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Wolfgang
08.12.2010, 12:42
Aus den Ostdeutschen Monatsheften, 1921, Heft 2

Gefiederte Freunde
Das Vogelschutzgebiet bei Östlich Neufähr
(von Professor Albert Ibarth, Langfuhr)

Jede Maßregel, die unserer, besonders durch die Ausbreitung der Kultur arg bedrängten Vogelwelt in ihrem harten Kampfe ums Dasein zugute kommt und geeignet ist, die ihr durch Forst- und Feldwirtschaft sowie durch andere Folgen menschlicher Tätigkeit entzogenen oder beschränkten Daseinsmöglichkeiten wenigstens etwas zu ersetzen und so unsere schon in erschreckender Weise entvölkerte Natur vor gänzlicher Verödung zu schützen, ist freudig und dankbar zu begrüßen. In dieser Hinsicht ist die Tätigkeit verschiedener Vereine, die sich die Gründung von Vogelschutzstätten an unseren Meeresküsten wie auch im Binnenlande angelegen sein ließen, vor allem rühmend hervorzuheben. Ihnen verdanken wir es, daß manche schon selten gewordene Vogelart, die eine Zierde unserer heimischen Ornis bildet, vor völliger Ausrottung geschützt wurde.

Ein solches Vogelschutzgebiet besitzt auch der Danziger Freistaat. Mitten in den Stürmen des Weltkriegs wurde es im Sommer 1915 von der Königlichen Regierung in Danzig ins Leben gerufen, nachdem in jahrelangen Verhandlungen die Besitzverhältnisse auf dem in Frage kommenden Gelände geklärt worden waren. Das Gebiet, das ungefähr 182 Hektar umfaßt, liegt unmittelbar östlich der Mole am Weichseldurchbruch bei Neufähr, wo in einer Februarnacht des Jahres 1840 der Strom sich mit eigener Gewalt durch die Düne einen neuen Weg ins Meer bahnte. Es besteht aus 28 Hektar Dünen, 48 Hektar Bruch- und Wiesenland und 106 Hektar Wasser. Der etwas über 100 Hektar große Messinasee, ein flaches, haffartiges Gewässer, wird durch einen Dünenzug, der sich östlich der Nehrung entlang fortsetzt, vom Meere getrennt. Südlich begrenzt den See, der ebenso wie das ganze Gebiet seinen Namen von einem hier vor ungefähr 50 Jahren gestrandeten Schiffe erhalten hat, ausgedehntes, teils trockenes, teils sumpfiges Wiesengelände mit eingestreuten Tümpeln, an das sich weiter landeinwärts der allerdings nicht in seiner ganzen Ausdehnung zum Schutzgebiet gehörige Karauschenteich anschließt, der wiederum durch einen schmalen, bei Hochwasser und nach starken Regengüssen oft überschwemmten Wiesenstreifen vom Neufährer Walde getrennt ist.

Die Lage des Geländes und seine Mannigfaltigkeit geben der Vogelwelt äußerst günstige Aufenthaltsbedingungen. Was seine Bedeutung anlangt, so kommt es als Niststätte erst in zweiter Linie in Betracht; denn von Brutvögeln sind bislang nur 25 bis 30 Arten festgestellt worden. Doch ist zu hoffen, daß, nachdem dem Schießertum, das früher hier wahre Orgien feierte, das Handwerk gelegt oder wenigstens erheblich erschwert ist und den Eierräubern auf die Finger gesehen wird, von den bis jetzt nur durchwandernden Arten die eine oder andere dort zur Brut schreiten wird. Anzeichen dafür liegen schon vor. Vorläufig liegt die Hauptbedeutung des Gebietes darin, daß es infolge seiner Lage an der baltischen Vogelzugstraße, die, von Nordosten kommend, die Kurische Nehrung entlang geht und sich in der Frischen Nehrung fortsetzt, ein beliebter Rastplatz für durchziehende östliche und nordöstliche Vögel ist. Deshalb ist das Vogelleben daselbst im Frühjahr und Herbst naturgemäß am regsten. Doch auch zu anderen Zeiten bildet es für den Naturfreund und Vogelkundigen des Fesselnden genug.

Bei einem Besuche zur Winferszeit haben wir zunächst den Eindruck, als sei alles tot und ausgestorben. Nur ein paar Krähen, die durch Schnabelhiebe dem gefrorenen Boden karge Nahrung zu entlocken sich bemühen, bringen etwas Leben in die schneebedeckte Öde. Das Bild verändert sich aber, wenn wir uns dem Messinasee nähern. Während der Karauschenteich vollständig in Eisesbanden liegt, ist hier ein Streifen offen geblieben, an dessen Rändern zahlreiche Enten dicht gedrängt sitzen. Die Entfernung ist zu groß, um selbst mit Hilfe des Glases ihre Artzugehörigkeit feststellen zu können. Besser gelingt uns dies, wenn wir von der Mole aus einen Blick auf den eisfreien Durchbruchsarm der Weichsel werfen. Hier herrscht äußerst reges Leben: heimische und zugewanderte nordische Entenvögel, untermischt mit Taucher- und Sägerarten, tummeln sich in geringer Entfernung vor uns. Das Eis hat sie vom Messinasee vertrieben, wohin sie sofort zurückkehren, wenn er eisfrei geworden ist. Ihnen ist dieses flache Gewässer, auf dem sie bequem gründeln können, so lieb, daß nur äußerster Zwang sie von dort zu vertreiben vermag. - Wir setzen den Weg fort zu der Großen Düne, die, hell von der Sonne beschienen, zu uns herüberleuchtet. Dort scheuchen wir einen Flug Schneeammern auf, nordische Gäste, die schon im Oktober eintreffen und so lange verweilen, bis sie das letzte Korn aus den Ähren des Strandhafers herausgeholt haben. Die Küste zieht westwärts ein stattlicher Rauhfußbussard entlang, während hoch über uns verspätete Wanderer wärmeren Gestaden zustreben. Wir erkennen an dem scharf abgegrenzten dunklen Kopf und der lachsgelb überflogenen Unterseite, daß es sich um Gänsejäger handelt, die das Schutzgebiet regelmäßig besuchen.

Wenn der Frühling naht, fallen Singschwäne auf dem See ein und ziehen in Trupps von dreißig und mehr über seine weite Fläche dahin , um nach kurzer Rast die Reise nach ihren fernen Brutplätzen fortzusetzen. Die Enten haben reichen Zuzug erhalten durch Rückwanderer aus dem Süden. Wir bewundern die Pracht der männlichen Hochzeitskleider, die besonders bei Löffel-, Pfeif- und Tafelenten herrliche Farben aufweisen. Vor allem zieht die zierliche, schwarz und weiß gefärbte Reiherente, deren Kopf ein nach hinten herabhängender Federschopf schmückt, unsere Aufmerksamkeit auf sich. Noch bis vor kurzem als selten angesehen, ist sie in erfreulicher Zunahme begriffen. Das schwarze Wasserhuhn, das schon zurückkehrte aus der Winterherberge, als der See noch teilweise mit Eis bedeckt war, bevölkert ihn jetzt zu Hunderten. Auch der stattliche Haubentaucher hat sein Prachtkleid angelegt und trifft Vorbereitungen zur Brut, wobei wir Gelegenheit haben, seine Liebesspiele zu beobachten. Scharen von Strand-, Wasser-, Uferläufern, Limosen und verwandter Arten, die im seichten Grunde des Sees reichliche Nahrung finden, beleben seine flachen Ufer. Von nah und fern erklingen über den grasigen Flächen die wohllautenden Triller des Rotschenkels, unermüdlich führt der Wiesenpieper seine Gleitflüge aus: "die Luft ist voller Lerchenlaut". Auf bestimmten Stellen der Wiesen, die sie alljährlich wieder aufsuchen, berennen sich die drolligen Kampfläufer in harmlosen Turnieren, während der Kiebitz ängstlich schreiend auf uns niederstößt, um uns auf eine falsche Spur und von seinem Gelege fortzulocken. Möwenflüge ziehen über die Wasserflächen dahin; neben den häufigen Sturm- und Lachmöwen bemerken wir die seltenen Zwergmöwen, die im letzten Sommer zeitweilig in mehr als 100 Stücken festzustellen waren. Erst gegen Ende Mai erscheinen die empfindlicheren, zierlichen Fluß- und Zwergseeschwalben, die sich die sandigen Flächen des Dünenbezirks als Brutplatz erkoren haben. Ihr Reich teilen Fluß- und Sandregenpfeifer, die, alle Augenblicke plötzlich bremsend, hurtigen Laufes vor uns dahineilen, um schließlich ihr Heil in der Flucht zu suchen.

Aus dem Röhricht ertönen die stammelnde Weise des Rohrammers und die ihrer Umgebung so wunderbar angepaßten abgehackten Strophen verschiedener Rohrsänger. Fischreiher, unverkennbar an ihrem im Fluge S-förmig zurückgebogenen Halse, kommen dahergezogen, um im flachen Wasser zu fischen. Unbeweglich,verwitterten Pfählen nicht unähnlich, stehen sie in Abständen an dem dunklen Hintergrunde des Rohrwaldes. Diesem auch schwer bedrängten, stattlichen Vogel kann man zu Zeiten in mehr als 100 Exemplaren begegnen. Unheimlich ertönt aus der Ferne vom Karauschenteiche her das dumpfe Brüllen der Großen Rohrdommel aus dem Rohrdickicht, über dem schwankenden Fluges die stattliche Rohrweihe dahinsegelt. Wohl ist sie ein arger Räuber, doch möchten wir sie nicht missen, denn ohne sie würde dem Gesamtbilde ein charakteristischer Zug fehlen. Wie sie, soll auch der Wanderfalke, der eben von einem Pfahl, wo er Ausschau gehalten, in einen Entenschwarm hineinstößt und bald darauf mit seiner Beute zu seinem Hochsitze zurückkehrt, des hier geübten Schutzes teilhaftig werden. Auch ihnen war in der Natur wie jedem anderen Organismus ihre Rolle zugewiesen, und "schädlich" wurden sie erst, als der Mensch durch seine Eingriffe das Gleichgewicht störte.

Dunenjunge vom Kiebitz, Rotschenkel und Alpenstrandläufer, die wir im Grase versteckt antreffen, Kuhstelzen und Pieper mit Futter im Schnabel zeigen uns, daß der Höhepunkt des Jahres überschritten ist und das Brutgeschäft zu Ende geht. Da kommen im Laufe des Juli auch schon die ersten Rückwanderer aus dem Norden an, manchmal noch im prächtigen Sommerkleide, das die meisten aber schon mit dem einfachen grauen Reisegewande vertauscht haben. Der melodische Ruf des Großen Brachvogels erfüllt die Luft, und im September liegen morgens früh und in der Abenddämmerung durchziehende Gänsescharen auf den Wiesengründen, und aus dem manchmal schon reifbedeckten Grase steigt mit heiserem "ätsch" die Bekassine vor uns auf. Die Zahl der Enten geht jetzt in die Tausende.

In dem fahlgelb gewordenen Rohr, daß wie ein goldener Kranz die in der klaren Herbstluft tiefblau daliegenden Wasserflächen umgibt, treiben sich allerlei Meisen auf der Nahrungssuche umher, und wenn uns das Glück hold ist, bekommen wir nun auch, wo der Blick ungehinderter in das Dickicht hineindringen kann als im Sommer, die sonst so versteckt im Rohr lebende Bartmeise zu Gesicht. Das Messinagebiet dürfte augenblicklich die einzige Stelle in Deutschland sein, wo dieser seltene Vogel, dessen zart abgetöntes, herrliches Federkleid jeden Naturfreund entzücken muß, mit Sicherheit festgestellt worden ist. Ihr Vorkommen allein muß schon das Bestehen des Schutzgebietes rechtfertigen. In erster Linie ihretwegen ist auch dafür zu sorgen, daß die Rohrbestände am Karauschenteich und Messinasee vor jedem Eingriff bewahrt werden. Ist es doch die vornehmste Aufgabe des Naturschutzes, schwindenden Arten, zu denen leider auch die Bartmeise für uns gerechnet werden muß, eine letzte Zuflucht zu verschaffen.

Auf den Samenständen der Unkräuter finden sich einheimische Finkenvögel ein, zu denen sich manchmal schon Ende September der nordische Birkenzeisig gesellt, ein zierliches, graues Vögelchen mit leuchtend roter Kopfplatte und heller Unterseite, während das hohe Gras und das Gebüsch an der großen Düne durchziehenden Drosselscharen Schutz gewährt. Allmählich nähern wir uns der kalten Jahreszeit. Die letzten Kiebitze, die das Gebiet seit Ende Juni als Sammelplatz benutzten und manchmal in ungezählten Scharen anzutreffen waren, sind fortgezogen. Dafür kommen jetzt allabendlich Hunderte und Tausende von Staren und fallen rauschenden Fluges in das Rohr ein, wo sie sich noch lange zeternd um die Schlafplätze zanken. Die kleinen Strand- und Wasservögel, die uns besonders zahlreich nach den letzten schweren Regengüssen auf den dadurch unter Wasser gesetzten Wiesen am Karauschenteich durch ihre anmutigen Bewegungen und hell klingenden Lockrufe erfreuten, haben sich freundlicheren Himmelsstrichen zugewandt. Der Messinasee aber wimmelt noch bis zum Eintritt scharfen Frostes von zahlreichen Wasservögeln verschiedenster Art.

So bietet die Schutzstätte dem Beobachter im Kreislaufe des Jahres eine bunte Reihe stets wechselnder Bilder, und bei Geduld und Ausdauer hat er reichlich Gelegenheit, auch die intimeren Lebensäußerungen seiner gefiederten Freunde zu belauschen. Ist das Gebiet mithin für jeden Naturfreund eine Quelle reinsten Genusses, so bedeutet es für den Vogelkundigen eine reiche Fundgrube für wissenschaftliche Beobachtungen. Und zuletzt, aber nicht zum wenigsten, bietet es einer ganzen Reihe von Vogelarten, die in ihrem Bestande bedroht sind, Schutz vor gänzlicher Vernichtung.

Es war daher eine dankenswerte Tat, als die preußische Regierung, der Anregung einiger Danziger Naturfreunde folgend, sich dieses Gebietes annahm. Möchten auch unter den neuen politischen Verhältnissen, vor denen wir hier stehen, die maßgebenden Stellen ihm dieselbe Teilnahme zuwenden und es sicher durch alle Anfechtungen , denen es leider noch immer aus eigennützigen Gründen ausgesetzt ist, hindurchgeleiten. Sie werden des Dankes aller gewiß sein, denen an der Erhaltung der heimischen Natur gelegen ist.