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Wolfgang
01.09.2010, 00:22
Schönen guten Abend,

ich bringe hier nun eine Geschichte (vielleicht ist es auch nur eine "Geschichte" die der Phantasie des Autors entspringt) in der auch ein Gastwirt Naujoks genannt wird. Fast alle Danziger Naujo(c)ks gehören zu einer Familie und so kann es durchaus sein (wenn die Geschichte wahr sein sollte) dass auch der "Gastwirt Naujoks" zu meiner weitläufigen Verwandtschaft zählt.


Aus "Unser Danzig", 20.02.1967, Nr.4, Seite 10

Der Friedensstifter
von Walter Sperling

Die Geschichte, von der hier die Rede sein wird, ereignete sich in jener nebelhaft fernen Zeit der Jahrhundertwende, da es in Bürgerkreisen zum guten politischen Ton gehörte, Oldenburg-Januschau zu wählen und den Fackelzug zu S. M. [Seiner Majestät] Geburtstag als höchstes festliches Ereignis des Jahres zu betrachten, ungeachtet der Tatsache, dass sich zu gegebenen Anlässen verdächtig viele rote Schlipse und Nelken im Straßenbild zeigten. Man sparte dann nicht mit entsprechenden Bemerkungen und übertraf sich gegenseitig in gewagtesten Schwarzmalereien, die den nahenden Weltuntergang ankündigten. Was Wunder, dass sich in meiner kindlichen Phantasie die Rotbeschlipsten als Gestalten der Unterwelt darstellten, denen ich alle Schandtaten zutraute, die es damals für mich geben konnte.

Diese Anschauung wurde jäh durch ein Ereignis erschüttert, in dessen Mittelpunkt die als "rot bis auf die Knochen" verschrieenen Brüder Kulling und mein seliger Herr Vater standen, der als bestallter Hüter der öffentlichen Ordnung seine blitzblaue Polizeiuniform Respekt gebietend durch sein Arbeiterrevier spazieren trug und gewissermaßen stets mit seinem unförmigen Säbel — den er gelegentlich Plempe nannte — zu Bett ging, immer bereit, ihn wild zu schwingen, wenn sich einmal die Schichauer mausig machen sollten.

Nun geschah es eines Abends, dass unsere Flurglocke aufgeregt zu bellen begann, so ungestüm, dass meiner Mutter das Strickzeug entfiel und Vaters Schnurrbartenden sich amtlich aufrecht stellten. Aus dem Dunkel der Treppenstiege erhielt die Störung sogleich ihre Erklärung, indem eine sich überschlagende Frauenstimme im schönsten Platt den "Herrn Sergeanten" verlangte, weil beim Gastwirt Naujoks "die Hunde Blut leckten", wie sie sich plastisch ausdrückte.

"Die Kullings wollen dem Paschke stecken!" schrie es von unten herauf; ein Alarmruf, der meinem Vater sogleich jenen Ruck gab, den wohl gleichermaßen nur ein Feuermelder im Depot auszulösen imstande ist.

Ich erinnere mich noch deutlich, wie er sein Schwert umschnallte, die Pickelhaube auf den Kopf stülpte und den Umhang schwenkte, wie er flüchtig von meiner aufgeregten Mutter Abschied nahm vor diesem Gang auf Leben und Tod, und es beeindruckte mich sehr, als meine Mutter sich in wilden Anklagen über die roten Messerstecher erging und sie als Ausgeburten der Hölle bezeichnete. Früher — sagte sie — wäre das alles anders gewesen; man hätte nicht im Traum an solche Dinge gedacht. Dann seufzte sie tief...

Indes sie ihrer Unruhe Herr zu werden versuchte und einige Maschen weiterstrickte, lauschte ich hinaus und lief wohl auch ans Fenster, in der lächerlichen Erwartung, einiges von dem Schlachtenlärm zu hören, der sich einige Straßen weiter entwickeln musste. Aber es war weder etwas zu hören noch zu sehen. Nur die Turmuhr und unser Regulator schlugen ab und zu die Zeit an; jedes mal ein wenig mehr Besorgnis auslösend mit ihrer Mahnung, dass etwas reichlich Zeit verstrichen war seit Vaters Fortgang. Nachdem Mutter wiederholt zum Ausdruck gebracht hatte, dass "er doch schon längst zurück sein müsste" und andere Selbstgespräche nebst unschlüssigem Umherwandern in der Stube meine Sinne völlig verwirrt hatten, stand es für mich fest, dass der Weggegangene längst nicht mehr am Leben war und von unzähligen roten Messerstichen zerhackt, tot hinter Naujoks Theke lag.

Stunde um Stunde verrann in peinvoller Ungewissheit, eine Wartezeit, in der die Phantasie ihre Nahrung aus blutrünstigen Vorstellungen bezog, eine quälende Spanne, die immer mehr darauf drängte, irgend etwas zu tun, was eben nur hell lodernde Angst eingeben konnte: Mutter zog die Schuhe an und griff mit zitternden Händen nach ihrem Umschlagtuch; sie wollte den Verschollenen suchen gehen!

Da, plötzlich schrie die Flurglocke auf. Aber es war nichts Befreiendes in diesem Lärm, vielmehr legte sich Blässe auf Mutters Gesicht, eingedenk des Umstandes, dass Vater einen Hausschlüssel am Bund besaß. Es war ein grausiger Anblick für mich, als Mutter mit der Küchenlampe die Stiege herab leuchtete und von unten eine dumpfe Männerstimme lallte:
"Frau Sergeant — wir bringen dem Herr Sergeant!"
"Was?" schrie meine Mutter auf, in deren Hand die Lampe plötzlich so schief hing, dass der Zylinder schwarz anlief und platzte. "Ist — ist er tot?..."
"Nei — dot is he nich", antwortete die Männerstimme, "blos besoape!"

Und dann brachten sie ihn herauf mit Ach und Krach, den Hüter seines Reviers, einer am Kopf, einer an den Füßen, und legten ihn auf das angstvoll ächzende Bett; ein Dritter torkelte hinterdrein mit dem Helm und dem krummen Säbel. Sie warfen noch einen Blick auf den Daliegenden, dessen Schnurrbartenden abgekämpft neben den Mundwinkeln hingen und stiegen dann wieder hinunter, selbst nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, nicht aber, ohne vorher noch artig ihre flachen, blauen Mützendeckel gelüftet zu haben, wobei ich ganz deutlich ihre Tätowierungen an den Handgelenken zu sehen bekam.

Was sich in der Naujokschen Kneipe — wo die Hunde angeblich Blut leckten! — in Wirklichkeit abgespielt hat, ist nie ans Tageslicht gekommen. Ich verwahre in meiner Erinnerung nur die Tatsache, dass es die berüchtigten Brüder Kulling höchstpersönlich waren, die meinen Herrn Vater nach Hause geschleppt hatten, gefolgt von dem bewussten Paschke, dem Vater das Leben retten sollte, und der quietschlebendig, wenn auch schwankend sich des Ordnungshüters Helm und Säbel angenommen hatte — ein Trifolium der Einigkeit jedenfalls.

Selbst meine sonst so konservative Frau Mutter musste angesichts der Ereignisse kleinlaut zugeben, dass es auch anständige Schichauer gäbe..., ein Eingeständnis, das nachhaltigsten Eindruck auf mich machte.

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Die Veröffentlichung dieses Artikels erfolgte mit freundlicher Genehmigung des "Bundes der Danziger" in Lübeck.

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Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang