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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Selbstmorde 1945/46



asche
02.07.2010, 14:05
Hallo, Wolfgang und alle,

über Selbstmorde liest man in vielen Briefen, so auch in denen von meinen Vorfahren und Verwandten. Die Gründe werden nicht genannt, offenbar wissen die jeweiligen Adressaten Bescheid. Wenn von einem Psychiatriechef in Zoppot die Rede ist, können auch wir Nachgeborenen uns zusammenreimen, dass er seiner Hinrichtung zuvorkommen wollte. Wie aber war es bei den vielen anderen?

Folgende Möglichkeiten fallen mir ein:
a) Man ging davon aus, wegen seiner Rolle im Dritten Reich misshandelt und dann getötet zu werden und wollte sich das erstere ersparen.
b) Man schämte sich seiner Untaten und wollte sich nicht dafür verantworten müssen, weder vor den Siegern noch vor den Deutschen noch vor seinen Opfern.
c) Man identifizierte sich weiterhin mit dem Nazi-System und wollte mit ihm untergehen (wie von Goebbels angekündigt und vollzogen).
d) Man wollte den Feinden den Triumph schmälern bzw. sich ihnen nicht unterordnen.
e) Schmerz um den drohenden Verlust der Heimat.
f) Schmerz über den Tod Nahestehender.
g) Furcht vor der Schande bei Vergewaltigung (Frauen und Mädchen).

Meine Verwandten schwiegen sich darüber konsequent aus oder nannten nur einen der letzten drei Gründe, sofern halbwegs plausibel. Alle anderen glaubte man, aus nationaler Solidarität abstreiten zu müssen, so wie es etwa auch keine päderastischen Priester geben kann.

Da nun die Emotionen stark abgeklungen, meine Danziger/Zoppoter Verwandten aber alle verstorben sind: Wer erinnert sich, von den Vorfahren mehr erfahren zu haben als ich? Wer traut sich, zu den o.g. Gründen Prozentzahlen zu schätzen, weitere Gründe und Erläuterungen aus direkter Überlieferung hinzuzufügen?

Heinzhst
02.07.2010, 17:09
Hallo Alex, ich kann dir zu diesem Thema keine Prozentzahlen nennen nur ein persönliches Erlebnis.
Wir Kinder, ich war damals 10 Jahre, sahen das im Nachbarhaus die Türen aufgebrochen waren.
Neugierig sind wir ins Haus gegangen und haben schreckliches gesehen.
Im Keller lag die kleine Enkeltochter,ca. 2 Jahre, ertrunken in einer mit Wasser gefüllten Zinkwanne.
Unterm Dach hingen an einer Wäscheleine Mutter und Oma der kleinen.
Der Opa war gelähmt und lag Blutverschmiert in seinem Bett. Er lebte noch und wurde später von einer anderen Tochter abgeholt.
Alle haben vorher versucht durch aufschneiden der Pulsader sich das Leben zu nehmen. Sie hatten alle Verbände an den Handgelenken.
Was hat sich da vor ihrem Tod abgespielt?

Hier trifft ganz sicher Punkt G) deiner Frage zu.
Schöne Grüße, Heinz

asche
02.07.2010, 19:44
Hallo Heinz,

danke für die erste Replik.

"Ich glaube nur das was ich gesehen und erlebt habe," ist dein Motto. Was ich daraus oder aus Erzählungen anderer für Schlüsse ziehe, gilt immer unter Vorbehalt und nicht "ganz sicher".

In einem Dorf in Mecklenburg wurde, bevor ein einziger Russe es betreten hatte, eine junge, mit mir verwandte Frau von ihrem Schwager erschossen. Ebenso tötete der Mann ihren zweijährigen Sohn und sämtliche anderen Bewohner des Hofes (Flüchtlinge), einschließlich seiner selbst. Die Familiensaga sprach von Massenselbstmord aus Furcht vor vergewaltigenden Russen, aber die Bewohner der Nachbarhöfe samt Kleinkindern spazierten seelenruhig, zusammen mit deutschen Soldaten, in die amerikanischen Gebiete. Welches Amt besagter Schwager innegehabt hatte, weiß ich nicht, bin aber ziemlich sicher, dass er die Leute aktiv und aus Eigensucht mit sich in den Tod gerissen hat, m.a.W. ermordet. Hier wirkten Goebbels und Konsorten als Vorbild.

Aus Danzig war das Entkommen nicht so leicht, trotzdem bleibt meine Frage zumindest, was diejenigen trieb, die keine jungen weiblichen Angehörigen hatten.

Wolfgang
03.07.2010, 10:00
Schönen guten Morgen,

ich überlegte mir lange, ob ich zu diesem Thema einen Beitrag schreiben soll. Denn wollten wir hier unter Angabe von Prozentzahlen "schätzen", welche Gründe es gab, aus dem Leben zu scheiden, begäben wir uns ins Reich der Spekulation. Ich möchte auch keine Diskussion über den Begriff "Selbstmord" beginnen, aber mir widerstrebt es, mir tut es weh, in diesem Zusammenhang dieses Wort zu verwenden. Diese Menschen sind zum allerallergrößten Teil in höchster Not als unmittelbare Kriegs- oder Kriegsfolgeopfer aus dem Leben geschieden.

Ich möchte auch an Jene erinnern, die nicht erst gegen Ende des Krieges aus dem Leben schieden, sondern auf den Verfolgungslisten der Nazis standen und für sich keinen anderen Ausweg mehr sahen.

Im Startbeitrag zu diesem Thema wurden sieben Gründe unter den Punkten "a" bis "g" genannt, von denen die ersten vier sicherlich fast nie eine Rolle spielten. Es war ja auch in den meisten Fällen ein Freitod von Zivilisten, von alten Männern und Frauen, von Müttern mit ihren Kindern, von missbrauchten Mädchen.

Sicher, es mag auch Einzelfälle zu den erstgenannten Punkten gegeben haben. Aber diejenigen, die massiv Schuld auf sich luden und zur Rechenschaft gezogen worden wären -hätte man sie erwischt-, waren zumeist psychisch so robust, dass sie keinen Gedanken daran verschwendeten, sich selber zu töten.

Gründe für einen Freitod? Haben sich die Gründe seitdem geändert? Die letzten drei Punkte "e" bis "g" lassen sich zusammenfassen und ergänzen: Das Gefühl einer vollkommenen Ausweglosigkeit und des hilflos ausgeliefert seins, Schmerz, existenzielle Ängste, das Erleben des Zusammenbruchs der eigenen "Welt", Verzweiflung, Verlust nächster Familienangehöriger, der Glaube und die Hoffnung der Tod bringe Erlösung.

Heinz, Augenzeuge eines solchen Dramas, fragt "Was hat sich da vor ihrem Tod abgespielt?". Gibt es heute andere Möglichkeiten, sich dem zu nähern, was war? Schon damals blieb häufig nur übrig, Fragen zu stellen.

Der Freitod ist ein elementarer Einschnitt in die Existenz eines Menschen der das irdische Sein beendet. Wenn sich die Gründe nicht mehr klären lassen, sollte man nicht darüber spekulieren, sondern um ihn trauern und die Erinnerung an ihn wach halten.

asche
03.07.2010, 13:52
Guten Tag, Wolfgang, Heinz und alle,

dass ich auf Reaktionen wie die obigen stoßen würde, habe ich schon geahnt. Als erstes möchte ich also versichern, dass ich keinesfalls das Ziel verfolge, moralische Bewertungen abzugeben oder zu erörtern. Das Wort "Selbstmord" ist schlicht das geläufigste und erinnert uns zudem daran, dass wir insgesamt von einer gewalttätigen Zeit reden. Mit "Freitod" habe ich auch keine Probleme, wenngleich nicht jeder, der ihn "wählt", wirklich so frei ist.

Viele Verzweifelte sind Opfer von Panikpropaganda, ob absichtlich gestreut oder Nebenwirkung von sensationslüsterner Berichterstattung. Oft sind sie gleichzeitig Schuldbewusste, wobei ihr eigenes Urteil von dem eines hypothetischen Richters erheblich abweichen kann - nicht aber muss. Über Goebbels brauche ich nicht nochmal anzufangen. Zwischen robusten Zynikern und Unschuldslämmern gibt es noch einiges mehr.

Unser Interesse sollte vor allem sein, diejenigen manifesten Tatsachen für uns und die Nachwelt zu ermitteln, die den unmittelbar Beteiligten bekannt waren, aber nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen wurden. Dazu gehören so einfache Dinge wie die Benennung des Amtes bzw. Dienstgrades, mit dem zwar nicht die objektive Schuld gemessen werden kann, vielleicht aber die Furcht vor Strafe bzw. Rache oder Schande.

Nicht nur Freitode, sondern auch Mordtaten, Verschleppung usw. werden in Briefen regelmäßig kommentarlos erwähnt. Da liegt die Vermutung nahe, dass die empfangenden Personen die jeweiligen Gründe gut kennen, sonst würden die schreibenden doch zumindest ihre Unkenntnis bekunden. Beispiel: in mir vorliegenden Briefen über Danzig und Zoppot steht:

"Und nun eine Liste der Opfer, soweit ich glaube, daß sie für Euch interessant ist: Dr. xxx (neben vielen anderen Ärzten) ..."

- warum "viele Ärzte" zu den "Opfern" gehören, ist der Empfängerin wie auch uns sonnenklar. Entsprechendes erkenne ich bei etwa der Hälfte der Aufgelisteten. Mitten drin heißt es aber: "'Poguttke' an Erschöpfung gestorben". Dass der Kolumnist i.R. Fritz Jaenicke eines natürlichen Todes starb und auch von Polen verehrt wurde und wird, wissen wir alle. So verwischt der Schreiber die Unterschiede.

Weiteres Beispiel aus den Briefen:

"Selbstmorde (Auszug): RA yyy und Frau, Zpt., Dr. xxx, ... Eine Anzahl anderer sind im Zuchthaus Graudenz verstorben."

xxx ist derselbe wie oben als "Opfer" bezeichnet. Für die Überführung ins Zuchthaus muss es manifeste (wenn auch nicht unbedingt stichhaltige) Gründe gegeben haben, das Gleiche gilt folglich für die "einen", zu denen die "anderen" gehören.

Wichtig ist auch die Frage, wer die Untergangsstimmung aktiv schürte, womöglich aus destruktivem Eigeninteresse.

Wer also entsprechende Informationen hat, tut gut daran, sie der Nachwelt zu übermitteln. Die Zeiten, in denen man glaubte, auf Lügen beharren zu müssen, weil die "Gegenseite" dies auch tat und sonst einen Vorteil bekäme, sind vorbei. Zwischen Gründen und Rechtfertigung können und müssen wir sauber unterscheiden. Auch tut es dem Gedenken an die Vergangenheit keinen Abbruch, wenn wir nebenbei feststellen, dass die Heiligen in der absoluten Minderheit waren - eigentlich wussten wir es schon vorher.

Respektabel ist übrigens die Erkenntnis "wie früher die Judenfrauen bei uns" von Wolfgangs Großmutter (http://forum.danzig.de/showthread.php?1149-Erlebnisse-meiner-Gromutter-Gertrud-Naujocks-geb-Trosin).

Schönes Wochenende an alle,

Alexander

Helga_Claassen, +12.10.2010
04.07.2010, 14:08
Ich habe in der Familie zwei Tanten gehabt die ein bisschen älter waren als ich selber und die haben ein paar ganz junge Töchter gehabt. Diese waren zu jung um sie zu missbrauchen und ich weiß nicht was mit ihnen passiert ist. Aber die zwei Tanten haben selber an sich Hand gelegt und wir wissen nur, dass sie tot gefunden wurden ohne ihre Töchter. Die zwei waren ganz bestimmt keine Nazis, aber ich will nicht ausschließen dass sie lange an den Führer geglaubt haben, aber das verstehe ich auch. Denn auch ich habe an den Führer geglaubt und habe geglaubt, dass das was er tut notwendig ist. Und das was da so nebenbei erzählt wurde habe ich als Gräuelpropaganda von unseren Feinden abgetan. Und 1945 ist für mich eine Welt zusammengebrochen an die ich geglaubt habe. Ich bin noch rechtzeitig aus Danzig rausgekommen, aber bei dem was den Andern von den Russen und dann von den Polen angetan wurde (und später wurden die Danziger dann von den Russen vor den Polen geschützt), da hätte ich mich vielleicht auch umgebracht wenn ich nicht rechtzeitig rausgekommen wäre. Und ich war mit meinen 16 Jahren zwar lange Zeit führerhörig, aber ich war bestimmt kein verbrecherischer Nazi.

Liebe Grüße von den Balearen
Helga Claassen

magdzia
05.07.2010, 20:08
Zitat von Wolfgang:
"Diese Menschen sind zum allerallergrößten Teil in höchster Not als unmittelbare Kriegs- oder Kriegsfolgeopfer aus dem Leben geschieden."


Ist die „höchste Not“ wirklich Entschuldigung dafür, dass ich meine Kinder umbringe?:confused:

Neulich ist in ARTE der Film „Die Nacht von Wildenhagen“ gelaufen. Dort töteten sich die Frauen (bevor noch die Rote Armee einmarschierte) und nahmen ihre Kinder mit in den Tod, mitunter waren es vereinzelt ganze Familien (1/4 der dortigen Bevölkerung). Der Rest ist zum größten Teil aber geflüchtet. In Wildenhagen wurde ein Mädchen von den Rotarmisten noch lebend am Strick vorgefunden und gerettet. Sie erzählte in dieser Sendung von dem damaligen Ereignis und von ihrer Mutter, die ein „kaltes Wesen“ besaß.
Solche Orte, wo Kollektivselbstmorde verübt wurden, gab es damals einige, in manchen betrug die Rate die Hälfte der Bevölkerung des Ortes (lt. der Sendung).

Aus den Erzählungen meiner Oma weiß ich, dass nach dem Einmarsch der Roten Armee sich manche junge Frauen umbrachten. Das kann man auf das ihnen Zugefügte zurückführen und, dass sie sich in einem Schockzustand befanden. Was trieb aber diejenigen dazu, die in diesem Zustand nicht waren und es seelenruhig tagelang planten?

Die Selbstmorde geschahen bevor diese Menschen Kriegs- oder Kriegsfolgeopfer wurden und ich frage mich, wie kam es dazu, dass diese Mütter lieber den Tod für sich und ihre Kinder wählten als zu flüchten? Welche Beweggründe hatten sie wirklich? Was hat sie dazu getrieben? Warum nahmen sie ihre Kinder mit?

Solch ein Vorgehen erinnert mich eher an den Kollektivselbstmord 1978 in Jonestown (Guyana) als an eine auswegslose Lage.

Viele Grüße
Magdalena

Christkind
05.07.2010, 23:01
Ich weiß nicht, Magda, ob die Mütter es seelenruhig planten?
Eine Mutter muss schon sehr verzweifelt sein, wenn sie für sich und die Kinder diese Entscheidung trifft.
Welche Mutter würde aus dem Leben scheiden und die kleinen Kinder ihrem Schicksal überlassen? Einem Schicksal, das mit Sicherheit ohne die beschützende Mutter ebenfalls der Tod gewesen wäre?
Ich erinnere mich an Gespräche der Erwachsenen, wenn wieder von so einem Selbstmord in Danzig geredet wurde.Eine Frau wickelte sich und ihre beiden Kinder in Decken und ging ins Wasser. Wir fragten nach dem Warum. Die Erklärung meiner Mutter:Die Frau war so verzweifelt, dass sie keinen anderen Ausweg fand. Der Mann gefallen,sie war allein. Ich fragte meine Mutter, ob sie das auch tun würde.Ich weiß genau, ihre Antwort war: Nein, das könnte ich nicht fertigbringen.Ich war erleichtert, dass ich keine Angst haben musste.
Die Mutter einer Freundin von mir stürzte sich aus Verzweiflung mit ihr in Zoppot vom Seesteg ins Wasser. Eine Russe sah es und rettete beide.Dieses Ereignis belastet meine Freundin immer noch.Diese Gefühl, wenn das Wasser über einen zusammenschlägt....
_______

Mit Grüßen von Christa

asche
12.07.2010, 19:27
Helga C. hat nach meinem Empfinden einen Schlüsselsatz beigesteuert, nämlich:

> Und 1945 ist für mich eine Welt zusammengebrochen an die ich geglaubt habe.

In diesem "Glauben" haben viele auch gehandelt, d.h. Dinge getan, die sie nur dadurch rechtfertigen konnten,

> dass das was er tut notwendig ist.

Nämlich Hitler, und mit dessen Untergang war also auch die Rechtfertigung dahin, wohlgemerkt zunächst vor dem eigenen Gewissen. Ferner dürften sich manche auch vor den Landsleuten geschämt haben, beispielsweise diejenigen in einem anderen Thread Erwähnten, die "Deserteure" oder "Defätisten" denunziert haben.

Mit solch einem Bewusstsein können Eltern ihre Kinder umbringen, sozusagen als wandelnde Gewissensbisse (das ist keine rationale Begründung, aber in ähnlichen Fällen als subjektives Motiv aktenkundig). "Höchste Not" - sicher, aber eben nicht direkt von außen her kommend, allenfalls durch Panikpropaganda verstärkt.

(NB: Helga, dass du dir nichts hast zuschulden kommen lassen, glauben wir gerne, aber vielleicht kanntest du solche Fälle von damals Erwachsenen?)

Wenn unsere Eltern uns die fraglichen Vorgänge deuten wollten, war ursprünglich immer nur von den wahllos mordenden und vergewaltigenden Russen und Polen die Rede, siehe oben. Später kamen die verbrecherisch-zynischen Nazis hinzu, die allesamt nach Argentinien geflohen seien und folglich nicht unter "uns" weilten. Dass es solche Leute gab, ist unbestritten, aber sie können nicht alle "Opfer" erklären, wie etwa die oben in den Briefen angedeuteten. Deshalb meine Bitte, sich von der Frage der Schuldzuweisung zu lösen und die Fakten vor dem Vergessen zu retten. Der Begriff "Nazi" ist bei genauem Hinsehen nicht präzise zu definieren, wir sollten ihn daher vermeiden. Amts- und Berufsbezeichnungen, Taten, Ereignisse und Bekundungen sind das Wichtige, von dem aus wir uns den Beweggründen bestmöglich nähern können.

So würde ich etwa gerne zu den oben erwähnten Ärzten ein paar Einzelheiten erfahren, wenngleich ihr prinzipielles Motiv wie gesagt leicht zu erraten ist.

Kennt ihr analoge Fälle? Was wusste oder ahnte die Allgemeinheit davon? Wer musste damals befürchten, aufgrund seines Vorlebens **gezielt** umgebracht oder verschleppt zu werden? Wie gingen überhaupt die Russen oder Polen bei der "Entnazifizierung" zu Werke, welche Ortskundigen waren daran beteiligt und wie verhielten sich diese?

Danke, auch im Voraus, an alle, die zu unserer Belehrung ihr Gedächtnis zermartern oder ihr Familienerbe befragen!

Gruß

Alexander

MeinEichwalde
01.10.2012, 11:29
Liebe Danziger und Freunde,

da ja der November bevorsteht mit den Totengedenktagen, will ich hier noch den link von einem Werderbericht reinstellen, der auch ein eEinschätzung der Selbstmorde gibt. Geschrieben in offiziellem Auftrag von dem langjähringe Kreisbauernführer Fieguth
http://www.dieheimatdelias.de/Fieguth.html
sonnige Oktobergruße
Delia

asche
01.10.2012, 23:50
Sehr aufschlussreich, wie viele der von dir gesammelten Texte, Delia. Besonders bezeichnend scheint mir, dass der Herr Kreisbauernführer gleich zwei Bauern-Funktionäre nennt, die zuerst all ihre Untertanen retteten (und sich also problemlos ebenfalls hätten retten können), dann aber ihre Familie und sich selbst umbrachten. Hof und Heimat verloren hatten die anderen auch, die Funktionäre (gewiss nicht gewählt, sondern vom Regime benannt) hatten noch mehr zu verlieren.

Der als "Vertreter des Reichsnährstandes" Titulierte hat bis 1952 nichts hinzugelernt und glaubt, den Lesern seine Funktionärs-Kollegen als aufrecht-tragische Helden verkaufen zu können.

Das Paradoxe ist, dass diese Leute einerseits felsenfest davon überzeugt waren, "anständig" zu sein (Himmlers Lieblingswort, und nicht nur seins), andererseits aber durchaus wussten, dass dieser Anstandsbegriff nur ein Konstrukt des NS-Regimes war. So ging es offenbar sehr vielen, denn erstaunt über die Selbstmorde war anscheinend niemand, und man brauchte 1952 die Gründe nicht einmal anzudeuten. Trotzdem war man eifrig darin, rhetorisch den Russen die Schuld zuzuschieben. Eine Lebenslüge gebiert die nächste.

Gedenken der Gewaltopfer ist eine wichtige Sache, auch derjenigen, die Mitschuld hatten. Wenn man ihnen aber Heldenmäntel umhängt, macht man sie unkenntlich und versagt sich der Lehren, die man aus ihrem Tod ziehen kann und muss. Insbesondere gilt es, die verschiedenen Gründe für die Gewaltakte sauber auseinander zu halten.

- Alexander -

MeinEichwalde
02.10.2012, 10:09
Einen sonnigen Morgen,

1952 finde ich gab es ja schon die landsmannschaftlichen Treffen der Westpreussen, zu denen eventuell auch die Reichsdeutschen Partner erschienen.Das Totengedenken ist ein standardmäßiger Bestandteil bis heute. Und auch das Gespräch über alle ehemaligen Nachbarn. Man war ja unter sich, die Nachbarn waren auch alle zurückgebliebenen und seit 1939 abhanden gekommenen Nachbarn. Im Gespräch wurde das ausführlichst bekakelt. Diese GEspräche gehören zu dem interessantesten was uns die Zeitgeschichte heute zu bieten hat. Diese Geschichte ist ungeschrieben. In den Geschichten des BdV fehlt Westpreussen meistens. Ich habe viel telefoniert und mir berichten lassen. So habe ich das Schicksal aller 27 Kreisbauernführerfamilien des Reichsgaus Danzig WEstpreussen recherchiert.
LG Delia

ada.gleisner
02.10.2012, 19:08
Aus dem Freundes- und Bekanntenkreis meiner Eltern möchte ich 2 Beispiele erzählen. Einmal das Ehepaar Klump, er war ein leitender Angestellter des Arbeitsamtes. Sie sind beide in Danzig geblieben, wurden beide nach Rußland in Arbeitslager verschleppt. Er kam schon nach wenigen Jahren zurück, sie erst nach ca. 10 Jahren, eine gebrochene Frau.Warum sind sie nicht geflüchtet? DAs andere Ehepaar, ein bekannter Bauunternehmer aus Langfuhr, Albert Falk, hat sich mit seiner Frau kurz vor dem Einmarsch der Russen das Leben genommen. Was er an Schuld auf sich geladen hatte,weiß ich nicht. Es war ein schon älteres Ehepaar und meine Eltern waren damals der Meinung, daß sie ihr Leben mit Fortgang aus Danzig, irgendwohin, nicht weiterführen wollten. Es hatte keinen Sinn mehr für sie, dem letzten Lebensabschnitt einen neuen hinzuzufügen, der nicht zu überschauen war. Viele der Bekannten meines Vaters haben sich das Leben genommen. Es waren meist biedere Handwerksmeister, hatten sie alle Schuld auf sich geladen und nun Angst vor der Verfolgung ? Ich weiß es nicht, glaube es auch nur zu einem kleinen Teil. Briefe meines Vaters an meine Mutter aus Danzig - er mußte als Volkssturmhelfer dort bleiben - zeigen mir, wie chaotisch das Leben in dieser Stadt bereits zwischen Januar und Ende März oder Mitte April in Danzig war. Es waren Deutsche Mitbürger, die in Häuser und Wohnungen eingebrochen sind und alles herausgetragen haben. Mein Vater hat meistens in der Stadt geschlafen bei seinem Freund Manfraß, der, glaube ich in der Hundegasse wohnte (ich kann mich aber auch irren in der Straße). Also dieses Aufhören jeder Ordnung war für viele sicher ein Vorgeschmack von den Dingen, die da noch kommen sollten. Einfacher gesagt, ich glaube nicht an eine kollektive Scfhuld der Selbstmörder, jeder hatte wohl seinen eigenen Grund. Wie froh können wir sein, daß diese Entscheidung uns nicht abverlangt wird. Liebe Grüße von Ada

Uwe
02.10.2012, 20:13
Liebe Ada,

ich glaube auch nicht, dass es sich bei den meisten um Selbstmord aus der persönlichen Schuld handelte. Bei Einzelnen war das vielleicht der Grund, bei der Vielzahl war es jedoch das Inferno was über die Menschen herein brach, dass verloren gehen jedweder Ordnung und die Angst vor dem was beim Einmarsch der sowjetischen Armee mit Ihnen oder Ihrer Familie passiert. Wenn ich heute die Augenzeugen- und Erlebnisberichte der Menschen in Danzig lesen, die den Weg nicht in den Selbstmord gegangen sind, kann ich die Angst dieser Menschen sogar nachvollziehen.

Viele Grüße

Uwe

MeinEichwalde
03.10.2012, 10:35
LIebe Ada, meine Frage war ja ob diese Fragen in Briefen und in den Familien und im Kreise der Nachbarn unterschiedlich diskutiert wurden. Ich sag mal noch ein Beispiel aus meiner Familie: Meinem Grossonkelwurde es vorgworfen von Teilen der Familienmitglieder, dass er sich als wackerer SS Anhänger nicht umbrachte als er gefangengenommen wurde.Seine Schwester machte das so. Seine beiden weiteren Schwestern allerdings nicht. Meinen beiden Eltern geht es so gut und ich geniesse es mittlerweile wie vorbildlich und demLeben zugewandt sie alt geworden sind, und nicht als 16 und 18 jährige von ihren Eltern umgebracht wurden.Meine Mutter als Danzigerin.Der preussische Ehrbegriff, der verlangte bei Ehrverlust aus dem Leben zu scheiden war sicher bei manchen auch verbreitet.Auch heute wird das ja genannt, wenn es um üble Leistungen unsere Elite geht, in dem Sinnen von "früher hätte man sich erschossen, wie es sich gehörte...." Als zweiter Gesichtspunkt ist die Angst vor dem gewaltvollen und qualvollen Tod wie auch heute ein Grund zum Selbstmord. Das Zurücklassen von Alten und Kranken war ja auch etwas wie sie dem Tode zu überlassen. Meine Urgrossmutter brachte sich um. Sie wohnte zuletzt am goldenen Ring in Marienburg. Den anderen nicht zur Last fallen wollen, mit dem Lebenswerk des Hofes untergehen. Der Kapitän geht als letztes von Bord. Ich schweife ab, wohl weil ich es mit doch nicht vorstellen will.
LG Delia

asche
03.10.2012, 21:59
Traditionelle militärische Ehrbegriffe verlangten, dass man sich tötete, wenn man als Befehlshaber eine wichtige Schlacht verloren hatte, sei es durch Fahrlässigkeit oder auch nur Pech. Die Idee war, dass man so den Verdacht ausräumte, man habe aus Angst um sein Leben seine Pflicht versäumt. Die Ehre, z.B. der Familie und der Abteilung, war danach komplett gewahrt, so als wäre man im Kampf gefallen. Seine Angehörigen ließ man tunlichst am Leben, denn sie wurden ja gerade der Ehre teilhaftig, und bekamen ggf. Hinterbliebenenrente.

Dieser Ehrbegriff lag beispielsweise zugrunde, als sich japanische Offiziere kollektiv vom Felsen in Okinawa stürzten. In Deutschland dürfte er 1945 nur geringe Relevanz gehabt haben. Besagter Nährständler berichtet ja gerade im Gegenteil, dass die zivilen Bauernführer ihre Kriegspflicht gewissenhaft erfüllt hätten.

Ein verwandtes, aber konkreter militärisches Motiv ist, sich **bei akut drohender Gefangennahme** zu töten, um dem Feind den Triumph zu mindern, und um nicht durch Folter zum Verrat bewegt zu werden, oder auch nur in der Heimat diesen Verdacht zu nähren. Auch dieses Motiv dürfte 1945 eher selten geworden sein; immerhin aber hat Hitler seinen Selbstmord samt angeordneter Leichenverbrennung entsprechend begründet.

Unter gläubigen Nazis gab es ferner die Idee, dass man den Untergang des deutschen Volkes zu beschleunigen habe, wenn es sich als unfähig erwiesen habe, den Krieg zu gewinnen. So predigte Goebbels - freilich fernab jeglicher noch so abstrusen Logik. Zudem hätte es ja bedeutet, dass die SS-Männer zunächst im eigenen Volk Amok zu laufen haben, bevor sie sich selbst töteten. Nein, zu dieser Art Schicksalsdienst dürften nur wenige motiviert gewesen sein. Schon gar nicht hätten andere Deutsche dies von SS-Männern verlangen können, denn sie hätten dann ja "selbst morden" müssen.

Kurz, in den meisten hier genannten Fällen dürften obige Erklärungen absolut unzutreffend sein. Natürlich gab es eine ganze Reihe eher privater Motive. Wer sich aber aus mangelndem Lebensmut tötet, lässt normalerweise seine Angehörigen am Leben, es sei denn, ihnen droht unausweichlich der Hungertod o.ä. Zumindest die Familienmorde dürften sich also auf eine ganz andere Unehre als die oben Genannte beziehen, nämlich auf (selbstempfundene oder von der Umwelt nahegelegte) manifeste moralische Desavouierung, die als so gravierend empfunden wurde, dass man glaubte, sie würde auch den Kindern anhängen. (Nochmal: mit dem wirklichen Maß der Schuld, sofern überhaupt messbar, muss dies nicht unbedingt konform gehen. So dürften die größten Verbrecher von solchen Anwandlungen unberührt gewesen sein, sofern sie die Möglichkeit zum Untertauchen sahen.)

Die Unehre Vieler bestand ja gerade darin, dass sie ihrer NS-Pflicht "vorbildlich" nachgekommen waren und davon große Vorteile hatten. Beispielsweise hatten die Bauern sogenannte Ostarbeiter zugeteilt bekommen, vulgo Sklaven (dieses Wort ist übrigens vom Altgriechischen her mit "Slave" identisch). Manch einer, ob Nazi oder nicht, dürfte der Versuchung erlegen sein, die Leute über das Erforderliche hinaus auszubeuten und zu malträtieren; die Überlebensrate ähnelte derjenigen der später nach Sibirien verschleppten Deutschen (die leider nur selten identisch mit den vorherigen Sklavenhaltern waren). 1945 versuchten die Überlebenden gemeinsam mit den Deutschen in den Westen zu gelangen, denn für die Rote Armee waren sie bekanntlich Kollaborateure. Fieguth verkauft dies groteskerweise als Absolution.

Für besonders wichtig halte ich, festzuhalten, wie es sich mit der Mitwisserschaft und dem Moralgefühl der durchschnittlichen Bevölkerung verhielt. Eigentlich muss den Meisten klar gewesen sein, spätestens seit der "Kristallnacht", dass sie in eine Gaunerbande geraten waren, und zwar als Mitglieder. Das Ausmaß der Mittäterschaft war ja komplett "kontinuierlich", vom Massenmörder bis zum Passiv-Verweigerer, so dass sich die Grenze zwischen Nazis und "gewöhnlichen" Deutschen nur selten scharf abzeichnete. Dennoch, oder gerade deshalb, scheint 1945 jeder gewusst zu haben, dass beispielsweise "viele Ärzte" - ohne weitere Kennzeichnung - Grund zum Selbstmord hatten.

An weiteren Texten zu diesem Thema bin ich interessiert. Leider bin ich kein wirklicher Kenner der Standardliteratur, wo sicher noch einiges zum Thema zu finden ist. Originalquellen wie die genannten sind aber oft noch aussagekräftiger.

- Alexander -

MeinEichwalde
04.10.2012, 20:32
..."Wdass sie an eine Gaunerbande geraten waren und zwar als Mitglieder" ist wirklich eine sehr schöne Formulierung von Dir ich hab gelacht ach ja Texte finde ich gerade keine mehr. aber vielleicht ergibt sich von anderer Seite noch was bis zum Volkstrauertag, wenn man das Thema Kriegstote und Ziviltote noch mal beobachten kann in den REden
LG Delia

asche
07.10.2012, 00:54
Manchmal neige ich zu aphoristischen Formulierungen, in diesem Fall habe ich mich aber von der damals empfundenen bitteren Realität nicht weit entfernt.

Wir sollten vielleicht festhalten, dass hier von der Generation der im Kaiserreich Geborenen die Rede ist, die noch mit hergekommenen Moralvorstellungen aufgewachsen war, in der Nazizeit aber vor immer neuen kleinen oder größeren Versuchungen stand, vom rechten Weg abzukommen. Mein Großvater schlug als Beamter eine Beförderung aus, die an die NSDAP-Mitgliedschaft geknüpft war (ohne weitere Nachteile zu erleiden); manch anderer glaubte hingegen, mit einem Aufnahmeantrag kein Unrecht zu begehen, und wurde dann sukzessive als Komplize vereinnahmt. Goebbels wies gegen Kriegsende öffentlich höhnisch darauf hin, dass diese Leute im Falle der Niederlage "mitgehangen" würden, selbst vor etwaigen objektiven Richtern. Das entsprechende Gefühl war wohl schon 1938 verbreitet.

Für viele jüngere Leute "brach 1945 eine Welt zusammen", aber sie konnten sich zumindest zu Gute halten, dass sie die allgemeine Verrohung vorgefunden, nicht mitverursacht hatten. Natürlich gab es auch unter ihnen Schwerverbrecher, aber der typische Verrat an der eigenen Moralerziehung betraf im Wesentlichen Generationsgenossen des Herrn Fieguth.

Das Thema wird mich weiter interessieren. Speziell über Zoppoter Verhältnisse wüsste ich gerne mehr, z.B. was die Bevölkerung bis 1945 über die Taten der Ärzte wusste oder vermutete.

- Alexander -