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Wolfgang
07.11.2009, 15:25
Aus „Unser Danzig“ Nr. 22 vom 20.11.1964, Seite 14

Goldener Herbst im Werderland
Von Kurt Bartels

Gestern noch heulte der Wind ums Haus, entblätterte hier eine Linde und trieb dort das Laub vor sich her. Heute ist die stürmische Bewegung einer nachdenklichen Stille gewichen. So bewegt, wie gestern die Natur in ihrer prachtvollen herbstlichen Schönheit war, so bewegt sind heute meine Gedanken. Sie machen sich selbständig und wandern den weiten Weg zurück in das Land unserer Heimat. Zu der geschäftigen Stadt an der Ostsee und den geruhsamen behaglichen Flecken und Dörfern des Werders, der Niederung und der Danziger Höhe. Unsere Sehnsucht eilt mit den Gedanken mit. Sie ist immer wach und lässt sich durch nichts verdrängen. Ja, sie war schön, unsere Heimat! Oft, wenn wir uns ansehen, braucht es keiner Worte. Unsere Augen sagen es uns: „Weißt du noch, damals!“

Der Herbst im Werderland war meistens überschwänglich mit seinen vielseitigen Gaben. Er brachte dem Landmann den Lohn für die harte Arbeit, die vom frühen Frühjahr an auf den Feldern und Fluren hatte geleistet werden müssen.

Die Scheunen und Böden waren schon gefüllt mit schweren Getreidegarben, wenn der Herbst seinen eigentlichen Einzug bei uns hielt. Wie dankbar waren die Menschen im Werderland, wenn einem trächtigen Sommer mit ausreichendem Regen ein trockener Herbst folgte, der das Einbringen der Hackfrüchte erleichterte. Dann machte es wirklich Spaß, Kartoffeln, Vieh- und Zuckerrüben auszunehmen und einzubringen. Von früh bis spät waren alle Hände fleißig, denn vor dem großen Regen - der fast immer in der Mitte des Novembers einsetzte - musste auch die letzte Frucht dem schweren Lehmboden entnommen sein. Wehe dem Bauern, der es bis dahin nicht schaffte! Manchmal blieben die Zuckerrüben in den Haffniederungen dann auf dem Felde. Es war einfach nicht möglich, sie dem alles festsaugenden Boden zu entreißen. Die aufgeweichten Feldwege ließen sich nicht mehr befahren.

Wer sein Land nicht ganz dicht an der Königsberger und Elbinger Weichsel oder an einem anderen der zahlreichen Flussläufe im Weichsel- und Nogatdelta hatte - von hier wurden die Zuckerrüben zu den Zuckerfabriken in Tiegenhof und Neuteich verschifft -, der hatte die schwere Arbeit bis zur Ernte umsonst getan. Gott sei Dank passierte das nicht allzu oft, aber es kam doch vor. Meistens jedoch hatte der Himmel ein Einsehen. Die Sonne nahm alle Kraft zusammen, um den späten Herbsttagen goldenes Licht und Wärme zu geben. Es waren Tage, wie man sie wohl nur im Land zwischen Haff und Weichsel erleben konnte. Eine verklärte Sonne, die einen silbernen Dunst am fernen Horizont des flachen Landes hervor zauberte, ließ wohl schon den langen Winter ahnen; an ihn dachte man jetzt jedoch noch nicht.

Die lange Zeitspanne zwischen Säen und Ernten brachte außer schwerer körperlicher Arbeit auch Freuden mit sich, die dem Landmann und jedem naturverbundenen Menschen in unserer Heimat die Arbeit leichter werden ließ. Für viele war es die Jagd. Mit der Hasenjagd, die am 15. Oktober aufging, begann die eigentliche Niederjagdsaison. Aber schon seit Mitte Juli donnerten die Büchsen in den weiten Schilfflächen des Frischen Haffs; mit reicher Beute kehrten am Morgen die Entenjäger nach Haus. Es ist kaum möglich, die vielen Wildentenarten aufzuzählen, die sich an den flachen Ufern des Haffs verborgen hielten. Wenn zehn Entenjäger 1942 zusammen 30.000 Enten erlegten, so müssen hunderttausende dort gewesen sein.

Langsam ging nun auch das Weidejahr zu Ende. Das schwere, schwarzweiße Vieh des Werderlandes wurde Ende Oktober noch für eine Woche auf die abgeernteten Rübenfelder getrieben, um das wertvolle Rübenblatt aufzufüttern. Danach kam es dann in die warme Behaglichkeit des Stalles, aus dem nun, nach der sommerlichen Leere, zufriedenes Muhen zu hören war. Das Melken, in den letzten Wochen auf den schlammigen Haffwiesen, hatte den Mägden nicht mehr gefallen. Oft murrten sie, wenn sie am frühen Morgen in der Dunkelheit und im kalten Nebel zur Haffkoppel mussten. Das aber war nun ja vorbei, und jetzt im warmen Stall sangen sie wieder bei der Melkarbeit.

Mit den ersten kalten Tagen im November begann auch die Zeit der Schlachtfeste. Manch dickes Schweinchen musste jetzt sein Leben lassen. Die Hausschlachter zogen von Hof zu Hof und von Haus zu Haus. Manch Fläschchen Machandel wurde dabei ausgetrunken, und überall herrschte geschäftiges Treiben und fröhliches Schmausen. Nun war aber auch die Zeit der vielen, vielen Gänse und Enten gekommen. Tagelang waren die Frauen und Mägde mit dem Rupfen der teuren Vögel beschäftigt. Mit der Kleinbahn - der „Rasende Nehrunger“ genannt - oder den Flussdampfern „Friede“ und „Elisabeth“ wurden sie nach Danzig verfrachtet. Im Ratskeller und anderen Gaststätten warteten schon gaumenverwöhnte Bürger auf zartsaftigen Enten- und Gänsebraten.

Ja, es wurde - gerade was Essen und Trinken anbetrifft - sehr gut gelebt in unserer Heimat. Das Land war ja so reich an Naturprodukten aller Art, die äußerst preiswert waren. Jeder kleine Kätner hatte zwei bis fünf Schweine, Hühner, Gänse und Enten zum Eigenverbrauch, hauptsächlich aber zum Verkauf, um die schmale Haushaltskasse etwas aufzufüllen.

Nicht nur das bescherte uns der Herbst. Er verzauberte den langen bewaldeten Küstenstreifen, der sich an der Frischen Nehrung von Pillau bis nach Nickelswalde hinzog. Der Mischwald zeigte sich dann in seiner schönsten Pracht. In allen Farben schillerte das Laub und lenkte die Blicke der naturliebenden Wanderer auf sich. Sie suchten und fanden immer neue Anhaltspunkte zum Schauen und Verweilen. Eine Wanderung, ein Durchstreifen durch den schmalen, etwa drei Kilometer breiten Waldsaum, der der Ostsee vorgelagert war, hatte auch zu dieser Jahreszeit seinen Reiz. Und dann erst die Ostsee! Schon von weitem hörten wir das Rauschen der Brandung, die sich auf dem breiten, gelben Strand brach. Die herbstlichen Nordweststürme warfen jetzt besonders reichlich das begehrte Gold der Ostsee, den Bernstein, an den Strand. Schon in aller Frühe waren viele Bernsteinsucher unterwegs; ihr Fleiß wurde gerade jetzt reichlich belohnt.

Jedem, der zu sehen verstand, hatte er viel zu geben. Deshalb erfüllte er uns auch mit Freude, der goldene Herbst im reichen Werderland.

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Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang