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Wolfgang
07.11.2009, 16:26
Aus „Unser Danzig“ Nr. 18 vom 20.09.1964, Seite 8

Danziger Eindrücke eines Franzosen
Ein Bericht aus der Zeit um 1900
Von Jules Huret

An einem schönen Sommerabend traf ich in Danzig ein und fuhr mit einem offenen Wagen durch die ganze Stadt. Abgesehen von dem elektrischen Licht kam ich mir vor, als ob ich mich in einer mittelalterlichen Stadt befände. Selbst in Nürnberg bekommt man keinen so lebhaften Eindruck von vergangenen Zeiten. Die engen Straßen bestanden ganz aus schmalen, statuengeschmückten Giebelhäusern, deren Fassaden in jedem Stockwerk nur zwei bis drei Fenster aufwiesen. Wir fuhren durch massive Tore, deren Türme und Zinnen bei Nacht ein drohendes Aussehen bekamen. Aber bei Tage ändert sich dieser Eindruck ein wenig. Die Häuser öffnen die großen Spiegelscheiben ihrer hellen Läden, und man sieht, dass ziemlich viele von ihnen neu sind. Um jedoch die Harmonie aufrecht zu erhalten, baut man sie nach alten Mustern. Die gestern entstandenen Banken sehen aus wie Burgen oder Kathedralen, und die neuen Schulen gleichen stolzen Renaissancepalästen.

Übrigens darf sich die Stadt zu den schönsten ganz Deutschlands zählen und auch zu den allerinteressantesten für einen Liebhaber alter Kunst und historischer Erinnerungen. Nachdem sie abwechselnd Vasallin der deutschen Ordensritter und freie Hansestadt gewesen war, fiel sie bei der zweiten Teilung Polens an Preußen, wurde 1807 von den Franzosen besetzt und schließlich 1814 auf dem Wiener Kongress dem König von Preußen zugesprochen. Aus dieser bewegten Vergangenheit besitzt Danzig noch zahlreiche Andenken.

Seit 1878 ist Danzig Hauptstadt Westpreußens geworden, und seit der Zeit hat sie einen großen Aufschwung genommen. Draußen, außerhalb der Grenzen der Altstadt, sind ganz neue Viertel entstanden. Auch hier steht die Architektur mit derjenigen der alten Stadtteile in Einklang, und zahlreiche, große Gebäude - Banken, Bahnhof, Dienstwohnungen hoher Beamten, moderne Läden und prächtige Villen - zeugen von dem Gedeihen der neuen Hauptstadt.

Will man sich aber in die Vergangenheit zurückversetzen, so muss man die Langgasse und den Langen Markt, die Mottlau-Kais und die engen Gassen aufsuchen. Dort ragt der Artushof empor, der heute als Börse benutzt wird. Die Halle, in der sich die Reeder und Kaufleute versammeln, wird von vier Granitsäulen getragen; an den bemalten Wänden sieht man hier und da einen Hirschkopf mit gewaltigem Geweih, Rüstungen, Lanzen und Fahnen. Modelle von Karavellen und Fregatten hängen von der Decke herab. In der Langgasse erheben die hohen, schmalen Häuser ihre Giebel mit den zahlreichen Statuen und Obelisken zum grauen Himmel empor, und als Hintergrund für diese elegante Perspektive ragt von dem roten Backstein-Rathaus weit über die Dächer hinaus der schlanke, 80 Meter hohe Turm mit seiner vergoldeten Statue in die Wolken hinein. Wenn man sich für merkwürdige Holzarbeiten interessiert, muss man das Rathaus besuchen. Es gibt dort geradezu wunderbare Täfelungen und Zimmerdecken und eine herrliche Treppe aus dem 17. Jahrhundert.

