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Wolfgang
31.08.2010, 22:02
Aus "Unser Danzig“, 05.02.1967, Nr.3, Seiten 10-11


Die Speicherbahn
Erinnerung an eine Danziger Sehenswürdigkeit
von Kurt Remuss

Bald nach der Fertigstellung der Eisenbahnlinie von Danzig nach Dirschau, die im Jahre 1852 Danzig als vorläufige Endstation an die bereits bestehenden deutschen Schienenstränge nach dem Osten anschloss, stellten die Danziger Kaufleute fest, dass der Leegetorbahnhof in keiner Weise den Verkehrsanforderungen des Danziger Handels entsprach. Dazu kam, dass die gesamten zu den Speichern auf der Speicherinsel zu befördernden Waren auf dem beschränkten Platz dieses Bahnhofs in Fuhrwerke umgeladen werden mussten, die dann die Hopfengasse zu verstopfen pflegten.

Was lag näher, als dass man auf den Gedanken kam, einen Schienenstrang in die Hopfengasse zu legen, also mitten zwischen die Speicher hinein, um so die Eisenbahnwaggons direkt in die Speicher entladen zu können. Jedoch auch damals arbeiteten die Behörden langsam; sehr zum Ärger der Kaufmannschaft, die ihrerseits Vorschläge über Vorschläge machte, jedoch immer auf Unverständnis stieß...

Schließlich versuchte man, die Angelegenheit der Öffentlichkeit zu unterbreiten, was wenigstens einen teilweisen Erfolg hatte. Denn im Bericht der "Aeltesten der Kaufmannschaft zu Danzig" für das Jahr 1861 heißt es wie folgt:

"Am Anfang des vorigen Jahres haben wir die Königliche Direction der Ostbahn darauf aufmerksam gemacht, dass es in Folge des wachsenden Verkehrs bei den ungünstigen Bahnhofsräumlichkeiten nicht gut möglich ist, das Abfahren der mit der Ostbahn ankommenden Getreidetransporte so schnell zu bewirken, als es die Reglements erheischen; wie bedeutend der Verkehr aber auch hier gestiegen ist, ergeben die nachstehenden Zahlen:

Es sind mit der Ostbahn hier angekommen:

Im Jahre / Getreide u. Öl-Saaten
1854: 5.618 Lasten
1855: 6.488 Lasten
1856: 6.862 Lasten
1857: 6.891 Lasten
1858: 15.725 Lasten
1859: 12.738 Lasten
1860: 21.903 Lasten
1861: 28.611 Lasten

Die Direction der Ostbahn hat bei den mit unserem Collegio dieserhalb gepflogenen Verhandlungen die von uns gerügten Übelstände nicht verkannt, verwarf jedoch das von uns vorgeschlagene Auskunftsmittel, nämlich das Legen eines Schienenstranges nach der Speicherinsel wegen entgegenstehender localer Schwierigkeiten, deren Vorhandensein nicht abzuleugnen ist, und beschränkte sich darauf, durch Vermehrung der Schienenstränge auf dem Bahnhof selbst dem Verkehr eine kleine Erleichterung zu verschaffen; wir glauben aber kaum, dass damit dem Übelstande auf die Dauer abgeholfen sein wird."

Hemmnisse vieler Art
Jahrelang beschäftigte dann dieses Problem einer Speicherbahn die Danziger Kaufmannschaft. 1866 schien die Angelegenheit in ein neues Stadium zu treten, weil nämlich auch der Magistrat — dessen Stadtverordnete übrigens zum großen Teil Kaufleute waren — sich der Sache annahm und feststellte, "dass an der Durchführbarkeit des Projektes nicht zu zweifeln sei". Die Kaufmannschaft war bereit, das zum Bau erforderliche Geld zusammenzubringen. Die Techniker begannen darauf mit ihren Planungen. 1869 hieß es, dass das Projekt definitiv beschlossen worden sei und voraussichtlich im Sommer 1870 ausgeführt werde.

Der Krieg von 1870 mag die Ausführung zunächst verzögert haben, denn im Bericht für dieses Kriegsjahr heißt es, "dass die Anlage voraussichtlich schon in den nächsten Monaten in Angriff genommen werde". Aber der Krieg zog sich hin, und die Arbeit, welche noch im Herbst 1871 in Angriff genommen werden sollte, erfuhr einen neuen Aufschub, weil damals bei dem herrschenden Mangel an Arbeitskräften eine Fertigstellung in ununterbrochener Arbeit nicht in Aussicht gestellt werden konnte. Im Bericht der Kaufmannschaft für 1872 aber heißt es plötzlich:

"Die Angelegenheit der Anlage einer Eisenbahn auf der Speicherinsel vom Leegetorbahnhof durch die Hopfengasse bis zur Milchkannengasse, deren Ausführung sich aus verschiedenen Ursachen von Jahr zu Jahr verzögerte, hat neuerdings ihre Erledigung dadurch gefunden, dass das Projekt aufgegeben ist. Entgegen dem ursprünglichen Plane der Herstellung eines einfachen Schienenstranges ist nämlich die Königliche Direktion der Ostbahn zu der Anschauung gelangt, dass nur auf einem mit mehreren Weichen versehenen Doppelgleis ein zweckentsprechender Verkehr möglich, ein einfacher Strang aber wegen des unvermeidlichen Rangierens der Eisenbahn-Waggons vor den Speichern kaum benutzbar sein werde. Wir konnten unsererseits dieser Ansicht um so unbedingter uns anschließen, als wir dieselbe von vornherein vertreten und nur gegenüber der Autorität von Eisenbahntechnikern aufgegeben hatten.

Leider durften wir uns aber auch nicht verhehlen, dass die Anlage eines Doppelgleises in der Hopfengasse nur ausführbar sein werde, wenn dasselbe in einer wesentlich geringeren Breite als mit den von der K. Direktion der Ostbahn beanspruchten 8V2 Metern freien Raumes hergestellt werden konnte, da sonst an verschiedenen Stellen der Straße nur 20 und einige Fuß für die Fahrstraße und den Bürgersteig übrig bleiben würden. Eine so schmale Straße aber unmittelbar neben einer Eisenbahn würde natürlich für den lebhaften Wagenverkehr in der Hopfengasse nicht ausreichen. Unter diesen Umständen waren wir zu unserem Bedauern genötigt, unter der Voraussetzung auf die ganze Anlage zu verzichten, dass nicht doch die beiden Geleise auf wesentlich geringerem Räume gebaut werden könnten. Da die K. Direktion der Ostbahn dies aber unbedingt abgelehnt hat, so ist das Projekt mit beiderseitiger Zustimmung aufgegeben."

Es schien also zunächst aus mit dem schönen Gedanken einer Speicherbahn. Die damalige Technik stand eben vor unüberwindlichen Hindernissen. Aber man tröstete sich mit den ungeheuer schnellen Fortschritten der Entwicklung und hoffte auf bessere Zeiten.

Leegetorbahnhof zu klein
Inzwischen beschäftigte man sich mit den keineswegs ausreichenden Anlagen des Leegetorbahnhofes, der nach Fertigstellung der von der Danziger Kaufmannschaft in Bau gegebenen Eisenbahnstrecke Marienburg— Mlawa den dann ganz erheblich gesteigerten Verkehr nicht mehr bewältigen konnte. Bereits 1873 schlugen die Kaufleute daher vor, den gesamten Personenverkehr nach dem Bahnhof Hohetor zu verlegen und ihn zu diesem Zweck entsprechend zu erweitern und auszubauen, da die Lage des Leegetorbahnhofes eine wesentliche Erweiterung nicht zuließ.

Im Eisenbahnetat von 1875 wurde dann auch schon die erste Rate der für den Ausbau des "Hohetorbahnhofes" veranschlagten Kosten von 2,4 Millionen Mark mit 650 000 Mark ausgeworfen. Aber — man hörte nichts mehr von diesem Projekt, das allerdings die Zuschüttung eines Teiles des für die Festung Danzig unentbehrlichen Stadtgrabens bedingt hätte.

"Dass ein so dringendes und in der Etatsvorlage des Herrn Handelsministers auch so dringend motiviertes Projekt, nachdem der Landtag die erste Rate der Baukosten bewilligt hat, anscheinend wieder auf die lange Bank geschoben ist, können wir nur lebhaft beklagen", heißt es im Jahresbericht des Vorsteher-Amtes der Kaufmannschaft zu Danzig für das Jahr 1875 . ..

Eines aber war inzwischen allen Beteiligten klar geworden: Mit Dampflokomotiven, die damals erheblich mehr qualmten als die letzten von heute und noch dazu einen starken Funkenregen von sich zu geben pflegten, konnte man allerdings auf der Speicherinsel wegen der großen Feuersgefahr ein Hin- und Herrangieren der Waggons nicht durchführen. Schon aber hatte wieder ein Unternehmer ein neues Projekt in Vorschlag gebracht, das 1876 lang und breit erörtert wurde. Er wollte nämlich eine Pferdebahn, und zwar schmalspurig, vom Bahnhof Leegetor bis zur Speicherinsel in Betrieb nehmen, bis er sich dann doch von der Unrentabilität überzeugte und den Vorschlag zurückzog.

Denn der Bahnhof, der immer noch mit nur einem Gleis mit der Welt vor den Wällen verbunden war, und über den der gesamte Güter und Personenverkehr in Richtung Dirschau ging, war völlig überlastet, so dass keine Gewähr für ein fristgerechtes Beladen gegeben werden konnte.

Als im Jahre 1878 eine Danziger Pferdestraßenbahn gebaut werden sollte, die im Weichbilde der Stadt vom Langgarter Tor bis zur Werft und sogar bis nach Neufahrwasser verkehren sollte, kam deren Unternehmer auf den Gedanken, gleichzeitig das Projekt der Pferdebahn vom Bahnhof Leegetor zur Speicherinsel zu verwirklichen. Er erhielt auch eine Konzession dahin gehend, dass in der Hopfengasse lediglich ein Güterverkehr durchgeführt werden dürfe, auf den anderen Strecken aber ein Güter- und Personenverkehr.
Das neue Verkehrsmittel lief an, erwies sich aber bald als ungeeignet, weil auf dem Bahnhof Leegetor erst eine Umladung vom Eisenbahnwagen auf je zwei Waggons der Pferdebahn erfolgen musste. Die neue Anlage bedeutete also gegenüber dem bisherigen Fuhrwerksverkehr keine wesentliche Erleichterung. Man sah bald ein, dass das alte Projekt der direkten Anfahrt der Eisenbahnwaggons doch die einzige Lösung dieser ganzen Verkehrsschwierigkeiten war, zumal durch die inzwischen erfolgte Eröffnung der den Danziger Kaufleuten gehörenden Eisenbahn Marienburg—Mlawa—Warschau der Verkehr sich tatsächlich gewaltig gehoben hatte und man nun ernsthaft daran denken musste, mindestens zwei Gleise zu legen.

Einigung nach 20 Jahren
Im Jahre 1884 war die Lage schließlich so, dass eine Katastrophe drohte. Und siehe da, jetzt waren sich plötzlich alle Beteiligten einig. Inzwischen waren allerdings zwei Jahrzehnte über die Speicherinsel hinweg gezogen, und die Eisenbahntechniker hatten in dieser Zeit vieles hinzugelernt. Was einst unmöglich schien, wurde nun in der verhältnismäßig sehr kurzen Zeit von etwa zehn Wochen geschafft. Ein System von Weichen und Drehscheiben war erdacht worden, um in der engen Hopfengasse zwei Gleise zur Verfügung zu haben. Finanziert wurde der Bau von der Korporation der Kaufmannschaft, deren Rechtsnachfolgerin, die Industrie- und Handelskammer Danzig-Westpreußen, bis 1945 Eigentümerin der Anlage war. Am 17. September 1884 konnte die Speicherbahn in Betrieb genommen werden.

Wegen der Feuersgefahr sah man indessen weiterhin davon ab, Dampflokomotiven zur Fortbewegung der Waggons zu verwenden; man blieb beim Pferdebahnbetrieb.

Bis 1943 ist es nicht gelungen, anstelle des Pferdezuges eine mechanische Zugvorrichtung für die Speicherbahn zu schaffen. dass man ein halbes Jahrhundert an diesem Problem arbeitete, beweist, dass seine Lösung infolge der Ungunst der örtlichen Verhältnisse ungemein schwierig war. Aber, wie man sich bereits 1888 mit dem Projekt einer elektrischen Beleuchtung der Speicherbahn intensiv beschäftigte — damals war die Glühlampe noch die Weltsensation —,ist im stillen an diesem Verkehrsproblem weiter gearbeitet worden.

Ein Ersatz der Fuhrgespanne durch eine auf Schienen fahrende Lokomotive, gleichgültig, ob sie elektrisch oder mit Dampf betrieben wurde, kam nach dem einstimmigen Urteil aller Sachverständigen nicht in Frage, da der Rangierbetrieb bei dem Mangel an Weichen und der Unmöglichkeit, ein drittes Gleis in die Hopfengasse einzubauen, einzig von einer Antriebsvorrichtung bewältigt werden konnte, die von dem Schienenweg selbst unabhängig war. Denn das Schienenfahrzeug selbst wäre dauernd blockiert gewesen.

Traktoren, Raupenschlepper und ähnliche Zugmaschinen hatten sich zwischen den Kriegen zunächst nicht bewährt, weil sie entweder die Waggons nicht von der Stelle bekamen oder aber sich tief in das Pflaster einwühlten. Auch der Plan einer elektrischen Spillanlage musste verworfen werden, da diese Zugvorrichtung bei der Enge der Hopfengasse und den vielen Straßenkreuzungen erst recht verkehrshindernd gewirkt hätte.

Es blieb also dabei: Kamerad Pferd zog weiterhin wie ehedem die vollen Wagen vom Leegetor-Bahnhof durch die Hopfengasse bis zu dem Speicher, an dem sie entladen werden sollten. Wer aber damals zugesehen hat, wie sich die braven Tiere in die Sielen legten, ganz sachte, wie sich dann die Glieder strafften, und wie dann nach wenigen Augenblicken die lange Reihe der Waggons langsam, aber stetig zu rollen begann, bekam Achtung vor dieser Leistung von "Kamerad Pferd". Vor einer Leistung, die auf der Speicherinsel trotz aller Errungenschaften der neuzeitlichen Technik und trotz aller Versuche Jahrzehnte hindurch allein den Warenumschlag überhaupt ermöglicht hatte.

Freilich: Auch diese Ehrenrettung des Pferdes hielt die Entwicklung schließlich doch nicht auf. Während des zweiten Weltkrieges wurde es immer schwieriger, die "Hafermotoren" auf altgewohnter Leistungsstärke zu halten. Es gab einfach für Zivilstellen die benötigten Futtermengen nicht mehr. Zugleich aber gestattete die Vervollkommnung der Raupenfahrzeuge deren Einsatz ohne die früheren unliebsamen Begleiterscheinungen.

So traten ab 1943 Raupenschlepper an die Stelle der Pferde, die bei der Wehrmacht Verwendung und Futter fanden. Vorbei war es mit der Romantik. Danzig hatte eine Sehenswürdigkeit weniger — zum Leidwesen auch mancher Kaufleute, obgleich der Pferdebetrieb den Verkehrsablauf zweifellos stark behindert hatte.

In der Tat zeigte sich 1943, dass mit der neuen Methode wesentlich schneller und präziser rangiert werden konnte, als es mit den Pferden möglich gewesen war. Das bereits als völlig veraltet bezeichnete System der Speicherbahn erhielt plötzlich neues Leben und hätte nunmehr wieder viele Jahre in alter Weise dem Hafenumschlag dienen können. 1945 war dann alles vorbei...

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Die Veröffentlichung dieses Artikels erfolgte mit freundlicher Genehmigung des "Bundes der Danziger" in Lübeck.

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Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang