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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Wir sind es den stimmlos Gewordenen schuldig...



Wolfgang
04.12.2011, 18:32
Schoenen guten Abend,

gestern Abend, nach einem anstrengenden Tag in meinem in Kuerze bezugsfertig werdenden Haus, oeffnete ich das erste Mal einen Buecherkarton (von rund 100) und griff wahllos nach dem ersten Buch. In die Haende fiel mir der Erlebnis-, Leidens- und Erfahrungsbericht von Michael Wieck "Koenigsberg - Zeugnis vom Untergang einer Stadt".

Mit diesem Buch setzte ich mich in einen Ohrensessel am Fenster und begann zu lesen. Einleitend schrieb Siegfried Lenz ein Vorwort. Er sagt dort unter anderem: "... Wer das hinter sich gebracht hat, muss wohl dem alten Auftrag folgen; er muss hingehen und erzaehlen, was er gesehen, gehoert hat, er muss Zeugnis geben. Wir sind es denen, die stimmlos geworden sind, schuldig, dass gewisse Erfahrungen nicht vergessen werden."

Bei diesem Satz blieb ich haengen. Wir sind es den stimmlos Gewordenen schuldig...

Das was geschah, und zwar das was auf allen Seiten geschah, muss festgehalten, muss dokumentiert, muss oeffentlich gemacht werden. Nicht im stillen Kaemmerlein unter Ausschluss derjenigen die mehr wissen moechten, sondern oeffentlich fuer alle Jene, die dadurch erfahren koennen was ihren Eltern, