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Freund
06.11.2011, 17:14
Heimat - nicht nur ein Wort.

Es war ein kalter Tag, dieser 21. Januar 1945 und in der Stadtmitte von Danzig hörten wir das dumpfe Grollen der schweren Geschütze. Wir hatten durch Zufall noch die Beförderungskarten für den Zug nach Berlin erhalten. Es war der letzte und was für einer, nicht auszudenken, was da alles passieren sollte, es war zudem noch Sonntag und eine gewisse Hektik lag über all dem Geheimnisvollen und den Gebaren. Am Samstag erst erfuhren wir, dass wir aus Danzig raus müssten. Somit liefen wir Kinder in unserem Haus, das doch fünf Stockwerke hatte, rauf und runter. Für uns sah es aus, als würden wir nur einen Ausflug machen.
Nun hockte ich zwischen zwei Waggons und das Ratetat der Räder ging mir nicht aus dem Kopf. Überall waren die Menschen dicht bei dicht und jeder hatte nur ein paar Habseligkeiten bei sich. Ich saß in der Nähe eines Puffers, ein Deckbett um mich geschlungen, denn es war bitter kalt. Bevor wir abfahren konnten, wurden zwei Kinder in dem Gedränge totgetreten. Diese schreckliche Nachricht ging wie ein Lauffeuer durch alle Gänge. Aber jeder dachte doch nur an sich und seine Familie.
Hier schon begann für uns das Grauenvolle. Ich war noch nicht mal 13 Jahre alt. Meine Mutter, mit meinen zwei Brüdern von 5 und 8 Jahren und meine Schwester mit 14 Jahren befanden sich in einem Abteil ganz in meiner Nähe. Eigentlich ging es ganz gut voran, denn man erwartete keine Schwierigkeiten. So fuhren wir gegen 09.00 Uhr ab und waren aber erst um 21.00 Uhr in Berlin. Unterwegs hatten wir Bombenalarm und mussten in einem Waldstück den Zug halten lassen. Die Baumkronen gaben uns den ersehnten Schutz. Damit wir uns nicht durch den Rauch aus dem Schornstein verraten, wurde ein Deckel übergestülpt und das Kesselfeuer möglichst heruntergefahren. Nachdem nun der Bomberpulk vorüber war, konnte die Fahrt aufgenommen werden.
Ein Zug, der vor uns aus dem Hauptbahnhof Danzig ausfuhr, hatte vorne und hinten je einen Begleitwagen mit Vierlingsflak. Wir waren alle sehr erbost, dass wir ungeschützt fahren mussten. Dieses war aber wohl unsere Rettung, denn der erwähnte Zug wurde auf der Strecke völlig zerstört, erst durch Tiefflieger und dann durch Bomber. Wir mussten auf einem Nebengeleise vorbeifahren und die teils ausgekohlten Wagen und die vielen Helfer gaben dem Ganzen ein düsteres Bild. Dieses war denn auch der Grund unserer Verspätung.
In Berlin angekommen, wurde uns eine Schlafstelle zugewiesen. Wir waren völlig ermattet. Am nächsten Tage wurden wir nach Woltersdorf umgesiedelt. Hier blieben wir bis zum April 1945. Es war eine schwere Zeit, denn nichts zu essen zu haben, bedeutet zu organisieren. Jeden Tag hatten wir Fliegerangriffe und trotz allem hatte unsere Mutter irgendwo etwas Essbares aufgetrieben. Es gab kein Salz, da eine Rarität, also wurde das Wenige eben ungewürzt gegessen. Ohne Essensmarken holte ich ab und zu flüssige Blut-Grützwurst in einer Milchkanne. Es gab nur einen viertel Liter. Woraus diese bestand, war uns wirklich egal. Wenn wir dann noch ein halbes Brot hatten, musste darauf geachtet werden, dass die Dicke der Scheiben immer gleich waren. Sie lagen nebeneinander auf dem Tisch und wir fixierten sie durch Augenmass. Der Hunger machte uns allen zu schaffen. In der Familie gab es nur Gleichheit und Gerechtigkeit, da passten wir alle auf. Somit wurde die Flüssigwurst über ein Stück Brot gegossen, natürlich der Rest so aufgefangen, dass es für alle reichte. Für Adolf Hitler war ich im Jungvolk, machte zwar alles mit, weil wir es nicht anders kannten, doch ich war nicht flink wie ein Windhund, auch nicht zäh wie Leder, erst recht nicht hart wie Kruppstahl. Für Führer, Volk und Vaterland? Ich war Kind.
Die täglichen Bombenangriffe nahmen an Heftigkeit zu. Teilweise war am Mittag der Himmel schwarz voller Langstreckenbomber, die ihre Last abwarfen. Durch den Feuersturm flogen sogar dicke Bücher durch die Luft. Der Sirenenton in seinem auf- und abschwellenden Heulen sitzt mir heute noch in den Knochen. Wenn ich diese Töne höre, läuft es mir kalt den Rücken herunter. Immer wieder träume ich von all diesen Ereignissen. Man hatte uns doch gesagt, dass wir bald nach Hause könnten, es ginge nur ungefähr drei Wochen.
Eines Tages, wir waren zu dritt in Berlin- Köpenick, gab es um die frühe Nachmittagszeit Fliegeralarm. Wir hasteten zu einem Hochbunker, der uns relativ guten Schutz gab. Doch während die Bomben fielen, gingen die kleinen Lucken auf und zu und man sah im Dämmerlicht die Schatten und Umrisse der Menschen, alle klammerten sich irgendwie aneinander, es gab keine armen und reichen, wir waren alle gleich und hatten alle Angst. Kinder riefen nach den Müttern und wer schwach und alt war, überlebte den Angriff vielleicht nicht. Sanitäter gab es, aber helfen konnte uns keiner. Als dann endlich die Entwarnung kam, und wir den Bunker verliessen, war kein Kinderwagen mehr zu sehen, auch kein Auto. Alles war von dem enormen Luftdruck weggeblasen worden. Die Häuser waren teils bis auf die Grundmauern zerstört und es brannte lichterloh. Man sah Räume, die zur Hälfte vorhanden waren, so, als hätte man einen Schnitt durch die mehrstöckigen Häuser gemacht. Wir liefen die Strassen entlang und rechts und links explodierten die Zeitzünder. Manchmal, wenn unsere Kleidung Feuer fing, wurden die Funken von zwei hinter uns laufenden Franzosen mit einem Schal oder Tuch ausgeschlagen. Das waren vermutlich ehemalige Zwangsarbeiter, die auch nur den Drang hatten, heil nach Hause zu kommen. Als wir dann aus der Gefahrenzone waren, konnten wir uns nicht mal bedanken, die zwei Gestalten entfernten sich lautlos, jedoch die Dunkelheit nahm sie auf. Wir hoffen, dass sie es geschafft haben, wieder in ihre Heimat zu kommen. Schicksale begegneten sich und wurden nicht älter als Stunden oder sogar Minuten, alle wollten überleben.
Dann hörten wir erneut den Donnergroll der Kanonen, somit wurde in Eile der Rest Kartoffeln in eine Milchkanne getan, mit wenig Essig vermengt und wir nahmen unsere Habseligkeiten. Ab ging es immer Richtung Westen. Der Bahnhof war zerstört. Wir bekamen irgendwie die Order, den Schienen entlang zu laufen und ausserhalb der Stadt war tatsächlich eine Lokomotive unter Dampf mit verschiedenen, zusammengewürfelten Waggons die uns aufnahmen. Wir fuhren Richtung Westen; so schnell es ging. Dann wieder der unfreiwillige Halt in einem Waldstück, der Schornstein wurde nach bewährtem Muster abgedeckt. Hier fanden wir sogar Waldmeister, das sind Bodenblätter, welche die Soldaten irgendwie zum Rauchen brauchen konnten. Die Lok pfiff mehrmals und zwei Kettenhunde, das waren die berühmten Aufpasser beim Militär, riefen uns zu, in die Wagen zu steigen. Nun gab es keinen Wald mehr, wir mussten durch, mag kommen was da wolle. Ich sah ich aus dem Fenster und bemerkte, dass Fontainen von Erde hoch spritzten, der Zug bremste mit Ruck. Da erst konnten wir die Geschossgarben hören und bemerkten das Abdrehen der Flieger, die aber zurück kamen. Jeder hatte sogar eine Bombe unter der Tragfläche. Wir waren allem schutzlos ausgesetzt. Unsere Mutter bedeckte uns mit Gepäckstücken, eine verzweifelte Rettungsreaktion, und wer es schaffte, sprang aus dem Fenster, ich natürlich auch. Wir wurden weiterhin beschossen und die Granaten der Tiefflieger rissen sogar Schienen auf. Ich lag im Graben und auf mir lag ein Soldat. Seine Feldflasche schlug mir in den Rücken, es war ein heilloses Durcheinander. Neben mir kauerte ein Mann, der ein Kleinkind schützend unter sich hielt. Ihm ging ein Geschoss durch den Kopf. Da war absolut nichts mehr zu retten, das Kind jammerte nur leicht. Die erste Angriffswelle war so stark, dass wir uns im Graben von einer Seite auf die andere warfen, den Kopf in den Sand gesteckt. Ich sah sogar den Piloten einen Moment, er trug eine Kappe, dann war er weg. Wo meine Familie war, wusste ich nicht. Ich lief, bis ich unter einer kleinen Brücke war, aber dann hiess es, dass Bomber kämen, also raus aus dem Versteck, doch ich fiel fast in das eiskalte Wasser. Einer fing mich auf und zog mich hoch, teils hatte ich die Hosenbeine nass und gefroren, es waren einige Grad unter Null, so hasteten wir irgendwo hin, jeder Graben war Schutz, nur weg vom Zug. Da fiel mir ein, dass ich die wertvollen Taschenuhren von unserem Vater im Zug liegengelassen hatte, also unter Lebensgefahr hinein, der Griff nach dem Etui und schnell wieder raus. Man hatte mich gerügt, dass ich derartigen Unsinn machte, doch ich war mir dessen nicht bewusst. Lebensgefahr hin oder her, wo waren wir denn schon sicher? Aber die beiden Taschenuhren hatte ich bei mir, wohl verpackt in einer grünen Bakelitdose. Den ganzen Tag mussten wir unter Beschuss abwarten, denn die Lokomotive war fahruntüchtig. Dann kam Ersatz, nahm uns in Schlepptau und es hiess, alle rein wir fahren ab. Die Säuglinge hatten es schwer, man half sich aus mit Milch oder Ersatz. So traf ich meine Familie wieder im Wagen. Aber in Wittenberge war die Front, alles zerschossen und ein Durchkommen wäre unmöglich gewesen, wir wurden umgeleitet nach Schwerin. Doch dort war nur die Brücke frei, rechts lagen die Russen und links die Amerikaner. Unser Lokführer bekam einen Herzanfall. Da wir auch viele Soldaten hatten, aus welchem Grunde auch immer, wurde der Ruf nach einem Mann laut, der den Zug bewegen konnte. Es meldete sich einer, der im Zivilleben eben Lokomotivführer war. Somit fuhren wir weiter, doch die Brücke wurde beidseitig unter verstärkten Beschuss genommen, die deutschen Soldaten hielten den Korridor noch offen, der Zug fuhr ein Stück zurück und dann gab es eine enorme Beschleunigung, wir rasten förmlich über die Brücke und hatten wirklich Glück, da wir nicht getroffen wurden. Jubel? Nein, wir waren zwar dankbar, aber teils schon apathisch. Dann kamen wir nach 5 Tagen und Nächten in Lübeck an. Von dort mussten wir nach Neumünster. Es gab einen Verteilplan, nach dem die Vertriebenen und Flüchtlinge aus West- und Ostpreussen nach Schleswig-Holstein kamen. In Neumünster waren wir kaum aus dem Bahnhof, wurden wir schon wieder von einem Tiefflieger beschossen. Die Strasse war sehr breit, die Häuser zerbombt, es gab keine Drähte die störten.Wir suchten Schutz in einem Keller, der aber stand unter Wasser. Somit wieder raus und schnell auf den nächsten Lastwagen, der uns aus Neumünster rausfuhr. So kamen wir in Bokelholm an. Dort wurden wir anderen Bewohnern zugeteilt, manche Einheimischen meinten, dass wir Pollacken dorthin zurück sollten, wo wir herkämen. Der Futterneid trieb seltsame Blüten. Nun mussten wir aber bleiben und den Krieg abwarten. Uns wurde eine Baracke zugeteilt, die ehemals Hühnerstall war. Aber wir lebten und konnten selber anpacken, nur immer nach vorne schauen, war die Devise. Ich suchte auch Kohlen auf dem Geleise, als ich hinter mir etwas hörte und ganz unbewusst sah ich, dass ein Flieger auf mich zuflog. Er hatte 4 Bordkanonen und schoss aus allen Rohren. Ich warf mich hin und hatte wohl wieder Glück, denn die MGs waren fest in die Tragflächen montiert, so musste der Pilot durch seine Flugmanöver versuchen, das Ziel zu treffen.Ich war sein Ziel. Er kam wieder zurück, aber da war ich im Wald neben den Geleisen verschwunden und lag unbeweglich im Gebüsch.. Warum, fragte ich mich! Nun sind wir sogar als Einzelpersonen Freiwild. Die ganzen Gründe erfuhr ich erst später, als die Zeit reif war, darüber zu reden. In den letzten Kriegstagen kam noch ein Panzerzug auf das Abstellgeleise. Der war vollkommen ausgebrannt und durchlöchert wie ein Sieb. Dann lag bei uns ein Lazarettzug, der von einem Offizier in einem Fieseler Storch mittels Wackeln der Tragflächen begrüsst wurde, aber er touchierte die Baumkronen, stürzte ab und kam zu Tode. Es war ein schönes Flugzeug, das schnell ausgeplündert wurde, sogar die Bespannung aus Steifleinen wurde gebraucht, nämlich ausgekocht und zu einem Kleidungsstück umfunktioniert. In Nortorf hatte ich das Kriegsende erlebt, da ich auf Kartoffelmarken zwei Maisbrote ergattern konnte. Ich stand am Rathaus, als das Klicken der Panzerketten zu hören war. Ein unheimliches und aufwühlendes Gefühl war in mir, als der erste Panzer um die Häuserecke fuhr, immer auf der Hut, doch Gegenwehr gab es keine mehr, aber auch keine Begrüssung, ich war wie gelähmt und stand da wie angewurzelt, in kurzer Hose, mit einem Rucksack und den zwei Broten. Hinter dem Panzer kam ein Jeep, mit aufgepflanztem MG, und aus dem sprang ein Offizier, der einem deutschen Soldaten - der an Krücken ging, weil ihm ein Bein fehlte – befahl, dafür besorgt zu sein, dass er in das Rathaus könne. Der Deutsche machte, wie ihm befohlen und ging zum Hintereingang. Ich aber suchte das Weite und ging, so schnell ich konnte, um nach Hause zu kommen. Sagte ich nach Hause? Es war unser zweites Zuhause, notgedrungen, aber nicht die Heimat, denn die Heimat ist nicht nur ein Wort, sie wird mir fehlen, mein Leben lang. Nun hatten wir es auf dem Lande etwas besser, als in der Stadt, da wir doch selber die Felder nach Kartoffeln absuchen konnten, auch wenn sie schon zweimal abgeeggt waren. Im Sommer pflückten wir uns Himbeeren, denn alles war willkommen. Vom Felde zogen wir gelbe Rüben für Suppe. Wir machten Kartoffelmehl, kochten aus Zuckerrüben Sirup. Es wurde immer etwas Neues erfunden und unsere fünf Hühner waren der ganze Stolz. Trotzdem hatten wir als Mangelerscheinungen Furunkel auf Beinen und Körper. Im Moor mussten wir Torf stechen; zwar eine harte Knochenarbeit, aber als Lohn bekamen wir einen vollen Leiterwagen von dem herrlich brennbar schwarzem Torf. Natürlich hatte ich Stubben gerodet, das sind die Wurzeln der Bäume, die tief im Boden waren. Holz musste ich mit einer Axt für den Winter schlagen. Auch durften wir unseren Vater in Rendsburg treffen, da er als Kriminalbeamter erst zum Schluss aus Danzig mit einem Minensucher raus kam. Leider wurde er an Polen ausgeliefert, um angeblich Albert Forster, dem ehemaligen Gauleiter von Danzig, den Prozess zu machen. Dort verstarb unser Vater am 13. April 1950 im Gefängnis in Stuhm an Ruhr und ungenannter Krankheit, aber er ist elendig verhungert, das darf ich sagen, denn unsere Pakete, die wir schickten, wurden dort in Polen aufgemacht und es wurde nur ein kleiner Teil an unseren Vater weiter gegeben. Der Hass muss doch furchtbar gewesen sein. Er schrieb uns laufend und die Briefe sind die einzige Erinnerung an die furchtbaren Zustände. Das war für unsere Mutter eine schwere Zeit, doch sie entschied sich für uns als Familie. So zogen wir dann 1952 nach Dülken in das Rheinland. Dort bezogen wir eine Dreizimmerwohnung, ohne Bad. Die Stadt gab uns als Hilfe einige Bettgestelle und Tisch mit Stühlen. Dann hatte sich unsere Mutter entschlossen, selber zu bauen, da doch das Startkapital in Form des Lastenausgleiches ausgezahlt wurde, zwar spärlich, aber immerhin für den Anfang eine Hilfe. Es wurde eine Interessengesellschaft von 10 Eigentümern gebildet. Da wir Berufsleute unter diesen hatten, konnten wir mit dem Bauen der Reiheneinfamilienhäuser beginnen. Vieles in Eigenarbeit unter fachkundiger Hilfe. Es war eine Zeit des Aufschwunges. Da ich eine Lehre vordem in Schleswig Holstein absolviert hatte und in Viersen dann doch noch Arbeit fand, konnten wir vorwärts blicken und waren massgeblich an dem sogenannten Wirtschaftswunder beteiligt. Meinen Wunschberuf als Förster, durfte ich nicht erlernen, da von den Alliierten verboten.
Es wurde in meiner Fortbildung an der Ingenieurschule in Krefeld im Jahr 1954 ein Brief aus der Schweiz vorgelesen, in dem man nachfragte, ob sich jemand für den leitenden Posten in der Schweiz interessiere. Doch, mir war sehr daran gelegen, aber nur unter der Voraussetzung, dass ich erst im folgenden Jahr die Prüfung ablegen konnte. So reiste ich im Sommer 1956 in die Schweiz. Es war wieder ein ungewisser Weg, doch meine Heimat war von den Polen besetzt. Natürlich hatte ich ein Mädchen in Deutschland kennen gelernt, sie musste noch dort bleiben. Ich fand in St. Gallen eine Einzimmerwohnung, die ich so einrichtete, dass man zu zweit leben konnte. Am 29. Dezember 1956 heirateten wir in Deutschland. So kam meine Frau mit mir in die Schweiz. Sie bekam den Aufenthalt unter der Bedingung: Verbleib beim Ehegatten, jegliche Arbeit untersagt. Das waren zwar komische Regeln, denen wir uns aber beugten. Meine Frau ist eine Königsbergerin mit einem ähnlichen Schicksalsweg, wie ich ihn erlebte. Unsere drei Jungens wurden 1959, 1962 und 1966 geboren. Wir fanden hier die Ersatzheimat, in der wir nun unser Zuhause gefunden hatten, obwohl ich auch Angebote aus den USA hatte. Doch wer will sagen, wo es besser gewesen wäre? Es gibt im Leben kein Ausprobieren. Ich bin der Ansicht, doch alles so gemacht zu haben, wie es sich gehört.
Wir hatten uns Land und Leuten angepasst und wurden am 24. Oktober 1979 Schweizer Bürger, mit allen Rechten und Pflichten eines hier geborenen Schweizers oder Schweizerin. Die Hürden, die man einem Ausländer damals stellte, waren ziemlich hoch, da wir viele Auflagen für eine Einbürgerung zu erfüllen hatten, aber wir hatten sie genommen. Doch die Heimat, die verloren ist, wird in mir weiter bestehen. Heimat ist nicht nur ein Wort. Heimat ist mein Geburtsort, meine Familie, ist die, die ich liebe.
Heimat ist dort, wo ich lebe, geliebt werde, atme, singe, froh bin. Heimat ist Kindheit, Schulzeit, Freundschaft, Geborgensein. Heimat ist mein Recht auf Freiheit. Heimat ist mein Zuhause. Heimat ist heilig.
Man sagt, drei Dinge soll ein Mann in seinem Leben tun:
Einen Sohn zeugen - Ein Buch schreiben - Einen Baum pflanzen.
Diese habe ich gemacht. Ich möchte nicht undankbar sein, denn die zweite Heimat ist die Schweiz, aber unsere Heimat, die wir als Kinder erleben durften und bis ungefähr 1944 in einer herrlichen Gemeinschaft lebten, da wir doch eine sehr grosse Familie waren, kann man nie vergessen.
Die Heimat hat man uns zwar genommen, aber in uns wird sie weiter leben.

Beate
06.11.2011, 17:53
Lieber Geri Wolfgang,

danke für deinen aufwühlenden Bericht. Später mehr.

LG Beate

Beate
06.11.2011, 19:23
Hallo Freund,
wieder ich…Danke nochmals für deinen Bericht, danke, dass du uns an deinem Erlebten teilnehmen ließest. Hatte gerade die Erfahrung machen müssen, dass ich die Kriegsschilderungen immer noch nicht als „Dokumentation“ lesen kann, obwohl ich hier schon einige lesen durfte. Sorry.
Es erfüllt mich wieder tiefe Dankbarkeit, dass ich keinen Krieg miterleben musste und hoffentlich auch nie erleben werde, niemand mehr hier! Und schön, wenn auch niemand anderswo, aber das sind ja Wunschträume!
Heimat- bist du seitdem wieder in Danzig gewesen? Hast versucht, heraus zu finden, ob noch irgendetwas vom früheren zu Hause steht? Oder zieht es dich nun nicht mehr dahin, aus welchen Gründen auch immer? Keine Neugierde da, der man doch nachkommen müsste?
Ich kann über den Begriff „Heimat“ nicht philosophieren, ich kenn das Gefühl nicht, kann nichts mit dem Begriff anfangen, das können andere hier eher.

Schöne Grüße Beate

waldkind
06.11.2011, 19:41
Hallo Freund,

deinen Bericht habe ich gerne gelesen, weil er ehrlich, offen und gefühlvoll ist, nicht sentimental, eher sachlich. Mich hat dieses Gefühl berührt, wie es ist, zu glauben, dass man drei Wochen später wieder nach Hause darf. Mit der Zeit, ganz allmählich stellt man fest, dass das eine Lüge war. Mich hat auch berührt, dass dir so Vieles zu dem Wort Heimat einfällt. Was alles ist Heimat?! Ich spüre diesen Spagat zwischen Verlust und Dankbarkeit, zwischen Wehmut und Liebe. Es ist für mich ein Bericht aus der "vergessenen Generation", jener Kinder, denen man unvorstellbar Grausames zumutete und die man damit alleine ließ.
Danke für die "Mühe", die du dir gemacht hast, um das Erlebte für uns aufzuschreiben.

In stimme dir zu, wenn du schreibst: Jeder Mann sollte einen Baum pflanzen in seinem Leben. Besser noch wäre, er könnte sogar zwei pflanzen. In deinem Bericht spielt der Wald eine wichtige Rolle. Es ist gut, wenn es genug Wald gibt.

Gute Grüße vom waldkind

Geigersohn
07.11.2011, 01:12
Hallo lieber FREUND,
ich danke Dir für Deine Erinnerungen.
Schöne Grüße von Geigersohn