Dahinter liegen parallel mit dieser Hauptstraße mehrere kleinere, die sich ihren mittelalterlichen Charakter vollständig bewahrt haben. Jedes Haus hat vorn eine Art Perron, zu dem sechs bis sieben Stufen hinaufführen: die sogenannten „Beischläge“. Alle diese Gassen münden auf den Mottlau-Kai. In alter Zeit wurden sie abends nach der Feierabendglocke geschlossen. Die von Türmen eingefassten Tore sind noch vorhanden, doch schließt man sie nicht mehr. Ihre schwerfälligen Silhouetten geben dem dahinter fließenden Strom ein noch trübseligeres Aussehen. Am jenseitigen Ufer der Mottlau liegen die großen Speicher.

Noch heute erinnert man sich in Danzig mit Schrecken der französischen Okkupation. Man spricht auch von dem Bombardement Marschall Lefèbres und von den Kriegskontributionen. Man zeigt an der Fassade des Arsenals, eines entzückenden Renaissancebaues, 36 im Stein steckengebliebene französische Kugeln und andere in der Jopengasse und am Artushof, die alle sorgfältig bewahrt worden sind. Und man fühlt hier noch jetzt eine lebhaftere Abneigung gegen Frankreich durch als in anderen Gegenden von Deutschland. Das ist durchaus begreiflich. Vor der französischen Okkupation war Danzig eine blühende, reiche Stadt. Die „Franzosenzeit" hat sie zugrunde gerichtet. Die Kriegsentschädigung von ich weiß nicht wie vielen Millionen hat die Bewohner während eines ganzen Jahrhunderts schwer belastet, und noch vor wenigen Jahren machten sich die Folgen unangenehm fühlbar.

Auf der Weichsel: Wenn man sich in Danzig aufhält, muss man auf die Weichsel hinaus fahren, um die großen Holzflöße zu sehen, die aus Polen und Galizien kommen, und auch um die schönen Regulierungsarbeiten zu bewundern, mit deren Hilfe die Preußen über die Launen des Weichselstromes gesiegt und ihren gewundenen Lauf geregelt haben. Die Weichsel fließt dicht an der Stadt selbst vorüber. Um sie zu erreichen, schifft man sich mitten in der Stadt auf ihrem Nebenfluss, der Mottlau, ein, im wirren Durcheinander mit schuppenglitzernden, leeren Tonnen und Körben mit Früchten und Gemüsen, die die Fischerfrauen auf dem Markt vom Ertrag der verkauften Fische erstanden haben. Es dauert nicht lange, bis man in den Strom einläuft, der hier so breit ist wie die Elbe bei Hamburg.

Die sehr flachen Ufer sind von Holzflößen besäumt, die am Flusse entlang ein breites Trottoir bilden. Diese roh behauenen, numerierten Stämme, auf denen jedesmal das Alter vermerkt ist, gehören den Dampfsägemühlen am Weichselufer.

Unser Schiff hält von Zeit zu Zeit an einem kunstlosen Steg, und dann steigen die Frauen aus, die nach Art unserer Wasserträger eine Holztracht mit zwei daran hängenden Eimern oder Körben auf den Schultern tragen. Niedrige Häuser aus geteertem, mit roten Ziegeln verkleidetem Holz mit kleinen, blumengeschrnückten Fenstern und grünen Läden bilden ganz kleine, weit auseinander liegende Dörfer. Die Stille, die Einsamkeit, das dunkle Wasser, die künstlich durch Mauerwerk erhöhten, flachen Ufer verleihen der ganzen Landschaft selbst bei strahlend blauem Himmel etwas Trübes, nordisch Melancholisches.

Wir sind jetzt ganz allein auf dem Schiff. In der Ferne, auf den beweglichen Holzstegen, die sich kaum von den umliegenden Wiesen abheben, sieht man hier und da blonde Männer und Frauen mit traurigen Gesichtern in weißen Kopftüchern, kurzen Röcken und hohen Stiefeln, die mit langen Harpunen die widerspenstigen und verirrten Stämme heranholen. Wir fahren an einem Holzfloß vorüber, das 300 bis 350 Meter Länge zu zehn bis zwölf Meter Breite misst und aus Galizien kommt. Hinter ihm naht ein anderes, noch längeres Floß, das sich wie eine ungeheure Schlange auf dem Wasser dahinzuwinden scheint; mitten darauf erhebt sich eine kleine, mit Zweigen bedachte Hütte. Daneben sitzt ein Mann, ein Pole, in gegürteter Bluse, hohen Stiefeln und Barett. In solchen kleinen Hundeställen wohnen die Führer dieser Flöße zuweilen monatelang, sogar mit ihren Familien. Man nennt sie Flissacken. Es sind zumeist polnische und galizische Arbeiter, die im Sold der großen Holzhändler stehen. Ihre Aufgabe besteht darin, die Flöße mit Hilfe langer Stangen zu lenken und zu verhindern, dass sie sich an den Ufern festrennen oder mit entgegenkommenden Schiffen zusammenstoßen. Man beköstigt sie an Bord, aber sie verdienen kaum 50 bis 60 Mark pro Reise, und eine solche Fahrt dauert in der Regel bei gutem Wetter vier bis acht, bei schlechtem Wetter aber bis zu zwölf Monaten. In dieser Hütte mit dem kleinen Herd aus gestampftem Lehm lebt der Flissacke ein wenig wie ein Wilder und nährt sich von Kartoffeln und gesalzenen Fischen, die er gern mit Wutki begießt. Ganze Wälder ziehen so vor den Augen der Uferbewohner vorüber, eine Million von Baumstämmen, 700 000 niedergeworfene und gleich besiegten Feinden gefesselte Rottannen. Und ganz unwillkürlich richtet man diese verwundeten Riesen in Gedanken wieder zum Himmel auf, gibt ihnen ihre Zweige und Nadeln wieder und sieht den Wald vor Augen, den sie bildeten.

Der Saft kreiste in diesen von Vögeln bewohnten Ästen, diese Ellern seufzten im Nebel am Rande der Sümpfe, diese Eichen ließen im hohen Laubwald ihren feierlichen Gesang ertönen. Im Herbst fielen die Blätter, der Winter beugte ihre Äste durch schwere Schneelasten, die alle Zweige etagenweise mit Hängeärmeln schmückten, im Frühjahr platzten die klebrigen Knospen unter dem Andrang des Saftes, und das Leben wurde wieder schön.

Jetzt sind die Dörfer verschwunden; zu beiden Seiten steigen grasbewachsene Deiche auf, hinter denen sich die Wiesen erstrecken, die ehemals Sümpfe waren und zweimal jährlich von der Weichsel überschwemmt wurden: im März beim Eintritt der Tauzeit und noch einmal gegen Ende August, zur Zeit der Schneeschmelze in den Karpaten. Während sie zur Hochwasserzeit acht Meter tief war, sank ihr Wasserspiegel in den trockenen Monaten bis auf 40 cm. Die Deutschen unternahmen es, ihren Lauf zu regulieren, den Strom stark einzudämmen und dadurch nicht nur die Überschwemmungen, sondern auch die Abweichungen des Flusses zu verhindern; denn dieser hatte seine Mündungsstelle in die Ostsee schon mehrfach geändert. Dank diesen Arbeiten sind die Gelände, die bisher den Reihern, Wasserhühnern und Bekassinen überlassen waren, zu schönen, fruchtbaren Wiesen geworden, auf denen stattliche Herden von schwarzweißen Kühen, von Gänsen und Schafen unter der Obhut kleiner Knaben weiden, während sich hier und da Tannenpflanzungen und sogar bestellte Äcker bis an das Ufer erstrecken. Von Zeit zu Zeit unterbricht eine Windmühle die Eintönigkeit der Landschaft, indem sie die friedliche Stille der Szenerie noch mehr hervorhebt.

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Die Veröffentlichung dieses Artikels erfolgte mit freundlicher Genehmigung des "Bundes der Danziger" in Lübeck.

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Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang