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Wolfgang
24.11.2010, 17:42
Aus Johanna Schopenhauers Aufzeichnungen "Jugendleben und Wanderlieder":

Von der Speicherinsel

Der bewohnteste und schönste Teil meiner Heimatstadt wird von dem Ufer die Speicherinsel rings umfließenden Mottlau begrenzt, eine breite fahrbare Zugbrücke führt zu den Speichern, dieser großen Schatzkammer der Danziger Bürger, hinüber. Damals, und wahrscheinlich auch noch jetzt, wurde dieselbe bei einbrechender Nacht an beiden Enden durch feste Tore abgeschlossen, welche aber von den Wächtern willig geöffnet wurden, um Fuhrwerke oder Fußgänger durchzulassen, denn nur über die Speicherinsel konnte man zu dem gewerbereichen und weitläufigen Bezirk von Langgarten gelangen, der, sowohl seiner von der eigentlichen Stadt abweichenden Einrichtung und Bauart als seiner Entlegenheit wegen, beinahe wie eine Vorstadt betrachtet wird, obgleich er noch innerhalb der Wälle liegt.

Der Raum, den sie einnahmen, ihre Größe und ihre auf mehrere Hundert sich belaufende Anzahl konnten diese Speicher beinahe einer kleinen Stadt gleichstellen; die massiv solide, wenngleich nicht in die Augen fallende Bauart, in der sie von unsern Vorfahren wie für eine Ewigkeit begründet dastanden, war ein redendes Denkmal der vormaligen glücklicheren Zeiten und des bei ihrer Einrichtung sehr hoch gestiegenen allgemeinen Wohlstandes. Um aller Feuersgefahr zuvorzukommen, war jede Feuerstelle im Bezirk der Insel gesetzlich verboten, keiner der Eigentümer durfte über Nacht in seinem Speicher verweilen, nach Sonnenuntergang wurden sie alle verschlossen und lagen bis zum anbrechenden Morgen verödet in ungestörter Einsamkeit da. Sogar bei einer Belagerung waren sie durch ihre glückliche Lage vor Gefahr geschützt. Von der wasserreichen, hinter Langgarten beginnenden Niederung aus konnte durch künstliche, sehr weit sich verbreitende Überschwemmungen jede Annäherung der Belagerer verhindert werden; und auf der entgegen gesetzten, zugänglichen Seite der Stadt hielten die weit ausgedehnten Festungswerke das Geschütz derselben ebenfalls in zu großer Entfernung, als dass Bomben, Granaten, und wie die Tod, Flammen, Verheerung in die Häuser wehrloser Bürger schleudernden Werkzeuge des Krieges alle sonst noch heißen mögen, die Speicherinsel oder Langgarten hätten erreichen können.

Als Danzig vor jetzt ungefähr hundert Jahren wegen seiner treuen Anhänglichkeit an den unglücklichen, hart verfolgten König Stanislaus Leczinski belagert wurde, eilten alle, die es nur irgend möglich machen konnten, in Langgarten Sicherheit zu suchen. Auch die Eltern meines Vaters flohen mit ihrem damals etwa sechsjährigen Knaben dorthin, der nicht vergaß, auch sein liebes kleines Kanarienvögelchen mitzunehmen, dem, wunderbar genug, der Splitter einer Bombe ein Beinchen zerbrochen hatte, ohne den kleinen Sänger zu töten. Mein Vater erzählte oft und gern, wie sie, nebst vielen anderen, ganz enge und klein in der Kirche sich hatten einrichten müssen, weil alle Häuser von Flüchtlingen überfüllt waren, wie unter der Pflege meiner Großmutter sein kleiner befiederter Liebling geheilt wurde, so dass noch, ehe sie ihren Zufluchtsort verließen, sein Jubellied im Gewölbe der Kirche widerhallte, und wie nach aufgehobener Belagerung jedermann wohlbehalten in seine Wohnung zurückgekehrt sei. Alles wiederholt sich nur im Leben! Achtzig Jahre später wurden die Enkel durch die französische Belagerung im Jahre 1807 getrieben, das ehemalige Asyl ihrer Ahnherren wieder aufzusuchen, und befanden sich nicht minder wohl dabei; ihr liebstes, wertvollstes Eigentum wurde in den Speichern untergebracht.

Die Erde dröhnte, die Häuser erbebten von dem furchtbaren Donner des Geschützes; wenn die Geflüchteten spät abends in der breiten Straße von Langgarten auf- und abgingen, sahen sie die Tod und Verderben verbreitenden Kugeln gleich feurigen Meteoren am schwarzen Nachthimmel hin- und herkreuzen. Sie hörten ihren schmetternden Fall, vielleicht auf ihrer Freunde, vielleicht auf ihr eigenes Dach, doch bis zu ihnen konnte der Gräuel der Verwüstungen nicht dringen.

Und abermals, wenige Jahre später, nach unendlichem, von den übermütigen Eroberern erduldetem Drangsal, mussten alle diese Schrecken sich erneuern! Doch ein tröstender Hoffnungsstrahl ging von den zu Deutschlands Rettung verbundenen Mächten aus und leuchtete durch die schwarze Gewitternacht, welche drohender als je über meine Vaterstadt sich zusammenzog. Ermutigt durch die Aussicht auf endliche Befreiung von ihren Vampyren bereiteten die Einwohner mehrere Monate lang auf das kommende Elend sich vor, dem zu entgehen keine Möglichkeit sich zeigte. Jedes freie Plätzchen in den Speichern wurde wieder mit ihren besten Schätzen angefüllt, die alten Quartiere in Langgarten aufgesucht, besprochen und in wohnlichen Stand gesetzt. Reiche Familien ließen mit bedeutenden Kosten feste Bombenhäuser halb unter der Erde sich erbauen, in die sie zur Zeit der höchsten Gefahr sich zurückzuziehen gedachten, andere richteten zum nämlichen Zweck die geräumigen gewölbten Keller unter ihren Häusern wohnlich ein.

Monatelang sah man dem drohenden Unheil in banger Erwartung entgegen, es brach herein, aber entsetzlicher, weit entsetzlicher noch als man nach vorhergegangener Erfahrung es sich gedacht hatte, so schrecklich diese auch gewesen war. An den Jammer, den meine unglückliche Vaterstadt, meine alte Mutter, meine Schwestern, meine geliebtesten Verwandten und Freunde viele Monate lang erdulden mussten, den entsetzlichen Mangel an allem, die fürchterliche Hungersnot, in welcher nur sehr bemittelte Familien zuweilen ein Stück Pferdefleisch mit Gold aufwiegen konnten und ein gebratener Mops für einen unbezahlbaren Leckerbissen galt, auf den man nur seine auserwähltesten Freunde wie zu einem festlichen Mahle einlud, alles dieses zu beschreiben, liegt ebensosehr außerhalb des Bereiches meiner Feder, als außerhalb des Zwecks dieser Blätter. Ich selbst litt damals nur aus weiter Ferne mit den Meinigen, Tag und Nacht von den Schreckbildern meiner Phantasie verfolgt, und diese Darstellung dessen, was alle wirklich erduldeten, gibt nur getreulich wieder, was ich einige Jahre später bei meiner letzten Anwesenheit in Danzig aus dem Munde sehr ehrenwerter Freunde vernahm, an deren Glaubwürdigkeit kein Zweifel obwalten kann. Memoiren sollen sich aber nur mit wörtlich Selbsterlebtem beschäftigen. Möge ich Verzeihung finden, dass ich, hingerissen von dem mich so nahe berührenden Gegenstande, mir dieses hors d'oeuvre erlaube.

In gewohnter Sicherheit der fernbleibenden Gefahr trotzend standen die Speicher, während ringsumher der Donner der Belagerung verheerend brüllte, von ihm unerreicht. Doch was wäre dem übermächtigen Erfindungsgeist dieses Jahrhunderts unmöglich? Congreves Raketen erreichten endlich das lange vergeblich erstrebte Ziel, und die Speicher loderten in Flammen auf. Das Gebrause der gleich einem Glutenmeer wogenden, Feuersbrunst war nur dem der vom Sturm gepeitschten Brandung, der in ihren tiefsten Tiefen empörten See zu vergleichen. Der Speicherinsel gegenüber, durch die ganze Breite des Stromes von ihr getrennt, war es auf der langen Brücke vor dem gewaltigen Getöse unmöglich, dem Zunächststehenden sich verständlich zu machen; die Fenster der Häuser, welche auf der Landseite die lange Brücke begrenzen, ungeachtet der weiten Entfernung, zersprangen von der glühenden Hitze. Stadt und Umgegend waren um Mitternacht hell erleuchtet wie im mittäglichen Sonnenschein; man versichert, dass man in der sechs bis acht Meilen von Danzig entfernten Stadt Elbing beim Feuerschein unter freiem Himmel die Zeitung habe lesen können.

Dichter glühendroter Regen fiel prasselnd und zischend aus Dampfwolken in den Strom, es waren brennende Körner, Weizen, Roggen, Kaffeebohnen: glühend in allen Farben des Regenbogens streckte die von Öl, Spiritus, Branntwein genährte Flamme die feurigen Zungen himmelan und gewährte ein ebenso furchtbares als bewundernswürdiges Schauspiel. Flachs, Hanf, in Massen vereint, schienen der Hölle entronnen, in Flammen gekleidete Dämonen, die in allen Richtungen über der Stadt kreuzten, um schadenfroh des Elends noch mehr zu verbreiten. Durch die unnatürliche Helle in Busch und Wald aus ihrer Ruhe aufgeschreckt, kamen zum allgemeinen Grausen zahllose Vögel aller Art in dichten wolkenähnlichen Schwärmen am Himmel gezogen, flogen unter ängstlichem Geschrei über den Flammen hin und her, bis sie von diesen ergriffen in den großen, alles verzehrenden Scheiterhaufen, der unter ihnen glühte, herabstürzten.

Von allen in den Speichern aufgehäuften Schätzen wurde nichts gerettet, alles versank in Asche, denn so wolle es der Gouverneur, General Rapp; er ließ die Eingänge zu der Insel von seinen Truppen besetzen, die den Danziger Bürgern den Zugang zu ihrem Eigentum verwehren mussten.

Doch zurück von diesen spätem Gräueln, zurück zu den harmlosen, ahnungsfreien Tagen meiner Jugend, wo die Erzählung alter Leute von der vor ungefähr fünfzig Jahren in ihrer Kindheit überstandenen Belagerung wie nie sich wiederholen könnende Sagen der Vorzeit uns klangen, wo die Speicher noch in unbedrohter Sicherheit standen und ich ganz wohlgemut an Jamesons Arm, oder auch nur von Adam begleitet, an ihnen vorüber nach Langgarten wandelte, denn dort liegt nebst einigen andern ähnlichen Gebäuden, das ehemalige russische Palais, jetzt das Gouvernementshaus.

Am Tage war mir dieses ein angenehmer Spaziergang, nach Einbruch der Nacht aber hätte ich um keinen Preis mich bewegen lassen, ihn zu Fuß zurückzulegen, denn eine Schaar grässlicher Ungeheuer, denen sogar manches arme Menschenleben zur blutigen Beute geworden war, bezog dann unter den Speichern die Wache. Seit undenklicher, uralter Zeit wurde auf Kosten der Stadt eine Anzahl sehr grimmiger Hunde von einer besonders wilden, blutdürstigen Rasse in festen Zwingern gehalten, von dazu angestellten Wächtern mit rohem Fleisch gefüttert, um sie noch unzähmbarer zu machen, und mit eintretender Nacht auf der Speicherinsel losgelassen, die dann verschlossen wurde.

Wehe dem Verwegenen, der unbegleitet von einem ihrer Wächter und dessen stets knallender Peitsche das ihnen eingeräumte Territorium betrat!

Manch armer Schimky ist unter dem blutigen Rachen und den Klauen der wütenden Tiere gefallen, wenn er überwältigt vom Geiste des Schnapses in irgend einem dunklen Winkel zwischen den Speichern einschlief und ungesehen von den die Hunde loslassenden Wächtern dort zurückblieb. Sein Angstgebrüll und das wilde Toben der vor Blutdurst rasenden Bestien schallte zu den Wächtern hinüber, dann aber war es zur Rettung zu spät. Selbst die Wächter durften es nicht mehr wagen, ihre wahrscheinlich schon tödlich verletzte Beute ihnen entreißen zu wollen.

Wie oft sah ich aus meinem sichern Kutschenfenster die grässlichen Hunde mit wie Kohlen brennenden Augen uns umtoben! Nur wenn Adam, ehe wir zwischen den Speichern einfuhren, sich hatte bewegen lassen, zu mir in den Wagen zu steigen, war ich der Angst entledigt, dass die Hunde ihn von dem Bedientenbrett herunterreißen könnten.

Herr Umbach, ein zu meiner Zeit allbekannter, im Aufspielen zum Tanz unermüdlicher Violoncellist, fand einst in Langgarten bei Übung seines Berufs zugleich im Weinglase den kecken Mut, spät nach Mitternacht es allein mit den Speicherungeheuern aufnehmen zu wollen. Da er fest darauf bestand, jede Begleitung von sich abzuweisen, so ließen die Wächter ihm den Willen, in der Meinung, er wolle das sehr geringe Trinkgeld sparen, das sie für ihre Bemühung gewöhnlich erhielten.

Umbach trat kühnlich durch das Tor, doch kaum hatte er auf der gefährlichen Bahn einige Schritte zurückgelegt, als die fürchterlichen Hunde in hellem Haufen auf ihn losstürzten. Was konnte er tun? Er retirierte, retirierte, retirierte langsam, immer rückwärts, um den Feind im Gesicht zu behalten, stieß mit dem Rücken an die Mauer, kam darüber ins Stolpern und endlich auf einen großen Stein am Eingange eines Speichers zu sitzen. Den Rücken behielt er dadurch frei, das Instrument senkte sich wie aus Instinkt ihm zwischen die Füße; da saß er in gewohnter musikalischer Stellung und strich in der Angst, ohne sich dessen bewusst zu sein, mit dem Bogen einmal über die Saiten; die Hunde stutzten und spitzten die Ohren, er wiederholte den Versuch: kein Hund regte sich.

Umbach spielte nun mutig darauf los, anfangs freilich nur etwas diskordante eigne Phantasien, dann aber Polonaisen, Masureks, Menuetts, rasch hintereinander fort, wie es ihm eben in die Finger kam; der Erfolg übertraf alle Erwartung. Das vierbeinige Auditorium entschlug sich jedes feindseligen Gedankens, setzte in ihn umschließenden Kreisen sich dicht um ihn her und akkompagnierte ihn einstimmig mit lautem Geheul. Doch nur so lange er spielte, hielten diese friedlichen Gesinnungen vor. Erlaubte der neue Orpheus sich nur die kürzeste Pause, gleich regten sich die Zuhörer und zeigten ihm knurrend die Zähne, zum feindlichsten Angriff bereit. Er musste spielen, rastlos spielen, bis er den Augenblick nahen sah, wo der Bogen seiner entkräfteten Hand entsinken würde, und traf schon Anstalt, seine arme Seele Gott zu empfehlen. Da kamen die Wächter, die dem wunderlichen Konzert lange zugehört haben mochten und jetzt einsahen, dass es die höchste Zeit sei, demselben ein Ende zu machen.

Als Danzig unter preußische Oberherrschaft kam, sollten nebst mancher andern veralteten, in die jetzigen Zeitumstände nicht mehr passenden Einrichtung auch die Speicherhunde verabschiedet werden. Sie fanden eifrig am Alten hangende Verteidiger, aber sie verloren den Prozess, wie es denn auch recht und billig war.

Kein schlaftrunkener Schimky wird mehr von den wilden Bestien lebendigen Leibes zerrissen, jeder Musikus kann bei Nacht wie bei Tage in nüchterner oder exaltierter Stimmung seinen Weg durch die Insel nehmen, ohne zu einem solchen extemporierten Konzert gezwungen zu werden, und die Speicher sind vor nächtlichem Einbruch ebenso gesichert, als ehemals.