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Wolfgang
07.12.2010, 23:17
Vor fast 100 Jahren, 1913, erschien das Buch "Im Lande der Weißmäntel", in dem die Bevölkerung des Werders charakterisiert wurde. So wurde es häufig überliefert, und so ist es auch heute noch Manchem in Erinnerung.


Die Bevölkerung des Werders
(von Fritz Braun)

In den weiten Niederungen des Weichsel-Nogat-Deltas wohnt ein eigenartiges, kerniges Bauerngeschlecht, dessen Ahnen zum größten Teil aus den holländischen und niederdeutschen Marschen eingewandert sind. Da der Boden der unabsehbaren Ebenen, der von den Ahnen unserer Werderbauern durch ungeheure Dammbauten den Strömen abgerungen ist, fast überall eine so unerschöpfliche Fruchtbarkeit bewährt, daß die Hufe Landes heute mindestens 35.000 bis 40.000 Mk kostet, macht auch schon ein kleiner Bauernhof seinen Besitzer zum begüterten Manne. In vielen Werderdörfern ist aber kaum ein Hof zu finden, der kleiner als drei bis vier Hufen wäre, und so darf sich dort ein jeder, der überhaupt Halm und Ar besitzt, schon zu dem wohlhabenden, ländlichen Mittelstand zählen.

Wie die meisten Marschbewohner zeichnet auch den Werderaner in seinem ganzen Auftreten eine gewisse Wucht und Schwerfälligkeit aus. Langsam, als kosteten sie Goldstücke, kommen die Worte aus seinem Munde, und weilt er unter Fremden, so spielt er nur allzu gern den stillen Beobachter. Lange magst du den Werderbauern hänseln, ehe er des Widersachers achtet; höchstens steigt ihm die Röte ins Antlitz, und an der Schläfe hebt sich die Zornader. Aber hüte dich, den Bogen zu überspannen; denn die lange gebändigte Leidenschaft ist nachher um so furchtbarer. Mit so manchem Sohn des Werders saß ich in Danzig in demselben Schulzimmer, und so mancher nannte mich auf unserer ostpreußischen Hochschule Freund und Bundesbruder. Da hatte ich Gelegenheit genug, ihre Eigenart kennenzulernen. Klaren Blickes gehen diese Bauemsöhne durchs Leben, willens, für ihr gutes Geld Schätze der Erfahrung und des Wissens einzutauschen. Sich über Welt und Menschen in oberflächlicher Rede zu verbreiten, ist ihnen nicht gegeben; aber oft erkennt man an einem kurzen, ganz beiläufigen Einwand, daß ihre Art, Menschen und Dinge zu beobachten, nicht ohne Erfolg geblieben ist. Wie fast überall in unserer ländlichen Bevölkerung, steckt auch in ihnen ein gut Teil von nüchternem Realismus, und willst du in dichterischem Schwung aufwärts streben, so lähmen sie nur allzu oft deinen Gedankenflug durch eine beißende Bemerkung voll hausbackener Bauernschlauheit. Mit windbeutliger Großtuerei läßt sich auch der schlichte Werderbauer nicht so leicht einschüchtern; dem auffälligen Gebaren eines geräuschvollen Gernegroß setzt er das Selbstbewußtsein des Landmannes entgegen, der sich in der Hantierung, die schon seines Großvaters Urahn trieb, als Meister fühlt. Und zu den Großbauern des Marienburger Werders, die Besitzungen von 12 bis 15 Hufen ihr eigen nennen, zählt so mancher, der sich erst das Reifezeugnis eines humanistischen Gymnasiums erwarb, ehe er sich in die Geheimnisse des Zuckerrübenbaues einweihen ließ.

Eine der trefflichsten Schilderungen dieser Niederungsbauern verdanken wir unserm ostpreußischen Landsmann Passarge, an dem die Werderaner einen warmen Lobredner gefunden haben. "Was den heutigen Holländer", so lesen wir in Passarges hübschem Buch: "Aus dem Weichseldelta", "das zeichnet auch die Bewohner unseres Weichseldeltas aus. Eines Stammes mit ihnen, aus den Marschen Frieslands, dem Niedersächsischen oder gar aus F1amland herkommend, kannten sie nicht nur die Natur des Bodens, den sie bebauen sollten, seine Ertragsfahigkeit, seine Dankbarkeit, sie brachten auch die dort gezogenen, vortrefflichen Tierarten, die geeignetsten Ackergeräte, die noch heute hier vorherrschen, mit sich. Vor allem aber besaßen sie die den batavisch niedersächsischen Bauern auszeichnende Sicherheit und Stetigkeit - die von so vielen für bloßes Phlegma gehalten wird - jene Unerschrockenheit, Energie und Tapferkeit, jene Zähigkeit, die die holländischen Dünen zum Stehen gebracht, Sümpfe entwässert und Meere trocken gelegt hat. 'Flämisch' nennt man einen etwas ungeschlachten Burschen noch heute in der Provinz Preußen, womit man aber zugleich die Anerkennung des Gewichtigen und Energischen verbindet."

Die meisten der Fremden, die diese Niederungen besuchen, sehen in dem sichern, fast eigensinnigen Beharren, dem Mangel an Rührigkeit, der zur Verzweiflung bringenden Ruhe, der festgewurzelten, einen entschiedenen Schwerpunkt behauptenden Haltung des Niederungers wohl gar den Ausdruck einer trägen Beschränktheit. Es kann keinen größeren Irrtum geben. Der Niederunger ist träge wie das Wasser mancher seiner fast unergründlichen Flüsse. Jener über Steine hüpfende Bach verursacht unzweifelhaft ein größeres Geräusch, aber im Hochsommer trocknet er vielleicht aus. Der Niederunger ist auch schlau; man sieht das bei jedem Handel; selten wird er der Hintergangene sein. Seine Behäbigkeit, die Sicherheit des Besitzes, die Leichtigkeit des Erwerbes durch den Boden nehmen ihm die Energie eines in die Weite strebenden Begehrens. Das Erworbene genügt ihm. Darum ist er aber noch nicht träge.

Die Familie hängt mit außerordentlicher Hingebung und Innigkeit aneinander. Darauf deutet schon der Ausdruck "Hausgesinde" hin, der die Familie mit Ausschluß der Dienstboten bezeichnet. Aber auch weiter wird die Verwandtschaft bis zu den entferntesten Graden festgehalten und Unter dem allgemeinen Begriff von "Nichtenschaft" zusammengefaßt. "Wi sönn Nichte tohoop", wir sind Nichten zusammen - ist eine häufig wiederkehrende Redensart, die diese entfernte, nicht mehr nach Graden zu bestimmende Verwandtschaft ebenso bei Frauen wie bei Männern bedeutet.


Leider müssen wir heute hinzufügen, daß die durch Eisenbahnbauten vergrößerte Freizügigkeit und die immer mehr Platz greifende Sitte, die Söhne und Töchter in die Stadt zur Schule zu schicken, die alte, kernige Eigenart der Niederungsbauern mehr und mehr verschwinden läßt.