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Wolfgang
07.11.2009, 17:02
Aus „Unser Danzig“ Nr. 14 vom 20.07.1964, Seite 17

Heimat am Frischen Haff
Von Kurt Bartels

Es war schon ein schönes Stückchen Erde, der schmale Landstreifen zwischen Ostsee und Haff. Ein wenig von der Technik vergessen, die hier ihren Einzug noch nicht richtig gehalten hatte, war es ein Paradies für Urlauber und Naturfreunde, die sich von dem Tribut, den der sogenannte Fortschritt der Technik unaufhörlich von ihnen forderte - der Unrast, dem Hasten und der permanenten Anspannung -, erholen wollten. All das, was sie dazu benötigten, Ruhe, Behaglichkeit, Vergessen und die malerische Schönheit dieser Landschaft, wurde ihnen hier im Überfluss geboten.

Wann traf man dort denn schon einmal eine stinkende Benzinkutsche oder gar ein knatterndes Motorrad an. Das kam doch sehr selten vor. Den Passagierverkehr von Ort zu Ort - zwischen Stutthof und Kahlberg - hielt eine Postkutsche aufrecht. Sie zockelte mit ihrer Fracht, gemütlich und immer lustig und vergnügt, von einer Poststation zur nächsten.

Bodenwinkel, an der Nordwestecke des Haffes gelegen, war das erste von einigen idyllischen Dörfern, die lang hingestreckt an der Frischen Nehrung klebten. Um es zu erreichen, musste der Wanderer durch die Stutthöfer Hinterheide.

Die Hinterheide war nicht etwa Wald, hiermit war der nordöstliche Teil von Stutthof gemeint. Nur nach dorthin - in den Wald - hatten die Einwohner noch Möglichkeiten gehabt sich anzusiedeln. Der fette Lehmboden, südlich des Dorfes, war reine landwirtschaftliche Nutzfläche; und der Bauer war bei uns wohl nicht zu finden, der von seinem Besitz Bauland verkaufte.

Gleich hinter den letzten Häusern, am Ostrande Stutthofs, begann der hohe Kiefernwald. Ein Weilchen war auf dem Weg noch das Fauchen der Krauseschen Sägemühle zu hören, dann umfing den Wandersmann eine wohltuende Stille, die nur vom Jubilieren der Vögel und dem leisen Rauschen der Wipfel belebt wurde. Im Walde rauschte und wisperte es. Dem, der seine Sprache verstand, hatte er viel zu sagen. Der aromatische Duft der Walderdbeeren lud ein zum Schmausen und zum Verweilen.

Schon weit bevor der Wald sich zu lichten begann, spürte man den Odem des Haffes. Dieser eigenartige, aus vielen Komponenten zusammengesetzte Geruch, verjagte schlagartig Müdigkeit und Träumerei. Die Sinne wurden wach und aufnahmebereit, um sich nichts von dem Neuen entgehen zu lassen. Das erste Haus war die Försterei. Behaglich und behäbig, zum Teil von Bäumen verdeckt, lag es vor uns. Nach wenigen hundert Schritten erreichten wir den westlichen Teil Bodenwinkels. Einige schmucke Holzhäuser hatten sich eigenwillig ein Stück in den Wald hinein geschoben.

Eigenwillig, wohl auch eigenartig waren die Menschen dieses Ortes. Mehr noch als in den anderen Dörfern, am Küstenstreifen der Danziger Bucht, hatten sie sich vom Fremden und Neuen abgekapselt. Der Fremde, der hierher kam, wurde mit Vorbehalt aufgenommen. Scheu und voller Misstrauen wurde er von den Ansässigen betrachtet und behandelt. War jedoch nach einiger Zeit der Bann gebrochen, so wurde er herzlich in ihrer Mitte aufgenommen und als einer der ihren angesehen. Im allgemeinen blieb man aber gerne unter sich in Bodenwinkel. Selten kam es vor, dass ein Bodenwinkler ein Mädchen aus Stutthof heiratete oder umgekehrt. Erst in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre trat hierin eine gewisse Lockerung ein. Die Überwindung der Arbeitslosigkeit brachte es mit sich, dass einige Männer der Haffischerei nun doch ade sagten und auf den Werften Danzigs und Elbings Arbeit suchten und fanden. Hier sahen sie, dass hinter den Ortsgrenzen ihres Dorfes die Welt nicht aufhörte, sondern erst begann. Sie waren es, die dann die eherne Umhüllung ihres Dorfes sprengten. Ihnen hatte Bodenwinkel diese Auflockerung zu verdanken. Mit dieser Auflockerung trat eine Belebung des Fremdenverkehrs ein, von dem die anderen Orte schon längst profitierten. Auch im Sprachlichen hatte sich hier eine besondere Art des Dialektes ausgebildet. Während unter den Bewohnern des Werders und der Dörfer am Küstenstreifen, von Stutthof bis vor Danzig, kein sprachlicher Unterschied festzustellen war, so wusste man überall, wo man ihn hörte, dass man es mit einem Bodenwinkler zu tun hatte. Wer kennt sie nicht, die Bahrs und die Gnoykes, die Klatts und die Gehrkes und viele, viele andere. Ein stolzer, aufrechter, wenn auch verschlossener Menschenschlag, für den nur das eine galt, „Meine Welt ist meine Heimat, und all das, das ist mein Bodenwinkel“

Um aus dem Wald herauszukommen, machte die Straße nun einen scharfen Knick nach Süden. Vor der Gastwirtschaft Folkerts bog sie wieder nach Osten, um von jetzt ab das Ufer des Haffes in Bodenwinkel nicht mehr zu verlassen. Würzige Rauchluft - aus den Kaminen der vielen Räuchereien - vermischte sich mit dem kernigen Teergeruch der Haffkähne, von denen immer einige aufs Land, zum Teeren und Kalfatern gezogen waren, mit dem frischen Odeur des Haffes zu einer Duftkomposition, die für die Sommergäste etwas Anregendes und Berauschendes hatte, von den Einheimischen jedoch kaum wahrgenommen wurde, weil sie es von Geburt an so gewöhnt waren.

In den Räuchereien wurde oft fast Tag und Nacht gearbeitet, um den gefräßigen Moloch Stadt - Danzig und Elbing - mit delikater Räucherware zu versorgen. Hier gab es tiefbraune Aale, zartgoldene Flundern, Breitlinge und Perpein, und auch der echte Ostseelachs wartete in kleine Holzkästen verpackt darauf, seiner Bestimmung zugeführt zu werden.

Im Schilf, das stellenweise bis an die Straße heran reichte, grindelten Wildenten und Blesshühner. Es war fast so, als spürten sie, dass die Jagd noch nicht auf war. Aber schon nach dem ersten Büchsenschuss mieden sie die Nähe des Menschen, der ihnen nachstellte. An den Ufern des Haffes gab es viele Entenjäger, von denen einige bis zu 300 und mehr Wildenten während der Jagdzeit im Spätsommer und Herbst erlegten.

Wie flüssiges Blei schillerte das Wasser des Haffes in der Nachmittagssonne. Die Elbinger Höhe, die sich sonst scharf vom Himmel abgegrenzt zeigte, war in der Sonnenglast kaum auszumachen: das Zeichen eines aufkommenden Gewitters. Ein paar vom Fang heimkehrende Angelkähne ließen ihre Segel fallen und gingen vor Anker. Wo man auch hinschaute, überall war in der Stille Bewegung. Die Zeit stand auch hier nicht still, obwohl es manchmal so schien. Sie lief nur anders ab als in der Stadt. Man ließ sich von ihr nicht antreiben. Sagte man zu einem dieser mit sich und ihrer Heimat zufriedenen Menschen „Ich habe keine Zeit“, so schaute er den Sprecher verwundert oder entgeistert an. Zeit, das war ein Begriff für sie, den man nicht mit der Uhr zerlegen konnte. Etwas, das von der Ewigkeit kam und zur Ewigkeit ging. Ein endloses Band, das nur unterbrochen wurde vom stetig wiederkehrenden Werden und Vergehen.

Wohl zwanzig Sicken (kleine Einmannfischerboote) hatten an einem großen Kutter der Danziger Fischereigenossenschaft festgemacht, um ihren Fang zu übergeben. Das Wasser quirlte und schäumte auf, wenn die Fische mit dem Ketscher aus dem Kasten des Sickens an die Oberfläche geholt wurden. Schleie und Brassen, Zander und Hechte, Barsche und armdicke Aale wirbelten wild durcheinander. Erst im großen Fischkasten des Kutters kam der Segen des Haffes wieder zur Ruhe. Der Anblick der lebenden Aale ließ den Kenner gleich an Aalsuppe denken. Welchem Genießer lief nicht bei diesem Gedanken das Wasser im Munde zusammen.

Nach Bodenwinkel folgte Vogelsang. Dieser Ort trug seinen Namen mit Recht. Hier schien tatsächlich alles zu singen und zu jubilieren. Die Vogelsänger waren ein aufgeschlossenes, lustiges Völkchen, grundverschieden von den Bodenwinklern, mit deren zeitweiliger Schwere sie nichts gemein hatten. Der unvergessliche Lehrer und Schulleiter Hans Werner, der dort viele Jahre wirkte, gründete eine Singspielgruppe, mit der er in den anderen Dörfern große Erfolge erzielte. Bis auf die ausgelassene Fröhlichkeit unterschied sich das Leben auch hier nicht von den anderen Haffdörfern.

Am Ortsausgang suchte die Straße nun wieder den Wald auf. Aus einem Klassenraum der Schule erklang, von jungen Stimmen gesungen, das Lied „Wo des Haffes Wellen trecken an den Strand ...“ Es sagte mir, was sie für uns bedeutete: Die Heimat am Frischen Haff!

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Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang