PDA

Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Der Danziger Dynamitkeller



Wolfgang
20.11.2009, 18:19
Aus den Ausgaben von „Unser Danzig“
Nr. 12 vom 01.11.1956, Seite 07
Nr. 13 vom 16.11.1956, Seite 09
Nr. 14 vom 01.12.1956, Seite 17
Nr. 15 Weihnachten 1956, Seite 10
Nr. 01 vom 01.01.1957, Seite 15

Der Danziger Dynamitkeller
Von Arnold Goldberg

I. Wer den Dynamitkeller in Danzig nicht kannte, ging achtlos am Hause Brotbänkengasse Nr. 38 an der Tür des Kellerhalses vorüber. Neun Stufen tief lag hier in einem alten Tonnengewölbe eine der eigenartigsten Gaststätten der alten Hansestadt. Die Besitzer dieses Kellerlokals legten auch keinen sonderlichen Wert darauf, Gäste heranzuziehen. Die alten Stamm- und Ehrengäste reichten vollkommen aus, den Keller bis auf den letzten Platz zu füllen. Die Mitglieder dieser Tafelrunden waren daher miteinander gut bekannt und teilweise eng befreundet. Wenn schließlich der eine oder andere von ihnen sein Quantum hinter sich gebracht hatte und durch Alter und Gebrechlichkeit davon abgehalten wurde, seinen gewohnten Platz im Keller einzunehmen, oder wenn Gevatter Hein einen ehrwürdigen Stammgast still beiseite genommen hatte, dann stellte sich bald ein Nachfolger ein, der sich schnell einlebte und die Lücke in der Runde wieder schloss.

Obwohl es im Keller keine geschriebene „Ordnung“ wie bei den Bankenbrüderschaften des Artushofes gab, so achtete doch jeder peinlich darauf, dass die festgelegten Regeln von den Besuchern stets eingehalten wurden. Die Eigentümlichkeiten eines jeden Gastes waren bekannt und wurden auch entsprechend respektiert. Man gewann den Eindruck, dass sich jeder in seiner Rolle, die er da unten spielte, gefiel, und die Runde bestärkte ihn hierbei, denn im Grunde genommen hatte jeder den Schalk im Nacken sitzen. Die Wirte des Kellers waren durchweg erfahrene Menschenkenner. Sie achteten darauf, dass die im Laufe der Zeit entstandene Eigenart des Lokals weiter gepflegt wurde und erhalten blieb. Sie überwachten daher sorgsam die Einhaltung der Ordnung.

Ein Wirt glich jedoch nicht dem andern, und so konnte es geschehen, dass zum Beispiel das Rauchverbot im Keller gemildert und schließlich nach Jahren völlig aufgehoben wurde. Es kam eben darauf an, dass auch der Wirt die Auffassungsweise seiner Gäste berücksichtigte und doch in humorvoller Art die Zügel nicht aus der Hand gleiten ließ.

Ein Meister in dieser Hinsicht war der letzte Wirt des Kellers, Paul Fischer. Er übertraf bei weitem noch seine Vorgänger durch die Art, wie er mit seinen Gästen und seinem Personal umging. Fischer war hierin geradezu ein Genie. Viele seiner „Ehrengäste“ waren Spaßmacher, man bezeichnete sie als „Jalesmacher“. Der allergrößte Spaßvogel aber war er selbst. Und diese spaßige Art erschien so ungewollt, so selbstverständlich und selbstsicher, dass sie schon deshalb Heiterkeit und Bewunderung bei allen Besuchern auslösen musste. Der Wirt selbst blieb dabei stets todernst und schien über die Wirkung seiner drolligen Einfälle auf seine Gäste geradezu erstaunt zu sein. Er kannte sie indessen nur zu gut. Schließlich kamen sie nicht nach unten, um den Durst zu löschen, sondern um sich wieder einmal in aller Behaglichkeit im wohl vertrauten Kreise gehörig vor Lachen auszuschütten. Im Keller erlebte man wirklich Theater, wobei alle mitspielten, und das war wohl der eigentliche Grund, der alle anzog, die zur Runde gehörten. Die anderen, die den Dynamitkeller nicht kannten, gingen eben achtlos an ihm vorüber.

Das Haus mit seinem alten Keller liegt nun schon elf Jahre lang als trauriger Schutt- und Geröllhaufen darnieder, und wie so unendlich viel Schätze der Stadt Danzig 1945 für immer verloren gingen, so wird auch diese eigenartige Gaststätte kaum wieder in ihrer Art entstehen, denn viele Gäste sind inzwischen verstorben oder in alle Winde verweht worden. Der letzte Wirt, Paul Fischer, fristet jetzt mit seiner Gattin in Berlin-Ost ein kümmerliches Leben. Er hat durch den Krieg alles verloren, dazu seine blühende Gesundheit und Frische und auch seinen köstlichen Humor. Nur wenn er von seinem Dynamitkeller, von seinen „Ehrengästen“ und den „Jalesmachern“ erzählt, strahlt wieder Feuer aus seinen Augen. Er ist dann wieder der „Paul Fischer aus Danzig“ und nicht der armselige „Berliner Rentenempfänger“.

Dies aber ist die Geschichte vom Danziger Dynamitkeller:
Verschiedene Stammgäste raunten geheimnisvoll, dass das alte Tonnengewölbe des Kellers noch aus der Zeit der Ordensherrschaft stamme, dass diese Gewölbe kreuz und quer unter der Stadt verliefen vom Dominikanerkloster zur Ordensburg hinter dem Fischmarkt, von hier zu St. Marien und ihrer näheren Umgebung. Das ist jedoch ganz unwahrscheinlich, weil derartige Bauwerke im Mittelalter technisch hier nicht durchzuführen waren. Das Gebiet der unteren Brotbänkengasse lag nämlich an den Uferrändern der Mottlau auf moorigem Boden. Hier bereiteten schon die Gründungsarbeiten für die ersten nach 1308 errichteten Holzhäuser mit Lehmgefachen größere technische Schwierigkeiten. Erst nachdem sich in dieser Gegend der Untergrund gefestigt und die Feuchtigkeit durch die Bebauung der Straßenzüge bis zur Mottlau hin sich verzogen hatte, konnte man daran gehen - etwa um 1500 Häuser aus Ziegelsteinen in zum Teil noch spätgotischen Formen auf festen Fundamenten und Kellern zu errichten. Die Ordensburg war aber bereits im Mai 1454 durch die Danziger abgebrochen worden. Hieraus muss gefolgert werden, dass nur der Eindruck des alten, würdigen Tonnengewölbes jene Vorstellungen von weiten unterirdischen Gewölben unterhalb der Stadt erzeugten. Immerhin bedeuten drei- bis vierhundert Jahre für ein profanes Bauwerk auch schon ein erhebliches Alter. Dieses Gewölbe hatte also bereits viel Danziger Geschichte erlebt.

Das Haus, das über dem tonnengewölbten Keller sich erhob, wird aber wesentlich jünger gewesen sein. Es hatte auch im Laufe der Zeiten sein ehemaliges äußeres Kleid mehrmals gewechselt. Durch wiederholte Um- und Ergänzungsbauten war auch das Innere je nach den Bedürfnissen der Besitzer und Bewohner oft abgeändert worden.

Hier befanden sich einst die orthopädischen Klinikräume des Dr. Wolf, ehe er sie in einen Neubau auf Poggenpfuhl verlegte. Später errichtete der damalige Besitzer des Gundstücks, Paul Freymann, in den oberen Räumen ein Möbelgeschäft. Als der Rentier Otto Treichel das Haus übernahm, hatte der Klempnermeister Wesselowski über dem Keller einen Laden ausgebaut. Im ersten Stockwerk saß der Verband der kaufmännischen weiblichen Angestellten, während die hinteren großen Räume von der Heilsarmee belegt wurden, über den Makler Scharnowski erwarb eine Bank das Grundstück. Nach 1939 übernahm die Grundstücksverwaltung der Stadt Danzig das ganze Anwesen.

Auf dem Hof des gleichen Grundstücks stand noch ein sehr altes baufälliges Fachwerkhaus. Man konnte zu ihm nur über einen schmalen Gang des Vorderhauses gelangen. In ihm lebten eigenartige Typen, so u.a. der „Tepper Lulei“ und „die alte Ludwig“, die als Fischhändlerin ihr ambulantes Gewerbe betrieb. Diese gehörte nicht zu der Gilde der „Fischfrauen vom Fischmarkt“. Sie zog mit ihrer Kiepe von Haus zu Haus und belieferte ihre Kunden vornehmlich mit Heubuder Räucherflundern und Aalen. Aber im Grunde genommen stand sie ihren Kolleginnen vom Fischmarkt in keiner Beziehung nach. Hauptsächlich hatte sie es auf die Danziger Bengels abgesehen, die ihr hin und wieder die Flundern aus der Kiepe „klauten“. Dann machte sich die Alte auf ihre Art gehörig Luft zum Gaudium der Jungen und der Vorübergehenden.

Alle diese Hausbewohner zeichneten sich dadurch aus, dass sie sich nicht zu Mietzahlungen verpflichtet fühlten. Die Bank brachte für diese Einstellung kein rechtes Verständnis auf und veranstaltete daher eines Tages ein großes „Räumungsfest“, wobei dann alle Mieter an die Luft gesetzt wurden. Der Gerichtsvollzieher war hierbei nicht zu beneiden, er hatte sicherheitshalber einen entsprechenden Umzugswagen mitgebracht, um die Aktion nicht aufzuhalten. Das Wohnungsamt beeilte sich nun, andere Mieter aus dem „Großherzogtum Schidlitz“ einzuweisen. Aber auch diese vergaßen wie jene die regelmäßige Entrichtung des Mietzinses, und so blieb schließlich alles beim alten.

II. Ehe der Kellerraum des Hauses Brotbänkengasse 33 als „Alt-Danziger Gaststätte“ eingerichtet wurde, diente er einer auswärtigen Weinfirma als Lagerkeller. Etwa um das Jahr 1880 richtete die Danziger Aktien-Bierbrauerei ihrem damaligen Inspektor Theodor Kleefeld hier eine Bierniederlage ein. Dieser war ein Bruder des Pfarrers Kleefeld aus Ohra. Nach kurzer Zeit erhielt er für den Keller die Vollkonzession. Jetzt fanden sich allmählich die Gäste ein. Damals führte das Lokal den eigenartigen Namen „Pleitekeller“. Diese Bezeichnung war darauf zurückzuführen, dass dort viele Gutsbesitzer und Landwirte verkehrten, die in Konkurs geraten waren. Sie hatten sich jedoch scheinbar in der Stadt besser als auf dem Lande zurechtgefunden, denn sie machten keine kleinen Zechen und blieben dem Wirt auch nichts schuldig. Kleefeld war bei seinen Gästen trotz seiner Eigenheiten, die ihm niemand verargte, sehr beliebt. Damals wies nur ein kleines Blechschild an der Außentür darauf hin, dass sich hier im Keller ein „Bierverlagsgeschäft“ befand. Es wurde auch fast immer nur Bier getrunken. In jener Zeit kostete die Tonne etwa 15 Mark. Sie enthielt annähernd 120 Liter und oft noch mehr. Die Brauerei berechnete jedoch nur jedes Fass mit 100 Litern. Es wurde daher beim Bierausschank kräftig verdient. Obwohl Liköre und Schnäpse verkauft werden durften, blieben die Gäste beim edlen Gerstensaft, und der Wirt war's zufrieden. Man trank nicht einmal Grog, denn eine Vorrichtung, heißes Wasser zu bereiten, war nicht vorhanden. Die ganze Einrichtung des „Pleitekellers“ war mehr als dürftig und entsprach somit auch seinem Namen. Obwohl das Lokal bis Mitternacht ausschenken durfte, gebot Kleefeld um 9.30 Uhr abends auf die Weise Feierabend, dass er das „grüne Tuch“ über den Likörkasten legte. Die Gäste erhoben sich dann von ihren Plätzen, bezahlten ihre Zechen und verließen im Gänsemarsch den Keller.

So ging es fast 15 Jahre hindurch. Doch eines Abends erlitt dieser umsichtige Mann einen Unfall, als er mit einem Pusterohr sich anschickte, die Petroleumhängelampe auszublasen. Er stellte sich hierbei auf einen alten Stuhl, der zusammenbrach. Theodor Kleefeld fiel so unglücklich mit dem Kopf auf den Steinfußboden, dass der Tod sofort eintrat.

Als Nachfolger übernahm Otto Stechern, ein ehemaliger Braumeister der Bierbrauerei Brendel aus Berent, den Keller. Er räumte flugs mit den alten Petroleumlampen auf und richtete eine Gasbeleuchtung ein. Allerdings verfuhr er dabei auch äußerst sparsam. Ein Gasarm mit zwei Lampen, im Scheitel des Gewölbes angebracht, hielt er für ausreichend. Die zweite Lampe wurde jedoch erst angezündet, sobald sieben Gäste am Tisch saßen. Elektrisches Licht wurde erst viel später, im Jahre 1914, eingerichtet. Der eigentliche Keller war rund 9 Meter lang und nahezu 7 Meter breit. Die Scheitelhöhe des Gewölbes betrug 2,80 Meter. Dazu kamen noch anschließend drei weitere Kellerräume, die jedoch nur Lagerzwecken dienten. Die künstliche Beleuchtung war somit mehr als bescheiden. Mit der Einführung der Gasbeleuchtung wurde auch ein Gaskocher aufgestellt, so dass von jetzt an heißer Grog zubereitet werden konnte.

Im Jahre 1908 übergab Otto Stechern vertretungsweise den Keller seinem Bruder Paul. Doch dieser konnte ihn nur fünf Monate lang bewirtschaften. Er starb frühzeitig.

Am 13. Januar 1909 erwarb Paul Fischer das Lokal. Am folgenden Tage eröffnete der junge, damals noch ledige Wirt mit einer würdigen Feier den alten Keller, der von jetzt ab mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückte. Allerdings wurden die alten Sitten und Gebräuche der Stammgäste weiter gepflegt. Aber mit der Zeit ging der neue Wirt dazu über, die Einrichtung zu ergänzen und teilweise zu erneuern. So verschwanden die mit Blech benagelten ehemaligen Rohrsitze der Bänke und Stühle. Auf neuen bequemen Sitzgelegenheiten fühlten sich nun die Stamm- und Ehrengäste noch behaglicher als zuvor. Die Biertische erhielten die Bezeichnung „Bahnsteige“. Es gab hiervon vier Stück. Nur bei besonderen Anlässen wurden noch „Behelfsbahnsteige“ eingerichtet. Jeder Gast hatte an seinem „Bahnsteig“ einen festen Stammplatz. Es durfte zum Beispiel nicht irgend jemand am „Bahnsteig I“ Platz nehmen. Und selbst an diesem waren einzelne Plätze für die „Ehrengäste“ reserviert, die an bestimmten Wochentagen und zur festgesetzten Stunde sich einfanden; es gab auch viele Gäste, die an jedem Tag sich hier trafen.

Paul Fischer hatte bald festgestellt, dass Musik das Menschenherz erfreut. Mit den ersten Neuanschaffungen kam auch ein Klavier in das Gewölbe. Inzwischen hatte der Keller einen frischen, freundlichen Anstrich erhalten. Überhaupt wurde fortan auf peinlichste Sauberkeit größter Wert gelegt.

Beim Knobeln und Kartenspiel war es früher doch hin und wieder zu Meinungsverschiedenheiten unter den Spielern gekommen. Deshalb wurden strikt alle Spiele mit Karten und Würfeln verboten. Es gab genügend Abwechslungen, so dass die Spielratten diese Einschränkungen willig hinnahmen.

Der Hinweis, dass das Rauchen im Keller nicht gestattet sei, verschwand. Für eine Lufterneuerung war gesorgt worden, so dass nun jeder nach Herzenslust Tabak in jeder Form rauchen durfte. Beliebt waren die Danziger Fabrikate von Borg und die Dresdener der Firma „Casanova“. Nach der Einrichtung des Danziger Tabakmonopols verschwanden diese Sorten. Man musste Monopoltabak schmauchen. Nach 1939 wurden dann die bekannten deutschen Marken eingeführt.

Es gelang auch Paul Fischer, die Genehmigung zu erhalten, den Keller bis 2 Uhr früh offen zuhalten. Die Sitte, mit dem „grünen Tuch“ um 9.30 Uhr abends Feierabend zu gebieten, hatte sich überlebt. Wenn der Wirt den Zeitpunkt für gekommen hielt, die Lampen zu löschen, so zeigte er seinen Gästen den „Schlüsselbund“. „Wir gehen jetzt die Stiefel wechseln, der guten Plätze wegen, bitte morgen nicht zu spät!“ Diese freundliche, unmissverständliche Aufforderung zum Aufbruch wirkte genauso wie früher das „grüne Tuch“.

Im Gegensatz zu dem früheren Brauch, hauptsächlich Fassbier der Danziger Aktien-Bierbrauerei zu trinken, wurden jetzt den Gästen verschiedene Biersorten angeboten. Gewiss, dem Danziger Aktien-Bier gab man nach wie vor den Vorzug; es wurde jetzt aber in der Regel in Flaschen gereicht. Wie jedoch der Danziger in früheren Jahrhunderten gern auswärtige Biere trank, so neigte man auch jetzt dazu, sich von der Güte und der Schwere importierter Biersorten zu überzeugen. Im Keller entstand bald eine Vorliebe für das Grätzer Bier, das von den Vereinigten Grätzer Brauereien direkt aus Grätz in Flaschen geliefert wurde. Der Tagesumsatz an diesem edlen Gerstensaft belief sich auf 300-400 Flaschen. Damit jedoch das früher übliche Fassbier nicht aus der Mode kam, stiftete Franz Treppenhauer vollständig neue Bierleitungen. Der gute „Onkel Franz“, wie man den wohlhabenden Guts- und Ziegeleibesitzer aus Gemlitz nannte, erreichte hiermit aber nur, dass Fassbier hauptsächlich bei besonderen festlichen Anlässen ausgeschenkt wurde. Dann war der Keller so überfüllt, dass die Gäste an den vier Bahnsteigen und Behelfsbahnsteigen keinen Platz mehr fanden. Bei diesem Gedränge war auch nicht genügend Raum für ausgetrunkene und beiseite gestellte Flaschen. Dann gab es eben „Apparatebier“.

Mit der Zeit war man auch dazu übergegangen, mehr Schnaps und Likör zu trinken. Es gab da neben den bekannten Produkten der Firma Engel und den Lachsspezialitäten auch besondere Sorten, wie den „Turmbläser“, den „Bodobitter“, einen „Jagdlikör“ und den „Liebesschimmer“. Diesen trank man sinnig nach dem Leitspruch „Alle Sorgen müssen weichen, Fischers Liebesschimmer ist ohnegleichen!“ Kräftige Schnäpse waren der „Stollenbauer“ und der 50-prozentige „Kipper“. Selbstverständlich sprach man auch mit Hingabe dem echten Stobbeschen „Machandel 00“ zu. Der Brauch, dieses Tiegenhöfener Produkt mit Pflaume und Zahnstocher nach dem bekannten Zeremoniell zu verdrücken, war hier nicht üblich. Der Wirt stand auf dem Standpunkt, man müsse den Korn und insbesondere den Machandel völlig „rein“ genießen. Jede Mischung von Pflaumen- und Himbeersaft verderbe den Charakter des Schnapses. Aus besonderen Anlässen verstieg man sich auf den edlen Rebensaft. Auch Sekt wurde gern mit Grätzer getrunken. Dies waren jedoch Ausnahmen.

III. Eine besondere Küche war in dem Gewölbe des Kellers nicht eingerichtet worden. Es gab daher nur die üblichen kalten Speisen. Wenn jedoch Verlobungs- und Hochzeitsfeiern im Keller abgehalten wurden, so schaffte man die warmen Gerichte aus der Küche des „Hohenzollern“ vom Langenmarkt oder der des „Rathaus-Automaten“ herbei. Größere Abendessen lieferte auch die Pensionatsbesitzerin Pauline Uswald vom Langenmarkt. Plattentische, Geschirr und Bestecke, Tischwäsche stellte die Firma Olivier aus der Kürschnergasse.

Der Keller glich bei solchen Gelegenheiten fast dem würdigen Ratskeller unter dem Artushof, denn nun reichte das übliche Bedienungspersonal, das sich aus drei Jungen in weißen Jacken und der „Küchensekretärin“ zusammensetzte, nicht aus. Kellner im Frack übernahmen jetzt die Bedienung der Festversammelten.

Bei solchen Gelagen reichte natürlich das Klavier für die musikalische Unterhaltung der Gäste nicht aus. Die Hausmusik wurde dann verstärkt durch Angehörige des Trompeterkorps der 1. und 2. Leibhusaren oder der Militärkapelle von Ernst Stieberitz. Zuweilen bestand das Orchester aus acht und mehr Mitgliedern. Man musste schon Nerven aus Stahl haben, um diesen musikalischen Lärm zu ertragen. Aber dies waren eben auch nur Ausnahmefälle, und die Stammgäste hätten sich zweifellos zurückgezogen, wenn dieser Trubel zur Regel gemacht worden wäre.

Die Gäste, insbesondere die Stamm- und Ehrengäste, hatten dem Keller sein Gepräge gegeben, und Paul Fischer achtete auch darauf, dass hieran nicht gerüttelt wurde. Seine Gäste setzten sich aus allen Schichten der Danziger Bürgerschaft zusammen. Hier in dem Tonnengewölbe war auch kein Platz vorhanden für Kreise, die sich absondern wollten. Wer als Fremdling hier unten landete, musste sich eben in den Kreis einfügen. Fühlte er sich hier nicht wohl, so brauchte er nicht wiederzukommen. Aber die meisten fühlten sich angezogen von dieser bürgerlichen Atmosphäre und waren stolz darauf, zu den „Stammgästen“ zu gehören.

Zunächst fanden sich hier viele Angehörige von Behörden, wie Magistrat, Stadtsparkasse, Schulverwaltung, Polizeipräsidium, Regierung und auch eine Anzahl von Lehrern ein. Als „Ehrengast“ spielte der Vorsteher des Armenamtes, der „Zylinder-Böhm“, eine gewichtige Rolle. Man hat ihn wohl kaum jemals auf der Straße ohne einen Zylinder auf dem Kopf gesehen. Er trug ihn an jedem Tag und zu jeder Jahreszeit. „Zylinder-Böhm“ zeichnete sich durch große Redegewandtheit aus. Wenn er am Bahnsteig I auf seinem Ehrenplatz präsidierte, führte er auch die Unterhaltung. Gerne und mit einem gewissen Stolz erzählte der ehemalige Leibhusar seine Erlebnisse aus dem Kriege von 1870/71, als er persönlich die Kesselpauken seines Regiments aus dem Feuergefecht durch schneidigen Einsatz rettete. Man konnte dem alten Kavalleristen keine größere Freude bereiten, als wenn man ihn bat, doch einmal wieder die Geschichte von den Kesselpauken zu erzählen. Ein anderer sehr beliebter „Ehrengast“ war „Onkel Hermann“. Er hatte in jungen Jahren als Matrose auf Segelschiffen gefahren und war später als Angehöriger der Kaiserlichen Marine um die ganze Welt gekommen. Es gab wohl niemanden weit und breit an der Ostseeküste, der solch ein Seemannsgarn spinnen konnte wie dieser „olle Seemann“. Da erlebte man die Aufstände der Bondelzwart-Hottentotten und der Hereros in Südwestafrika. In Togo und Kamerun war er wie zu Hause. Noch immer schwärmte er mit Begeisterung von den schönen Samoanerinnen. Aber auch aus Kapstadt wusste er interessante Erlebnisse zum besten zu geben. Ganz vortrefflich verstand er es, seine Zuhörer durch seine Schilderungen so zu packen, dass ihn alle still anhörten. Manche Stunde verging im Keller, in der nur er zu hören war. Es war auch so, dass alle diese Geschichten nicht etwa zusammen gelogen waren. Er konnte alles belegen, und - man glaubte ihm auch. Sein Schatz an Erlebnissen und Abenteuern, auch solcher weltpolitischer Art, war unerschöpflich. Besonders anziehend war der prächtige Humor, mit dem er seine Berichte zu würzen verstand. Er war wirklich kein Kind von Traurigkeit, und ganz besonders wurde er immer wieder zum „Garnspinnen“ angeregt, wenn jemand auf dem Klavier das Marinelied spielte: „Stolz weht die Flagge“.

Zu den Schulmeistern, die sich im Keller regelmäßig zu „außerordentlichen Konferenzen“ einfanden, gehörten u.a. Oskar Krause, Sindowski, Pfahl und Jahr. Man sah hier den Regierungshauptkassenbuchhalter Albert Merkel, Kanzleirat Gaul und Rechnungsrat Kaufmann, verschiedene angesehene Baumeister und Bauunternehmer, wie Albert Falk, Simson, den bekannten hünenhaften Maurerpolier und späteren Maurermeister Nikodemus Kalinowski, den die Danziger Maurer und Bauarbeiter scherzhaft „Meister Pärdskopp“ nannten. Aber auch Künstler und Musiker vom Theater und Variete, wie der beliebte Gustav Nord (Pantel) und das Paar Gerson - Jeserich, das seine Hochzeit im März 1913 im Keller feierte, wozu eine Künstlerkapelle aus elf Köpfen aufspielte, stellten sich ständig ein.

Hier in diesem alten Tonnengewölbe holte sich zuweilen auch der bekannte Schriftsteller und Redakteur Fritz Jaenicke viele Anregungen zu den lustigen Plaudereien und Betrachtungen seines einmaligen Rentiers Poguttke.

Das Handwerk wurde auch vertreten durch den Friseurmeister Koerner und die bekannten Fleischermeister Eltermann und Klein, denen zu Ehren der „Kalbskeulenmarsch“ erklang, während Gärtnereibesitzer Stahnke seinen „Tulpenwalzer“ liebte. Den Schulmeistern wurde dagegen die „Rohrstockpolka“ gerne aufgespielt.

Selbstverständlich bestand bei den Stammgästen keine Abneigung gegen jüdische Mitbürger. Wenn das Lokal auch fast nur von Männern besucht wurde und man Frauen dort ungern sah, so ließ sich hier doch öfter Frau Lossow, die Tochter des Sanitätsrats Dr. Paulig aus Zoppot, sehen, ebenfalls der jüdische Arzt Dr. Citron aus Langfuhr. Der kleine, schmächtige Michelsohn, Rohtabakgrossist, kam auch stets mit einem Zylinderhut zur abendlichen Runde. Sein Gruß war stets der gleiche: „Noch leben wir!“ Die Danziger Jugend rief dem alten Herrn diesen Ausspruch nur zu gern nach. Ihn zog es besonders in den Keller, um den größten Jalesmachern Danzigs zuzuhören, wenn sie jüdische Witze erzählten.

Auch Danziger Ärzte nahmen an den Tischrunden teil, um sich nach anstrengender Arbeit zu entspannen. Der bekannte Röntgenarzt des Marienkrankenhauses, Dr. Veugels, ein gebürtiger Rheinländer, fand in den Sitten und Gebräuchen der Stammgäste seine helle Freude. Mit ihm kam der größte Teil der Ärzteschaft des Krankenhauses in den Keller, um hier mit echten Danzigern zwangslos beisammen zu sein.

Ein Gast, der sich regelmäßig in der Mittagszeit einstellte, war ein gewisser Komoschinski, den man kurz „Komo“ nannte. Um sein Eintreffen den Gästen im Keller schon von der Straße aus anzukündigen, pflegte er, ehe er die Stufen hinab ging, Knallerbsen auf die neun Stufen zu werfen. Die Knallerei verfehlte auch niemals die gewünschte Wirkung. Eines Tages meinten einige Gäste, als die Detonationen wieder einmal recht kräftig waren, man fühle sich hier wie in einem „Dynamitkeller“. Da war das Stichwort gefallen, worauf man schon lange wartete. Immer wieder hatte man sich den Kopf zerbrochen, welchen geeigneten Namen dieser Keller führen sollte. Jetzt firmierte man fortan: „Dynamitkeller“. Später wurde noch „Alt-Danziger Gaststätte“ hinzugefügt. Es war selbstverständlich, dass dieses Ereignis gebührend gefeiert wurde.

IV. Die Zuneigung, die man im „Dynamitkeller“ besonders spaßigen und humorvollen Gästen entgegen brachte, kam durch Verleihung von Ehrentiteln an diese zum Ausdruck. So erhielt der Eisenwarenkaufmann Gustav Weiß aus der Milchkannengasse den Titel „Justizrat“ verliehen. Gustav Weiß gehörte auch zu denen, die nur mit einem Zylinderhut ausgingen. In jenen Zeiten ging sein Geschäft so gut, dass er seine täglichen Zechen stets mit Goldgeld bezahlte. Der köstliche Humor des „Justizrats“ war unverwüstlich. Man zählte ihn zu den vortrefflichsten Jalesmachern des Kellers.

übertreffen wurde der „Justizrat“ nur noch durch den Zigarrenfabrikanten Paul Freymann. Eines Tages verspürten dieser und der Justizrat Lust, einen Ausflug nach Heubude zu unternehmen. Einige Stammgäste sahen hierin auch eine angenehme Abwechslung. Man fuhr also mit Landauern hinaus, um dem Hotelbesitzer Heinrich Albrecht in Heubude einen Besuch abzustatten. Auf der Heubuder Chaussee bei Kantak wurde kurz vor dem Ziel noch einmal halt gemacht, um den Staub von den Lippen zu spülen. In der Gaststube saßen zwei biedere Heubuder Bürger, die in Paul Freymann fälschlicherweise den Amtsvorsteher des Dorfes erkannten.

Sie berichteten nun dem „Herrn Amtsvorsteher“, dass sie auf dem Wege zur Stadt seien, um für ein eben gestorbenes Mädchen einen Sarg zu kaufen. Dieser traurige Umstand bot genügend Anlass zu einem Trauerschluck. Der „Herr Amtsvorsteher“ ließ es sich nicht nehmen, mit Rücksicht auf seine neue Würde den Trauerschluck ausgiebig auszudehnen. Die Folge war, dass beide Sargkäufer einander selig in den Armen lagen und fest einschliefen. Das verstorbene Mädchen und den Sargkauf hatten sie völlig vergessen. Indessen setzten die Ausflügler die Fahrt zu Heinrich Albrecht fort, um dort den „Amtsvorsteher“ gehörig zu begießen. Fortan führte Paul Freymann diesen Ehrentitel. Auf Anregung vom „Amtsvorsteher“ wurden jetzt im Dynamitkeller neue „Amtsvorsteher- und Landrats-Likörgläser“ eingeführt.

Auch der Hausbesitzer des Grundstücks Brotbänkengasse Nr. 38, Otto Treichel, war kein Spielverderber. Man hatte ihm in Anbetracht seines großartigen Humors und seiner drolligen Einfälle den „Doktortitel ehrenhalber“ verliehen. Die Verleihungsurkunde wurde von der Druckerei Julius Sauer angefertigt. Sie prangte gerahmt an der Kellerwand.

Die täglich sich einfindenden Stammgäste brauchten natürlich auch hin und wieder eine Luftveränderung. Man unternahm dann kleinere Ausfahrten in die nähere Umgebung der Stadt und bestieg Landauer, um die Gegend auch recht ergiebig und in nicht allzu großer Hast zu genießen. Aber auch die kleineren Nachbarstädte regten zu Besuchen an. So fuhr man in Autos nach Dirschau, Berent, Marienburg und in die Tiegenhöfener Gegend. Zu diesen Fahrten wurde auch gerne der „Dr. h.c. Treichel“ mitgenommen, und da diese Ideen ganz plötzlich gefasst wurden, konnte es geschehen, dass der „Doktor“ ohne Hut und auf Hausschuhen mitfuhr, was natürlich in den kleineren Städten berechtigtes Aufsehen erregte.

Eines Tages schüttete die Glücksgöttin Fortuna ihr Füllhorn in den Keller aus. Vier Stammgäste und der Wirt hatten in der Lotterie 3000 Mark gewonnen. Der freigebige „Amtsvorsteher“ lud daraufhin eine kleine Gesellschaft nach Wotzlaff ein, wo das unverhoffte Glück entsprechend gefeiert wurde. Man kam ziemlich mitgenommen, behängt mit „pommerschen Würsten“, wieder heim.

Auch die beliebten „Gänseverwürfelungen“ um Martini herum brachten Abwechselung und frohe Laune in den Keller. Hier kam es vor, dass der „Doktor“ gleich acht Gänse an einem Abend gewann.

Zu einer anheimelnden Weihnachtsfeier des „Sechsundsechzig-Klubs“ unter Vorsitz des Rechnungsrats Kaufmann wurde die Pinke in Höhe von 360 Mark verwendet. Ein festliches Essen für 22 Personen wurde aufgetragen, und jeder Teilnehmer erhielt zusätzlich, damit Muttern nicht knurrte, einen Weihnachtsbraten in Form von Gänsen, Enten, Hasen, Puten und anderen Köstlichkeiten.

Wie die meisten Danziger ihre helle Freude an einem kräftigen Eisbein mit Sauerkohl und Erbspüree haben, so sahen auch verschiedene Gäste des Dynamitkellers in diesem nahrhaften Gericht den Gipfel lukullischer Genüsse. Viele Danziger Gaststätten waren dafür bekannt, ein vortreffliches, leicht gepökeltes Eisbein auf den Tisch zu setzen. dass man sich im Keller trotzdem entschloss, im Auto nach Dirschau zu reisen, um dort einen Eisbeinschmaus in Burgunder nach vorheriger telefonischer Bestellung zu veranstalten, war wieder einmal eine Kateridee des „Herrn Amtsvorstehers“. Das schmackhafte Essen dehnte sich dann bis zur hellen Morgenstunde aus, denn zur „Verseifung“ benötigte man erhebliche Mengen Bier und Machandel.

Am Bahnsteig II pflegten um die Mittagszeit Danzigs bekannte Stauermeister sich im Dynamitkeller ein Stelldichein zu geben. Neben dem hünenhaften, über zwei Meter großen Edard Kratzke, einst Flügelmann der 1. Kompanie des 1. Garde-Regiments zu Fuß, sah man dort u. a. die Stauermeister Thurau, Schröder, Huse und John Berndt. Alle waren sehr vermögende Männer, deren Zechen nicht unbedeutend waren. Es war ihre Gewohnheit, mit ihren Leuten platt zu sprechen, und so wurde auch hier in ihrem Kreise das Danziger Platt gepflegt, woran niemand im Keller Anstoß nahm. Es war eine Freude, ihnen zuzuhören, denn auch sie waren große Spaßmacher. Diese Männer der starken Faust waren durchweg prächtige Naturmenschen und hatten sich trotz der harten Arbeit ihr kindliches Gemüt vollauf bewahrt. Sie tranken im allgemeinen wenig Bier, dafür um so mehr Kognak und Grog. Die volle Kognakflasche und leere Gläser wurden auf den Tisch gestellt. Derjenige, der eine Lage bewilligte, goss selbst seinen Freunden die Gläser voll. Falls jemand beim Aufbruch nicht genau wusste, wieviel Lagen er zu bezahlen hatte, dann verfuhr man hierbei nicht kleinlich. Es wurde sicherheitshalber eine Lage eher zu viel als zu wenig bezahlt.

Diese Männer der Praxis entwickelten natürlich auch einen beneidenswerten Appetit. Die „Küchensekretärin“ hatte sich darauf schon besonders eingestellt. Wenn anscheinend alle gesättigt waren, fragte Edard Kratzke beiläufig, wieviel Bratklopse noch übrig geblieben seien. Man zählte noch achtzehn Stück. „Na dann gäwe Se her de paar Dingerchens!“ Reste wurden eben nicht gelitten. Anderntags machte Edard „Kleen Middach“ mit „nem Böffstäkstke von ä Pundke vär“. Dann ging er beschwingt nach Ohra an der Mottlau, um bei Muttern richtig Mittag zu essen. Von der Lebenskraft dieses herzensguten Mannes zeugt folgender Vorfall: Als er eines Abends zur Stadt ging, wurde er auf dem Sandweg von zwei Kerlen aus dem Hinterhalt überfallen. Einer dieser Banditen hatte ihm ein feststehendes Messer in den Bauch gestoßen, so dass das Eingeweide aus der klaffenden Wunde heraustrat. Edard Kratzke versetzte dem Angreifer zunächst einen Fußtritt, dass dieser besinnungslos liegen blieb. Der andere Bandit suchte daraufhin die Weite. Dann schob Kratzke die Eingeweide in die Bauchhöhle zurück, hielt sich mit einer Hand die Wunde zu und ging zur Stadt, um seelenruhig einen Arzt aufzusuchen, der über die Wunde entsetzt war.

Das Grogtrinken war durch die Stauermeister im Keller zur Mode geworden. Die wenigen alten Groggläser reichten nicht mehr aus. Paul Fischer entschloss sich daher, geschliffene Gläser mit Glasstäbchen und Zuckerschälchen für Würfelzucker anzuschaffen. Das gefiel den Stauermeistern aber gar nicht. Sie verbaten sich drastisch „disse Dekorazjonen“ und verlangten die bisherigen Teelöffel und die Streuzuckerdose.

Es ist bekannt, dass gerade robuste Männer eine Vorliebe für Süßigkeiten haben. Auch der Kreis der Danziger Stauermeister machte hiervon keine Ausnahme. Der Bienenzüchter Lebbe aus Gischkau kam jede Woche mit zwei großen Koffern mit gefüllten Honiggläsern in den Keller, um den Honig in der „Stauermeisternische“ des Gewölbes abzustellen. Hier nahmen dann diese Bären den Honig nach Wunsch und Bedarf. Lebbe fand sich monatlich zu einer bestimmten Stunde ein, um mit den Meistern abzurechnen. Hierbei hat es niemals Differenzen geben.

V. Unter den Gästen des Dynamitkellers gab es auch eine Anzahl, die nicht rauchte, dafür aber mit großer Leidenschaft Tabak schnupfte. Dieser Leidenschaft konnten sie im Keller ausgiebig frönen, denn über dem Bahnsteig I hing an einer langen Messingkette eine große Horndose mit „Frisch gekacheltem“. Außerdem stand „Schniefke“ auch in einer großen Schale auf dem Tisch. Aus dieser bedienten sich vornehmlich der Landmesser Josef Ustrabowski, den man auch „Schniefke-Josef“ nannte, der Buchhalter Albert Merkel und der Kanzleirat Gaul. Die übrigen Gäste, soweit sie der „Schniefkegilde“ angehörten, entnahmen ihren Bedarf der an der Kette hängenden Dose. Dabei kam es zuweilen vor, dass den anderen Gästen ohne Absicht Schniefke ins Bier fiel. Als man einmal doch darüber empört war, verschwand das „Schniefkehorn“ samt der Kette. Dafür wurde eine gewaltige Krücke der Schnupftabakfabrik Gosda auf den Bahnsteig gestellt.

Im Dynamitkeller wurde Kaffee nicht ausgegeben. Eine Zeit lang war Studienrat Barth ein ständiger Nachmittagsgast, der es sich nicht nehmen ließ, auch im Keller seinen Kaffee zu trinken. Um nun nicht allein diesen zu schlürfen, machte er es sich zur Gewohnheit, auch die am gleichen Bahnsteig Sitzenden zu Kaffee und Kuchen einzuladen. So mussten dann die entsprechenden Portionen Kaffee und das Gebäck aus der Konditorei Grenzenberg vom Langenmarkt herangeschafft werden.

Am 14. Januar 1939 wurden anlässlich des 30jährigen Geschäftsjubiläums durch Paul Fischer alle Stamm- und Ehrengäste zu einem Festnachmittag eingeladen. Zum größten Erstaunen aller Gratulanten lag in Erinnerung an vergangene Zeiten das „grüne Tuch“ über den Likör- und Schnapsflaschen. Kein Bier, kein Wein wurde gereicht. Der Tag. sollte nach dem Wunsch des Jubilars ohne Alkohol in würdiger Form gefeiert werden.

Zum ersten und letzten Male wurde Kaffee ausgegeben. Das liebliche und belebende Aroma des Kaffees verdrängte schnell den früheren Dunst alkoholischer Getränke. Es war plötzlich eine andere Luft im alten Tonnengewölbe. Trotzdem verfehlten die zahlreich gehaltenen Reden keinesfalls ihre Wirkung, denn Fröhlichkeit und Heiterkeit kamen ausgiebig zu ihrem Recht. Einige alte Kämpen waren von dieser Idee so begeistert, dass sie vorschlugen, des öfteren „Kaffeetage“ einzulegen, doch hiervon wurde Abstand genommen.

Das einträchtige Beisammensein der Gäste aus allen bürgerlichen Gesellschaftskreisen war auch dadurch bedingt, dass man politische Dinge nicht erörterte. „Politik verdirbt den Charakter“, dies war ein Leitsatz des Wirtes. Man mied die Politik schon seit Kleefelds Zeiten, und so blieb es auch bis zum Ende. Das schloss jedoch nicht aus, dass die ehemaligen Soldaten durchaus eine königstreue Haltung einnahmen. Zum Ausdruck kam dies, als man einmal auf Betreiben des Amtsvorstehers zum 6. Mai dem Kronprinzen, als er noch nicht die Leibhusaren in Langfuhr kommandierte, ein Telegramm nach Potsdam sandte. In diesem entboten die Stammgäste des Dynamitkellers dem Kronprinzen als zukünftigem Danziger Mitbürger zum Geburtstag die besten Glückwünsche. Bereits am nächsten Tage war vom Kronprinzen ein Danktelegramm eingegangen. Alle Danziger Tageszeitungen brachten daraufhin Lokalnotizen über diesen Telegrammwechsel. Die Wirkung dieser Meldung hatte bei den Lesern der konservativen „Danziger Allgemeinen Zeitung“ wie eine Bombe eingeschlagen. Der Keller füllte sich in diesen Tagen mit Landwirten und Gutsbesitzern, die sich von der Richtigkeit der Telegramme persönlich überzeugen wollten. Manch ein Ehrenschluck galt dem Wohle des beliebten Kronprinzen. Auch die Polizei nahm von dem Ereignis gebührend Kenntnis und entsandte Polizeikommissar Flöhr und Günther. Das Wort „Dynamit“ wirkte auf die Behörden der Ordnung geradezu faszinierend. Die Stadtverordneten schickten ein Schreiben, das von dem Stadtverordneten Benno Königsmann unterzeichnet war. Hierin hieß es u. a.: „Wenn auch der Name Ihres Lokals „Dynamitkeller“ sehr schaurig klingt, so ist doch unter Beweis gestellt, dass in Ihrer Gaststätte der alte treudeutsche Geist herrscht.“

Im Herbst 1912 wurde dann anlässlich der Geburt des vierten Prinzen dem Kronprinzenpaar ein Glückwunschtelegramm übersandt. Da hatten der Amtsvorsteher und die Stammgäste die Glückwünsche sogar gereimt. Postwendend traf das Danktelegramm ein. Es war wieder einmal ein Freudentag im Dynamitkeller. Die amtlich beglaubigten Abgangs- und Danktelegramme wurden vom Glasermeister Momber aus der Hundegasse in schwarz-weiß-rote Rahmen unter Glas gesetzt und galten fortan als eine Sehenswürdigkeit des Kellers.

Die Grundhaltung des Dynamitkellers und seiner Stammgäste blieb natürlich den Nazis nicht verborgen. Der Gauleiter Forster ließ viele Gaststätten, in denen die neue politische Richtung nicht entsprechend eingehalten wurde, schließen. Auch der Dynamitkeller stand auf der schwarzen Liste. Eine mehrköpfige Kommission besuchte den Keller. In dieser befanden sich auch gute Freunde und Bekannte des Wirtes. Bei der Abstimmung über Sein oder Nichtsein wurde der Oberregierungsrat überstimmt. Der Dynamitkeller durfte weiterbestehen, doch mussten alle Erinnerungsstücke aus vergangener Zeit entfernt werden. Dazu gehörte auch ein aus Holz gefertigtes, über ein Meter langes Messer, das über dem Bahnsteig I hing. An dem Messer waren mehrere Glocken angebracht. Auf der einen Seite der Messerschneide stand: „Im Akkord erklinge ich, warne vor dem Lügen Dich!“ Auf der anderen Seite las man: „Und zur Lage rufe ich, ziehst du unberufen mich!“ Diese sinnige Einrichtung - es erklangen recht oft die Glocken - erschien jedenfalls dem braunen Regime zu gefährlich, sie musste für immer entfernt werden.

Trotz der bewussten „Danziger Haltung“ des Lokals kamen auch Parteianhänger in braunen Uniformen zuweilen in den Keller. Sie zählten jedoch niemals zu den Stammgästen. Man musste sie eben dulden, um nicht die Existenz der so beliebten Gaststätte zu gefährden. Während ihrer Anwesenheit war die Stimmung im Keller gedämpft.

Damit jeder Gast aufmerksam bedient wurde und auch Sonderwünsche der Stamm-und Ehrengäste sofort und schnell erledigt werden konnten, hatte Paul Fischer stets drei Jungen eingestellt, die in ihren weißen Jacken immer einen frischen, sauberen Eindruck machten. Die Gäste hatten sich bald mit den Jungen angefreundet, denen sie dann auch besondere Ehrentitel verliehen. Im allgemeinen hießen sie alle Fritz, denen man dann noch Spezialnamen beifügte, wie „Dackel“, „Kugelkopf“, „Pik-Sieben“, „Frannek“, Wachtmeister“ und „Liliputaner“. Als z.B. Fritz III. neu eingestellt wurde und einen Mehlgroßisten zum erstenmal bediente, fragte ihn dieser, welchen Beruf er erlernen wollte. Prompt antwortete Fritz: „Hotelbesitzer.“ Für diese schlagfertige Antwort erhielt der Junge ein blankes Fünfguldenstück bar in die Hand gedrückt als Anzahlung für das künftige Hotel. Seit dem Tage hieß Fritz III. nur noch „Hotelbesitzer“. Es gab unter den Fritzen natürlich auch eigenartige Typen. Einer war durch seinen früheren Dienst bei den Pimpfen so verdreht worden, dass er auf jede Frage nur noch mit „Heil!“ antwortete. Etwas anderes war aus dem Jungen nicht herauszubekommen.

Eine gewisse versteckte Verulkung des braunen Regimes konnte man wohl darin erblicken, dass die Jungen auch Titel erhielten, wie „Sturmführer“, „Gau- und Stabsführer“. Den Weißjacken gefiel natürlich diese Anrede ausgezeichnet. Einige sonst ganz brauchbare Bengels schnappten ganz über vor lauter Wonne, denn sie erhielten von Zeit zu Zeit auch einen höheren Grad verliehen. Der Wirt hatte seine liebe Not mit ihnen, sie wieder auszurichten. Aber dieses „Vergehen“ wurde von Parteifunktionären missbilligt, und so wurden Paul Fischer mehrfach scharfe Rügen erteilt, weil er die Jungen nicht genügend im Sinne der Partei ausbilde.

Die einzige weibliche Person im Keller war die „Küchensekretärin“. „Frieda der Fuchs“ war ihr Rufname. Sie war listig und schlau wie ein Fuchs, geschmeidig wie eine Katze und hatte obendrein rote Haare. Daher hatten die Gäste ihr diesen Spitznamen gegeben. Friedas Augenaufschlag war auch nicht von ohne. Ganz besonders liebte es „der Fuchs“, als „Büfettsekretärin“ in Aktion zu treten. Sie hat zusammen mit „Pik-Sieben“ bis zur letzten Stunde dem „Dynamitkeller“ und seinem Wirt die Treue gehalten.

Die Zeiten, in denen einzelne Stammgäste mit Zylinderhüten den Keller aufsuchten, waren ein für alle mal vorbei. Auch das Klischee mit dem befrackten Herrn im Zylinder und einer einladenden Handbewegunq - der „Glücksbringer“ - erschien niemals wieder auf Anzeigen in den „Danziger Neuesten Nachrichten“.

Als zu Beginn des Jahres 1945 auf Danzig die Bomben fielen, musste der „Dynamitkeller“ den Luftschutzsuchenden zur Verfügung gestellt werden. Die letzten beiden Wochen vor dem Untergang der Stadt haben auch Paul Fischer und dessen Frau im Keller wohnen müssen, den sie dann unter Zurücklassung ihrer ganzen Habe und eines großen Lagers an Grätzer Bier, Likören, Wein und Sekt am 26. März 1945 für immer verlassen mussten.

Eine Danziger Gaststätte eigener Prägung hat zu bestehen aufgehört, einen zweiten Dynamitkeller wird es niemals mehr geben, denn die Tradition ist leider für immer dahin. Die alten Ehrengäste, der „Zylinder-Böhm“, der „Amtsvorsteher“, der „Justizrat“, der „Doktor honoris causa“ sind längst gestorben. Der „olle Seemann“ ist 1945 kurz nach dem Zusammenbruch im letzten Hafen still vor Anker gegangen, eingehüllt in die alte Reichskriegsflagge, der er bis zuletzt die Treue hielt.

-----

Die Veröffentlichung dieses Artikels erfolgte mit freundlicher Genehmigung des "Bundes der Danziger" in Lübeck.

Weitere Verwendungen / Veröffentlichungen bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung durch den Rechteinhaber:
Bund der Danziger
Fleischhauerstr. 37
23552 Lübeck

Bei vom Bund der Danziger genehmigten Veröffentlichungen ist zusätzlich ist die Angabe "Übernommen aus dem forum.danzig.de" erforderlich.

-----

Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang