Lage im Regenschatten des „Gebirgslandes“ um den Turmberg herum weniger Niederschlag und wegen der kontinentalen Einflüsse des Ostens mehr Sonne und Sommerwärme, als die nördliche Seelage es zunächst hätte erwarten lassen. Umgekehrt gab es dann im Winter zur Freude der Skiläufer, Rodler und Eiskünstler auch häufig prachtvolle Schneelandschaften im umliegenden Hügelland oder spiegelgiänzende Eisflächen in der Weite des Werders. Der Sommer dagegen gehörte dem Baden und Schwimmen in der See. Die großen Ferien lagen in Danzig regelmäßig im Monat Juli und endeten gewöhnlich Anfang August, wenn der Danziger Dominik begann. (Das war wohl so eingerichtet, um der Danziger Schuljugend den Schulbeginn zu versüßen?) Der Juli wurde gewöhnlich der heißeste Monat, wenn auch die „Hundstage“ im August mitunter nicht zu verachten waren und das Baden in der See mit Ferienende noch längst nicht aufhörte.
Die Ferien veranlassten die Danziger Weichsel A.G. zu besonderem Entgegenkommen. Für billiges Geld - ich weiß leider nicht mehr den Preis, aber es waren nur wenige Mark - kauften die Familienväter ihren Kindern kombinierte Ferienbadefahrkarten, mit denen diese täglich beliebig oft den Dampfer zur Westerplatte und dazu einmal am Tag die dortige Badeanstalt benutzen konnten. Kein Wunder, dass fast die gesamte Danziger Schülerwelt von dieser famosen Einrichtung Gebrauch machte. Voll beladen mit fröhlicher Jugend dampften die Schiffe unablässig vom frühen Morgen bis in die späten Abendstunden die Mottlau und die Weichsel hinauf und hinunter. Besonders an den Vormittagen waren es die Jungen und die Mädchen, die zum Baden fuhren. Zum Mittagessen war die Mehrzahl wieder zu Hause. Die Entfernungen bis zur See waren ja so gering, desgleichen der Fußweg von der Anlegestelle zur Wohnung der meisten wegen des kreisförmigen Stadtgrundrisses, die Dampferfahrt so reizvoll, dass es wohl lohnte, sie zweimal am Tag zu machen.
Am Nachmittag fuhren dann die Mütter und, soweit sie Urlaub hatten oder der Dienst es zuließ, die Väter mit hinaus, und es entwickelte sich dann am Strand ein rechtes Familienbadeleben. Strandkörbe gab es kaum. Man buddelte sich seine Kaule und hatte im übrigen auf dem riesigen Strandbezirk Platz genug, um sich eine passende Stelle zu suchen und vom lieben Nachbar unbehelligt zu bleiben bzw. diesen nicht zu behelligen. (Kofferradios existierten ja ebenfalls nicht!) Dicht bei dicht, wie heute überall die Regel, kam gar nicht in Frage. Denn nach der Westerplatte fuhr ja nur ein Teil der Danziger, nämlich der, der zu den Dampfern einen nicht zu weiten Weg hatte. Die Langfuhrer hatten ihr Brösen, die Niederstädter zog es meist nach Heubude usw., besonders nachdem nach Fertigstellung der Breitenbachbrücke über die Tote Weichsel die Straßenbahnlinie nach Heubude eröffnet wurde, die direkt bis zum Badestrand durchging, obwohl die erheblich länger dauernde Dampferfahrt nach Heubude mit anschließendem Waldspaziergang zur See auch weiterhin immer ihre Liebhaber fand.
Unsere Strecke nach der Westerplatte aber durch den Kaiserhafen hindurch war etwas Besonderes! Schon wegen der Schiffe dieser Linie. Wir Jungen kannten ja jeden Dampfer genau. Mit einer Art Geringschätzung sahen wir auf die kleinen Dampfboote - es waren wirklich mehr Boote als Schiffe,
die nach Heubude verkehrten - herab. Daran konnten auch die stolzen Namen wie „Juno“, „Amor“ und dergleichen nichts ändern. Die Westerplattefahrer waren viel stattlicher, die „Vistula“ und „John Gibsone“, zu denen später „Falke“ und „Schwan“ traten, die sogar über See fahren durften. Vorher hatten wir noch die Veteranen „Pfeil“ und „Blitz“ kennengelernt, Raddampfer aus den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts, wenn ich nicht irre. Sie waren ziemlich lang gebaut, und das Ablegemanöver war für uns Jungen immer besonders spannend. War die Vorleine losgeworfen, ging die Maschine langsam rückwärts, die mächtigen Schaufelräder begannen, das trübe Mottlauwasser aufzuwerfen und in weißen Schaum zu verwandeln.
Die Achterleine hielt das Heck noch fest und schamfielte stöhnend und ächzend den Poller. Wenn dann der Bug genügend Abstand gewonnen hatte, wurde Ruder gelegt, der Maschinentelegraph klingelte, es wurde langsame Fahrt voraus gegeben, und das Schiff löste sich von der Anlegepier. Jetzt stieg die Spannung auf den Höhepunkt. Der Schiffsjunge oder Jungmatrose, der noch an Land stand, hatte die Achterleine loszuwerfen und musste rasch an Bord springen, ehe der Abstand zu groß wurde. Wir haben stets vergebens darauf gewartet, dass er in die Mottlau plumpste.
Ganz stolz waren wir, wenn wir, was meist nur auf der Heimfahrt geschah, einen richtigen Seedampfer erwischten, der den Dienst nach Zoppot oder gar Hela versah. „Drache“, ebenfalls noch mit Seitenradantrieb, war weniger gefragt. Auch der sonst bei den Danzigern so beliebte „Paul Beneke“ hatte bei uns nicht das Ansehen, da er auch Seitenräder besaß, die seiner Seetüchtigkeit nicht förderlich waren. „Hecht“, „Phönix“, „Gazelle“ waren zwar nicht groß, aber immerhin Schraubenschiffe. „Vineta“ dagegen, das war unser Fall! „Vineta“ galt als das seetüchtigste Schiff der Weichselflotte zusammen mit dem Eisbrecher „Richard Damme“ und konnte auch als Seeschlepper und Bergungsdampfer eingesetzt werden. Schon ihre tieftönige Sirene imponierte. Kam sie abends von Helafahrt zurück und machte an der Pier der Westerplatte fest, um mitzuhelfen, die Schwärme der Strandbesucher wieder zur Stadt zurückzubringen, sahen wir nach Möglichkeit zu, auf dieses Schiff und kein anderes zu gelangen. Es fuhr dann auch ohne Zwischenhalt bis Danziq durch. Kurz vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges kamen dann noch zwei Dampfer hinzu, die unser Jungenherz erfreuten, die „Zoppot“ und die größere „Hela“ mit zwei Schloten. Auf die „Hela“ konnten wir Westerpiatte-Fahrer natürlich nicht gelangen. Ich sah sie zuletzt als Hilfskriegsschiff mit grauem Anstrich Anfang des Krieges 1914. Was aus ihr geworden ist, ist mir unbekannt.
Der Reiz der Dampferfahrten zur Westerplatte lag, abgesehen davon, dass jede Dampferfahrt an und für sich reizvoll ist, darin, dass man unterwegs hochinteressante Dinge zu sehen bekam. Die einzigartig malerische Mottlaupartie an der Langen Brücke, der Speicherinsel, dem Fischmarkt und Brabank vorbei mag immer wieder das Auge des Erwachsenen entzückt haben, aber irgendwie im Unterbewusstsein spürten auch wir Kinder schon ein wenig die Schönheit dieses Hafenbildes. Dann gelangte man hinter Strohdeich und dem Schuitensteg zur Weichsel. Hatten schon vorher im Binnenhafen kleinere Frachtdampfer, die an der Speicherinsel löschten oder Ladung nahmen, die Aufmerksamkeit beansprucht, so erregten nun das Hämmern und Dröhnen, das von den großen Werften hinüberklang, und der Anblick grauer Kriegsschiffe die Herzen. Waren es auch nicht gerade die stolzesten Vertreter der damals so stolzen und mächtigen deutschen Kriegsflotte, die in Danzig lagen, so waren es immerhin Kriegsschiffe, die bei uns Bengeln doch weit vor den Dampfern der Weichsel A.G. rangierten. Gewissermaßen im zeitweiligen Ruhestand lagen in Kiellinie hintereinander und in Päckchen zu zweien die alten Küstenpanzer mit den Namen aus der germanischen Heldensage, die „Beowulf“ und „Heimdall“, „Ägir“ und „Odin“ usw., im ganzen acht an der Zahl. Abgerüstet, ohne Besatzung lagen sie da, als ob sie warteten. Und tatsächlich machten sie noch einmal Dampf auf. Bei Kriegsausbruch sah ich sie einmal in langer Kiellinie an unserer Küste entlang dampfen. Sie waren, wenn auch nur für kurze Zeit, wieder in Dienst gestellt. Eine ähnliche Rolle wie sie spielten die alten Linienschiffe „Brandenburg“ und „Wörth“, rund 10 000 t groß, die hinter den Küstenpanzern lagen. Auch sie hatten keinen Gefechtswert mehr, ebenso wenig wie die veralteten kleinen Kreuzer „Gefion“ und „Amazone“.
Auf dem linken Stromufer dagegen bei den Helligen der Werften tat sich etwas. Leider konnte man vom Bäderdampfer aus nicht viel erhaschen, am ehesten noch etwas von den im Bau befindlichen Unterseebooten, die damals aktuell zu werden begannen. Die Kaiserliche Werft in Danzig und die Kruppsche Germaniawerft in Kiel waren die Hauptwerften für den U-Bootbau. Bei Schichau weiter hinten wurde an den größten Kriegsschiffen damaliger Zeit gearbeitet. Die letzten dieser Panzerriesen waren das Großlinienschiff „Baden“ und der Schlachtkreuzer „Graf Spee“, nicht zu verwechseln mit dem aus dem zweiten Weltkrieg bekannten viel kleineren Panzerschiff „Admiral Graf Spee“. Jene genannten Riesen hatten gegen 30 000 t. Interessant waren auch die schnellen Kreuzer, die Schichau für Russland baute und die dann infolge des Kriegsausbruches für Deutschland fertiggestellt wurden und die Namen „Pillau“ und „Elbing“ erhielten. Wie gesagt, konnte man dieses Geschehen auf den Werften bei flüchtiger und entfernter Vorbeifahrt mehr ahnen als erkennen. Dennoch beeindruckte es, besonders im Sommer 1914, als der politische Horizont sich so verdüsterte. Aufgefangene Gespräche der erwachsenen Fahrgäste ließen uns in etwa den ernsten Hintergrund des Bildes ahnen. Wenige Monate später sah ich dann als Angehöriger der Marinejugendwehr deutlich an Ort und Stelle, was in Friedenszeiten auf der Badefahrt die Neugier erweckt hatte.
Kehren wir aber zur friedlichen Reise nach der Westerplatte zurück! Im Kaiserhafen konnte man schon große Frachter bewundern, denn dieser war auf zehn Meter Wassertiefe ausgebaggert. Das Bild setzte sich fort im langen Hafenkanal zwischen Weichselmünde und Neufahrwasser, noch einmal leicht kriegerisch unterbrochen durch die vor Weichselmünde vertäuten sogenannten kleinen ungeschützten Kreuzer der Raubvogelklasse („Geier“, „Kondor“, „Bussard“, „Falke“ usw.), außer Dienst gestellte Schiffe von ca. 1600 t, die in ihren besseren Tagen noch Hilfsbesegelung gefahren hatten. Auch die ehemalige Kaiserjacht „Hohenzollern“, nunmehr in „Kaiseradler“ umbenannt, lag dort.
Dann tauchte das Idyll der Festung Weichselmünde auf. Mit ihren weißen Mauern, den grünen Wällen, dem Klubhaus des „Gode Wind“ und dem Mastenwald der in ihren Wassergräben liegenden Segeljachten bot sie ein Bild des Friedens. Bevor unser Dampfer in Westerplatte anlegte, passierte er noch die vierkantige flache Dampffähre „Westerplatte“, die die Jugend Neufahrwassers zum Strand hinüberbrachte. Wahrzeichen Neufahrwassers waren für uns neben den Schiffen die Doppeltürme der Himmelfahrtkirche. Hinter dem bei den Kapitänen größerer Schiffe berüchtigten Knie des Hafenkanals und hinter der Anlegestelle der Bäderdampfer lagen häufig die kleinen Ostseeschoner der Schweden und Dänen, die recht schmuck und sauber aussahen. Zur Zeit der Segelregatten lagen hier nicht minder schmuck und sauber zahlreiche schnittige Jachten. So gab es für uns während der Fahrt und auch nach dem Aussteigen immer sehr, sehr viel Interessantes zu sehen. Manchem Danziger Jungen mag sich auf diesen Fahrten der Gedanke, einmal zur See zu gehen, zu einem ernsthaften Berufswunsch verdichtet haben.
Hatten sich unsere schauhungrigen Augen satt gesehen oder trieb uns ein zum Glück seltener Dauerregen unter Deck in die Kajüte oder in den „Salon“, denn wir besaßen ja auch „Salondampfer“, war die Reise nicht minder reizvoll. Aus der Reihe unserer Bordspiele sei hier das Knöpfchenspiel erwähnt. Vor 1914 trug man noch oft Schuhe zum Knöpfen. Von ausgedientem Schuhwerk wurden nun immer mehrere der kleinen, runden Knöpfchen zu einem größeren Knopf zusammengefügt. Etwa fünf oder sechs solcher Knöpfe gehörten zu einem Spiel. Es galt nun, einen der Knöpfe hochzuwerfen und geschickt wieder zu fangen und dabei mit der gleichen Hand noch vor dem Auffangen des geworfenen Knopfes die übrigen Knöpfe in den verschiedensten Varianten auf der Tischplatte aufzubauen oder wieder einzukassieren. Gute Spieler und häufig auch Spielerinnen erzielten mitunter ganz erstaunliche Leistungen, die Gesellschaft amüsierte sich königlich, und die Fahrt ging viel zu schnell zu Ende. Wer entsinnt sich noch des „Knöpfchenspiels“? Natürlich gab es noch andere Kurzweil. Kein Wunder, dass wir uns auf die Dampferfahrt stets genauso freuten wie auf Seebad und Strand, gleich ob die Sonne schien, was meist der Fall war, oder ob es regnete. Bei ganz schlimmem Regen fuhr man einfach hin und zurück spazieren, ohne das Schiff zu verlassen.
Näherte sich der Dampfer dem Ziel, erhielt er erst einmal Schlagseite. Alles stürzte zur Steuerbordseite, um möglichst zuerst aussteigen zu können. Denn nun begann der Wettlauf durch den Wald zum Bad. Wer zuerst da war, suchte sich unter den noch leer stehenden Zellen die beliebtesten aus. Äußerlich waren sie zwar alle gleich, aber für uns Kenner besaßen sie doch ihre geheimen Vorzüge oder Nachteile. Wer also spät ankam, musste vorlieb nehmen mit dem, was übrig blieb, oder gar warten, bis etwas frei wurde. Die Benutzungszeit war je nach Betrieb auf 45 bis 60 Minuten beschränkt. Ging man aber zu zweien in eine Zelle, sprang die doppelte Zeit heraus. Selbstverständlich gab es in Westerplatte nur ein Herren- und ein Damenbad. Ein Familienbad wurde gerade im mondänen Zoppot errichtet. Später, als das Freibaden überhand nahm, löste diese Frage sich von selbst. Wir Knirpse hatten anderes im Sinn. Wer schwimmen konnte, was für die meisten von uns zutraf, ging mit Kopfsprung von der letzten Treppe ins Wasser. Beliebt waren dafür einzelne Pfähle, die die Brücke stützten. Tollkühne sprangen sogar von der höheren Brücke und mussten in möglichst flachem Bogen rasch wieder auftauchen, um nicht mit dem Kopf auf Grund zu geraten, da es hier noch nicht tief war. Wehte bei stürmischer See die rote Flagge, durfte nicht über die letzte Leine hinaus geschwommen werden, sonst waren das weiter draußen verankerte Floß und der noch entferntere Sprungturm begehrte Ziele.
Auf unseren Waldläufen zum Bad hatten wir übrigens einen neuen Weg für die Allgemeinheit geschaffen. Zur Abkürzung des Weges liefen wir nämlich an einer Stelle quer durch den Wald. Der Boden war hier so dicht mit Kraut bewachsen, dass wir zunächst immer nur einer hinter dem anderen laufen konnten. Nach kurzer Zeit war ein Trampelpfad ausgetreten, der im nächsten Jahr wieder benutzt und von den kleinen Füßen auf mehr als doppelte Breite gebracht wurde. Bald wuchs hier kein Kraut mehr (uns war eben kein Kraut gewachsen!), und alle Erwachsenen benutzten die Abkürzung, die wieder ein Jahr später sogar eine Drahtzauneinfassung und somit offiziellen Wegcharakter erhielt. Wir hatten durch unsere Pionierarbeit der Gemeinde eine Menge Geld gespart. Das Westerplatter Wäldchen bot viele hübsche Spazierwege und Ruheplätzchen bis hin zu den Küstenbatterien, wenn der Strand auch die Hauptanziehungskraft ausübte.
Wenn der Lehrer- oder Männergesangverein sein Sommerkonzert gab, standen Kurgarten und Kurhaus im Mittelpunkt. Die Westerplatte hatte auch einen stattlichen Seesteg zum Promenieren, der aber schließlich den Stürmen eines Eiswinters zum Opfer fiel. Eine schlimme Plage waren in manchen Jahren die unzähligen Mücken. In vielen Sandkaulen zündeten die Gäste wahre Lagerfeuer zur Vertreibung der blutgierigen Biester an, was besonders in der Abendstimmung recht romantisch aussah. Schließlich raffte sich die Stadt zu einem Generalangriff auf, und siehe da, im nächsten Jahr waren die Mücken verschwunden.
Schweifte man am Strand nach Osten, gelangte man zu einer Wellenbrechermauer, die zum Teil aus aufgehäuften Granitblöcken, zum Teil aus einer fest gebauten Betonmauer bestand. Zwischen ihr und dem Strand lag abgeschlossen gleichsam eine Lagune mit immer ruhigem und flachem Wasser, ein idealer Kinderspielplatz zum Plantschen, Schiffchenfahren und „Stuchel“-Fangen. Nach Westen führte die Strandwanderung zur Hafenmole und zum Leuchtturm. Stundenlang konnte man auf den Stufen des Leuchtturms am Molenkopf sitzen, auf die See hinaus blicken und träumen oder die aus- und einlaufenden Schiffe beobachten. Ein Hauptereignis war jeden Sommer der Besuch deutscher Kriegsschiffe. Meist waren es die Schulkreuzer der „Hansa“- oder „Vineta“-Klasse, die an der Mole festmachten. Sie hatten Seekadetten und Schiffsjungen zur Ausbildung an Bord, und mancher Danziger Junge blickte neidisch zu diesen hinauf an Deck. Die Schiffe wurden natürlich auch dem Besucherstrom freigegeben. Da nahm das Staunen dann kein Ende.
So bot die Westerplatte viel Abwechslung und viel Interessantes und wurde jedem Besucher lieb und teuer. Um so schmerzlicher traf die Danziger nach Ende des ersten Weltkrieges der Verlust dieses schönen Gebiets, das nun zweckentfremdet den Polen überlassen werden musste und u.a. ein Munitionshafenbecken erhielt. So schön in ihrer Art auch die übrigen Bäder der Danziger Küste waren, keines erreichte die Eigenart der Westerplatte in ihrer Verbindung von Strand- und Badeleben, Seestegpromenade, Waldidyll, Hafenbetrieb und Hafenausfahrt mit Mole und Leuchtturm. Das alles war nun durch einen Federstrich verloren. Wer von uns, die wir damals diesen Verlust so schmerzlich empfanden, mochte ahnen, dass wenige Jahrzehnte später nach einem zweiten Kriege das Kleinod unserer ganzen Heimat verlorengehen würde!
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Eine Leserin, Elsa Kreisel, schrieb einen Leserbrief, in dem sie auf den ersten Teil des Berichtes einging:
Zu dem Artikel in „Unser Danzig“ Nr. 18 vom 20. September 1963 von Theodor Wallerand „Badefahrt zur Westerplatte“ weiß ich zu den Preisen der kombinierten Ferienbadefahrkarten Genaues zu sagen: Die Hauptkarte für die Eltern betrug für Dampferfahrten und Seebad 5,-- Mark. Jede Kindernebenkarte kostete für den Ferienmonat Juli 3,-- Mark für Dampferfahrten und Seebad. Bedingung für uns Kinder aber war, so abzufahren, dass wir um 2 Uhr wieder in Danzig waren. Um Strand und See recht zu genießen, nahmen wir den 6-Uhr-Dampfer morgens und um 7 Uhr unser Bad. Nach 1 Uhr fuhren wir zurück und waren dann gegen 1.45 Uhr am Brotbänkentor, der Endstelle.
Die Nachmittagsdampfer hatten teurere Preise, waren aber auch stets voll besetzt. Morgens und vormittags war es aber gerade am schönsten. Das konnten wir alle Jahre genießen, und stets war bestes Sommerwetter in meiner Kindheit. Außer einem einzigen Juli, an dem es täglich regnete, trotzdem hielt uns nichts ab, denn man badete bei uns in Badeanstalten, in denen in verschließbaren, beaufsichtigten Zellen unsere Kleider und Sachen aufgehoben waren. Doch in dem verregneten Juli erlaubte man uns, in der Strandhalle uns aufzuhalten und artig zu spielen. Auch in dem Jahr erholten wir uns sehr gut.
Badefahrt zur Westerplatte
von Theodor Wallerand
Wer in den verflossenen heißen Sommerwochen dieses Jahres Gelegenheit hatte, in den kühlen Fluten der Ostsee ein erfrischendes Bad zu nehmen, dessen Gedanken schweiften dann sicher mit Wehmut zurück zum heimatlichen Strand. Wohl kaum eine andere Stadt hat so günstige Badeverhältnisse an der See aufzuweisen wie gerade Danzig. Viele Meilen weit zieht sich ja in unserem Freistaatgebiet vom Menzelbach bis zur Neuen Welt auf der Frischen Nehrung ein wunderbar reiner weißer Sandstrand von oft beträchtlicher Breite hin. Vergleichen wir ihn mit dem, den wir an der westlichen Ostseeküste meist vorfinden, können wir nur mitleidig lächeln. Und wie klar und rein ist dort das Wasser! Die unangenehmen Feuerquallen waren uns so gut wie unbekannt. Wie leicht und bequem konnte überall der Strand erreicht werden! Jeder suchte sich nach seinem Geschmack aus der Fülle der Bäder das aus, das ihm zusagte. Die meisten Danziger kennen wohl noch das Badeleben in Zoppot, Glettkau, Brösen und Weichselmünde, in Heubude, Krakau, Plehnendorf, Neufähr und Bohnsack, Schnakenburg, Schiewenhorst und Nickelswalde, in Pasewark oder Junkeracker, Steegen oder Stutthof bis hin nach Voqelsanq. Diese Kette von Bädern bot jedem das Seine. Das international berühmte Zoppot mit der Vielfalt seiner prächtigen Veranstaltungen, das ruhige gehoben bürgerliche Glettkau, Bad des idyllischen Oliva, Brösen, das Volksbad der Langfuhrer, Heubude, das Volksbad der Innenstädter, Bohnsack mit seinem kräftigen Wellenschlag, das robinsonhafte Gebiet des Weichseldurchbruchs, das einzigartig schöne und einsame Strommündungsgebiet des Weichseldurchstichs und die weiter östlich gelegenen Bäder, wo man an Wochentagen den riesigen kilometerlangen und manchmal mehr als 100 Meter breiten rein-weißen Sandstrand für sich allein haben konnte, sie alle hatten ihre Eigenart, ihre Vorzüge, ihre Liebhaber.
Ein Bad ist in dieser Perlenkette der östlichen Ostsee nicht genannt worden: Die Westerplatte. Die garstige Politik riss es aus der Reihe, denn nach Gründung des Freistaates nach dem I. Weltkrieg musste Polen ja unbedingt ein Munitionslager auf Danziger Gebiet unterhalten. An Wirklichkeit war das natürlich nur ein Vorwand für die Errichtung eines militärischen Brückenkopfes am Ausgang des Danziger Hafens, zu dem die Danziger außer dem Grund und Boden noch kräftige finanzielle Beihilfe zu leisten hatten. Der Völkerbund, der uns so oft im Stich gelassen hat, wachte in diesem Fall sehr gewissenhaft über die Ausführung der getroffenen Bestimmungen.
Vor dem ersten Weltkrieg aber war die Westerplatte mit ein Hauptseebad für die Danziger Bevölkerung. Als Junge habe ich das Leben und Treiben dort Sommer für Sommer mitbekommen, und die Erinnerung daran ist mir unauslöschlich eingeprägt geblieben. Damals war die Urlaubsreise breiter Volksschichten noch nicht üblich. Es gab noch keine Autos, abgesehen von den ersten ganz wenigen Ungetümen, die hie und da mal aufkreuzten, es gab auch noch nicht den heutigen Wohlstand um jeden Preis, zu dessen Erringung so manche wertvollen Sitten und Gepflogenheiten früherer Zeiten bedenkenlos geopfert werden. Zudem hatten wir Danziger ja unsere Erholungs- und Reisegebiete dicht vor der Haustür, und das in einer derartigen Fülle der Auswahl und Verschiedenheit der Landschaft, dass uns jede andere deutsche Stadt beneiden musste. Nur wir selbst waren in dieser Hinsicht vielleicht zu verwöhnt, dass wir es als selbstverständlich ansahen.
Die Seeküste erhielt im Sommer den Vorzug, und das war ganz natürlich. War doch unser Danziger Klima erheblich günstiger als etwa das der westlichen Ostsee. Wir hatten infolge der Lage im Regenschatten des „Gebirgslandes“ um den Turmberg herum weniger Niederschlag und wegen der kontinentalen Einflüsse des Ostens mehr Sonne und Sommerwärme, als die nördliche Seelage es zunächst hätte erwarten lassen. Umgekehrt gab es dann im Winter zur Freude der Skiläufer, Rodler und Eiskünstler auch häufig prachtvolle Schneelandschaften im umliegenden Hügelland oder spiegelgiänzende Eisflächen in der Weite des Werders. Der Sommer dagegen gehörte dem Baden und Schwimmen in der See. Die großen Ferien lagen in Danzig regelmäßig im Monat Juli und endeten gewöhnlich Anfang August, wenn der Danziger Dominik begann. (Das war wohl so eingerichtet, um der Danziger Schuljugend den Schulbeginn zu versüßen?) Der Juli wurde gewöhnlich der heißeste Monat, wenn auch die „Hundstage“ im August mitunter nicht zu verachten waren und das Baden in der See mit Ferienende noch längst nicht aufhörte.
Die Ferien veranlassten die Danziger Weichsel A.G. zu besonderem Entgegenkommen. Für billiges Geld - ich weiß leider nicht mehr den Preis, aber es waren nur wenige Mark - kauften die Familienväter ihren Kindern kombinierte Ferienbadefahrkarten, mit denen diese täglich beliebig oft den Dampfer zur Westerplatte und dazu einmal am Tag die dortige Badeanstalt benutzen konnten. Kein Wunder, dass fast die gesamte Danziger Schülerwelt von dieser famosen Einrichtung Gebrauch machte. Voll beladen mit fröhlicher Jugend dampften die Schiffe unablässig vom frühen Morgen bis in die späten Abendstunden die Mottlau und die Weichsel hinauf und hinunter. Besonders an den Vormittagen waren es die Jungen und die Mädchen, die zum Baden fuhren. Zum Mittagessen war die Mehrzahl wieder zu Hause. Die Entfernungen bis zur See waren ja so gering, desgleichen der Fußweg von der Anlegestelle zur Wohnung der meisten wegen des kreisförmigen Stadtgrundrisses, die Dampferfahrt so reizvoll, dass es wohl lohnte, sie zweimal am Tag zu machen.
Am Nachmittag fuhren dann die Mütter und, soweit sie Urlaub hatten oder der Dienst es zuließ, die Väter mit hinaus, und es entwickelte sich dann am Strand ein rechtes Familienbadeleben. Strandkörbe gab es kaum. Man buddelte sich seine Kaule und hatte im übrigen auf dem riesigen Strandbezirk Platz genug, um sich eine passende Stelle zu suchen und vom lieben Nachbar unbehelligt zu bleiben bzw. diesen nicht zu behelligen. (Kofferradios existierten ja ebenfalls nicht!) Dicht bei dicht, wie heute überall die Regel, kam gar nicht in Frage. Denn nach der Westerplatte fuhr ja nur ein Teil der Danziger, nämlich der, der zu den Dampfern einen nicht zu weiten Weg hatte. Die Langfuhrer hatten ihr Brösen, die Niederstädter zog es meist nach Heubude usw., besonders nachdem nach Fertigstellung der Breitenbachbrücke über die Tote Weichsel die Straßenbahnlinie nach Heubude eröffnet wurde, die direkt bis zum Badestrand durchging, obwohl die erheblich länger dauernde Dampferfahrt nach Heubude mit anschließendem Waldspaziergang zur See auch weiterhin immer ihre Liebhaber fand.
Unsere Strecke nach der Westerplatte aber durch den Kaiserhafen hindurch war etwas Besonderes! Schon wegen der Schiffe dieser Linie. Wir Jungen kannten ja jeden Dampfer genau. Mit einer Art Geringschätzung sahen wir auf die kleinen Dampfboote - es waren wirklich mehr Boote als Schiffe,
die nach Heubude verkehrten - herab. Daran konnten auch die stolzen Namen wie „Juno“, „Amor“ und dergleichen nichts ändern. Die Westerplattefahrer waren viel stattlicher, die „Vistula“ und „John Gibsone“, zu denen später „Falke“ und „Schwan“ traten, die sogar über See fahren durften. Vorher hatten wir noch die Veteranen „Pfeil“ und „Blitz“ kennengelernt, Raddampfer aus den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts, wenn ich nicht irre. Sie waren ziemlich lang gebaut, und das Ablegemanöver war für uns Jungen immer besonders spannend. War die Vorleine losgeworfen, ging die Maschine langsam rückwärts, die mächtigen Schaufelräder begannen, das trübe Mottlauwasser aufzuwerfen und in weißen Schaum zu verwandeln.
Die Achterleine hielt das Heck noch fest und schamfielte stöhnend und ächzend den Poller. Wenn dann der Bug genügend Abstand gewonnen hatte, wurde Ruder gelegt, der Maschinentelegraph klingelte, es wurde langsame Fahrt voraus gegeben, und das Schiff löste sich von der Anlegepier. Jetzt stieg die Spannung auf den Höhepunkt. Der Schiffsjunge oder Jungmatrose, der noch an Land stand, hatte die Achterleine loszuwerfen und musste rasch an Bord springen, ehe der Abstand zu groß wurde. Wir haben stets vergebens darauf gewartet, dass er in die Mottlau plumpste.
Ganz stolz waren wir, wenn wir, was meist nur auf der Heimfahrt geschah, einen richtigen Seedampfer erwischten, der den Dienst nach Zoppot oder gar Hela versah. „Drache“, ebenfalls noch mit Seitenradantrieb, war weniger gefragt. Auch der sonst bei den Danzigern so beliebte „Paul Beneke“ hatte bei uns nicht das Ansehen, da er auch Seitenräder besaß, die seiner Seetüchtigkeit nicht förderlich waren. „Hecht“, „Phönix“, „Gazelle“ waren zwar nicht groß, aber immerhin Schraubenschiffe. „Vineta“ dagegen, das war unser Fall! „Vineta“ galt als das seetüchtigste Schiff der Weichselflotte zusammen mit dem Eisbrecher „Richard Damme“ und konnte auch als Seeschlepper und Bergungsdampfer eingesetzt werden. Schon ihre tieftönige Sirene imponierte. Kam sie abends von Helafahrt zurück und machte an der Pier der Westerplatte fest, um mitzuhelfen, die Schwärme der Strandbesucher wieder zur Stadt zurückzubringen, sahen wir nach Möglichkeit zu, auf dieses Schiff und kein anderes zu gelangen. Es fuhr dann auch ohne Zwischenhalt bis Danziq durch. Kurz vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges kamen dann noch zwei Dampfer hinzu, die unser Jungenherz erfreuten, die „Zoppot“ und die größere „Hela“ mit zwei Schloten. Auf die „Hela“ konnten wir Westerpiatte-Fahrer natürlich nicht gelangen. Ich sah sie zuletzt als Hilfskriegsschiff mit grauem Anstrich Anfang des Krieges 1914. Was aus ihr geworden ist, ist mir unbekannt.
Der Reiz der Dampferfahrten zur Westerplatte lag, abgesehen davon, dass jede Dampferfahrt an und für sich reizvoll ist, darin, dass man unterwegs hochinteressante Dinge zu sehen bekam. Die einzigartig malerische Mottlaupartie an der Langen Brücke, der Speicherinsel, dem Fischmarkt und Brabank vorbei mag immer wieder das Auge des Erwachsenen entzückt haben, aber irgendwie im Unterbewusstsein spürten auch wir Kinder schon ein wenig die Schönheit dieses Hafenbildes. Dann gelangte man hinter Strohdeich und dem Schuitensteg zur Weichsel. Hatten schon vorher im Binnenhafen kleinere Frachtdampfer, die an der Speicherinsel löschten oder Ladung nahmen, die Aufmerksamkeit beansprucht, so erregten nun das Hämmern und Dröhnen, das von den großen Werften hinüberklang, und der Anblick grauer Kriegsschiffe die Herzen. Waren es auch nicht gerade die stolzesten Vertreter der damals so stolzen und mächtigen deutschen Kriegsflotte, die in Danzig lagen, so waren es immerhin Kriegsschiffe, die bei uns Bengeln doch weit vor den Dampfern der Weichsel A.G. rangierten. Gewissermaßen im zeitweiligen Ruhestand lagen in Kiellinie hintereinander und in Päckchen zu zweien die alten Küstenpanzer mit den Namen aus der germanischen Heldensage, die „Beowulf“ und „Heimdall“, „Ägir“ und „Odin“ usw., im ganzen acht an der Zahl. Abgerüstet, ohne Besatzung lagen sie da, als ob sie warteten. Und tatsächlich machten sie noch einmal Dampf auf. Bei Kriegsausbruch sah ich sie einmal in langer Kiellinie an unserer Küste entlang dampfen. Sie waren, wenn auch nur für kurze Zeit, wieder in Dienst gestellt. Eine ähnliche Rolle wie sie spielten die alten Linienschiffe „Brandenburg“ und „Wörth“, rund 10 000 t groß, die hinter den Küstenpanzern lagen. Auch sie hatten keinen Gefechtswert mehr, ebenso wenig wie die veralteten kleinen Kreuzer „Gefion“ und „Amazone“.
Auf dem linken Stromufer dagegen bei den Helligen der Werften tat sich etwas. Leider konnte man vom Bäderdampfer aus nicht viel erhaschen, am ehesten noch etwas von den im Bau befindlichen Unterseebooten, die damals aktuell zu werden begannen. Die Kaiserliche Werft in Danzig und die Kruppsche Germaniawerft in Kiel waren die Hauptwerften für den U-Bootbau. Bei Schichau weiter hinten wurde an den größten Kriegsschiffen damaliger Zeit gearbeitet. Die letzten dieser Panzerriesen waren das Großlinienschiff „Baden“ und der Schlachtkreuzer „Graf Spee“, nicht zu verwechseln mit dem aus dem zweiten Weltkrieg bekannten viel kleineren Panzerschiff „Admiral Graf Spee“. Jene genannten Riesen hatten gegen 30 000 t. Interessant waren auch die schnellen Kreuzer, die Schichau für Russland baute und die dann infolge des Kriegsausbruches für Deutschland fertiggestellt wurden und die Namen „Pillau“ und „Elbing“ erhielten. Wie gesagt, konnte man dieses Geschehen auf den Werften bei flüchtiger und entfernter Vorbeifahrt mehr ahnen als erkennen. Dennoch beeindruckte es, besonders im Sommer 1914, als der politische Horizont sich so verdüsterte. Aufgefangene Gespräche der erwachsenen Fahrgäste ließen uns in etwa den ernsten Hintergrund des Bildes ahnen. Wenige Monate später sah ich dann als Angehöriger der Marinejugendwehr deutlich an Ort und Stelle, was in Friedenszeiten auf der Badefahrt die Neugier erweckt hatte.
Kehren wir aber zur friedlichen Reise nach der Westerplatte zurück! Im Kaiserhafen konnte man schon große Frachter bewundern, denn dieser war auf zehn Meter Wassertiefe ausgebaggert. Das Bild setzte sich fort im langen Hafenkanal zwischen Weichselmünde und Neufahrwasser, noch einmal leicht kriegerisch unterbrochen durch die vor Weichselmünde vertäuten sogenannten kleinen ungeschützten Kreuzer der Raubvogelklasse („Geier“, „Kondor“, „Bussard“, „Falke“ usw.), außer Dienst gestellte Schiffe von ca. 1600 t, die in ihren besseren Tagen noch Hilfsbesegelung gefahren hatten. Auch die ehemalige Kaiserjacht „Hohenzollern“, nunmehr in „Kaiseradler“ umbenannt, lag dort.
Dann tauchte das Idyll der Festung Weichselmünde auf. Mit ihren weißen Mauern, den grünen Wällen, dem Klubhaus des „Gode Wind“ und dem Mastenwald der in ihren Wassergräben liegenden Segeljachten bot sie ein Bild des Friedens. Bevor unser Dampfer in Westerplatte anlegte, passierte er noch die vierkantige flache Dampffähre „Westerplatte“, die die Jugend Neufahrwassers zum Strand hinüberbrachte. Wahrzeichen Neufahrwassers waren für uns neben den Schiffen die Doppeltürme der Himmelfahrtkirche. Hinter dem bei den Kapitänen größerer Schiffe berüchtigten Knie des Hafenkanals und hinter der Anlegestelle der Bäderdampfer lagen häufig die kleinen Ostseeschoner der Schweden und Dänen, die recht schmuck und sauber aussahen. Zur Zeit der Segelregatten lagen hier nicht minder schmuck und sauber zahlreiche schnittige Jachten. So gab es für uns während der Fahrt und auch nach dem Aussteigen immer sehr, sehr viel Interessantes zu sehen. Manchem Danziger Jungen mag sich auf diesen Fahrten der Gedanke, einmal zur See zu gehen, zu einem ernsthaften Berufswunsch verdichtet haben.
Hatten sich unsere schauhungrigen Augen satt gesehen oder trieb uns ein zum Glück seltener Dauerregen unter Deck in die Kajüte oder in den „Salon“, denn wir besaßen ja auch „Salondampfer“, war die Reise nicht minder reizvoll. Aus der Reihe unserer Bordspiele sei hier das Knöpfchenspiel erwähnt. Vor 1914 trug man noch oft Schuhe zum Knöpfen. Von ausgedientem Schuhwerk wurden nun immer mehrere der kleinen, runden Knöpfchen zu einem größeren Knopf zusammengefügt. Etwa fünf oder sechs solcher Knöpfe gehörten zu einem Spiel. Es galt nun, einen der Knöpfe hochzuwerfen und geschickt wieder zu fangen und dabei mit der gleichen Hand noch vor dem Auffangen des geworfenen Knopfes die übrigen Knöpfe in den verschiedensten Varianten auf der Tischplatte aufzubauen oder wieder einzukassieren. Gute Spieler und häufig auch Spielerinnen erzielten mitunter ganz erstaunliche Leistungen, die Gesellschaft amüsierte sich königlich, und die Fahrt ging viel zu schnell zu Ende. Wer entsinnt sich noch des „Knöpfchenspiels“? Natürlich gab es noch andere Kurzweil. Kein Wunder, dass wir uns auf die Dampferfahrt stets genauso freuten wie auf Seebad und Strand, gleich ob die Sonne schien, was meist der Fall war, oder ob es regnete. Bei ganz schlimmem Regen fuhr man einfach hin und zurück spazieren, ohne das Schiff zu verlassen.
Näherte sich der Dampfer dem Ziel, erhielt er erst einmal Schlagseite. Alles stürzte zur Steuerbordseite, um möglichst zuerst aussteigen zu können. Denn nun begann der Wettlauf durch den Wald zum Bad. Wer zuerst da war, suchte sich unter den noch leer stehenden Zellen die beliebtesten aus. Äußerlich waren sie zwar alle gleich, aber für uns Kenner besaßen sie doch ihre geheimen Vorzüge oder Nachteile. Wer also spät ankam, musste vorlieb nehmen mit dem, was übrig blieb, oder gar warten, bis etwas frei wurde. Die Benutzungszeit war je nach Betrieb auf 45 bis 60 Minuten beschränkt. Ging man aber zu zweien in eine Zelle, sprang die doppelte Zeit heraus. Selbstverständlich gab es in Westerplatte nur ein Herren- und ein Damenbad. Ein Familienbad wurde gerade im mondänen Zoppot errichtet. Später, als das Freibaden überhand nahm, löste diese Frage sich von selbst. Wir Knirpse hatten anderes im Sinn. Wer schwimmen konnte, was für die meisten von uns zutraf, ging mit Kopfsprung von der letzten Treppe ins Wasser. Beliebt waren dafür einzelne Pfähle, die die Brücke stützten. Tollkühne sprangen sogar von der höheren Brücke und mussten in möglichst flachem Bogen rasch wieder auftauchen, um nicht mit dem Kopf auf Grund zu geraten, da es hier noch nicht tief war. Wehte bei stürmischer See die rote Flagge, durfte nicht über die letzte Leine hinaus geschwommen werden, sonst waren das weiter draußen verankerte Floß und der noch entferntere Sprungturm begehrte Ziele.
Auf unseren Waldläufen zum Bad hatten wir übrigens einen neuen Weg für die Allgemeinheit geschaffen. Zur Abkürzung des Weges liefen wir nämlich an einer Stelle quer durch den Wald. Der Boden war hier so dicht mit Kraut bewachsen, dass wir zunächst immer nur einer hinter dem anderen laufen konnten. Nach kurzer Zeit war ein Trampelpfad ausgetreten, der im nächsten Jahr wieder benutzt und von den kleinen Füßen auf mehr als doppelte Breite gebracht wurde. Bald wuchs hier kein Kraut mehr (uns war eben kein Kraut gewachsen!), und alle Erwachsenen benutzten die Abkürzung, die wieder ein Jahr später sogar eine Drahtzauneinfassung und somit offiziellen Wegcharakter erhielt. Wir hatten durch unsere Pionierarbeit der Gemeinde eine Menge Geld gespart. Das Westerplatter Wäldchen bot viele hübsche Spazierwege und Ruheplätzchen bis hin zu den Küstenbatterien, wenn der Strand auch die Hauptanziehungskraft ausübte.
Wenn der Lehrer- oder Männergesangverein sein Sommerkonzert gab, standen Kurgarten und Kurhaus im Mittelpunkt. Die Westerplatte hatte auch einen stattlichen Seesteg zum Promenieren, der aber schließlich den Stürmen eines Eiswinters zum Opfer fiel. Eine schlimme Plage waren in manchen Jahren die unzähligen Mücken. In vielen Sandkaulen zündeten die Gäste wahre Lagerfeuer zur Vertreibung der blutgierigen Biester an, was besonders in der Abendstimmung recht romantisch aussah. Schließlich raffte sich die Stadt zu einem Generalangriff auf, und siehe da, im nächsten Jahr waren die Mücken verschwunden.
Schweifte man am Strand nach Osten, gelangte man zu einer Wellenbrechermauer, die zum Teil aus aufgehäuften Granitblöcken, zum Teil aus einer fest gebauten Betonmauer bestand. Zwischen ihr und dem Strand lag abgeschlossen gleichsam eine Lagune mit immer ruhigem und flachem Wasser, ein idealer Kinderspielplatz zum Plantschen, Schiffchenfahren und „Stuchel“-Fangen. Nach Westen führte die Strandwanderung zur Hafenmole und zum Leuchtturm. Stundenlang konnte man auf den Stufen des Leuchtturms am Molenkopf sitzen, auf die See hinaus blicken und träumen oder die aus- und einlaufenden Schiffe beobachten. Ein Hauptereignis war jeden Sommer der Besuch deutscher Kriegsschiffe. Meist waren es die Schulkreuzer der „Hansa“- oder „Vineta“-Klasse, die an der Mole festmachten. Sie hatten Seekadetten und Schiffsjungen zur Ausbildung an Bord, und mancher Danziger Junge blickte neidisch zu diesen hinauf an Deck. Die Schiffe wurden natürlich auch dem Besucherstrom freigegeben. Da nahm das Staunen dann kein Ende.
So bot die Westerplatte viel Abwechslung und viel Interessantes und wurde jedem Besucher lieb und teuer. Um so schmerzlicher traf die Danziger nach Ende des ersten Weltkrieges der Verlust dieses schönen Gebiets, das nun zweckentfremdet den Polen überlassen werden musste und u.a. ein Munitionshafenbecken erhielt. So schön in ihrer Art auch die übrigen Bäder der Danziger Küste waren, keines erreichte die Eigenart der Westerplatte in ihrer Verbindung von Strand- und Badeleben, Seestegpromenade, Waldidyll, Hafenbetrieb und Hafenausfahrt mit Mole und Leuchtturm. Das alles war nun durch einen Federstrich verloren. Wer von uns, die wir damals diesen Verlust so schmerzlich empfanden, mochte ahnen, dass wenige Jahrzehnte später nach einem zweiten Kriege das Kleinod unserer ganzen Heimat verlorengehen würde!
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Eine Leserin, Elsa Kreisel, schrieb einen Leserbrief, in dem sie auf den ersten Teil des Berichtes einging:
Zu dem Artikel in „Unser Danzig“ Nr. 18 vom 20. September 1963 von Theodor Wallerand „Badefahrt zur Westerplatte“ weiß ich zu den Preisen der kombinierten Ferienbadefahrkarten Genaues zu sagen: Die Hauptkarte für die Eltern betrug für Dampferfahrten und Seebad 5,-- Mark. Jede Kindernebenkarte kostete für den Ferienmonat Juli 3,-- Mark für Dampferfahrten und Seebad. Bedingung für uns Kinder aber war, so abzufahren, dass wir um 2 Uhr wieder in Danzig waren. Um Strand und See recht zu genießen, nahmen wir den 6-Uhr-Dampfer morgens und um 7 Uhr unser Bad. Nach 1 Uhr fuhren wir zurück und waren dann gegen 1.45 Uhr am Brotbänkentor, der Endstelle.
Die Nachmittagsdampfer hatten teurere Preise, waren aber auch stets voll besetzt. Morgens und vormittags war es aber gerade am schönsten. Das konnten wir alle Jahre genießen, und stets war bestes Sommerwetter in meiner Kindheit. Außer einem einzigen Juli, an dem es täglich regnete, trotzdem hielt uns nichts ab, denn man badete bei uns in Badeanstalten, in denen in verschließbaren, beaufsichtigten Zellen unsere Kleider und Sachen aufgehoben waren. Doch in dem verregneten Juli erlaubte man uns, in der Strandhalle uns aufzuhalten und artig zu spielen. Auch in dem Jahr erholten wir uns sehr gut.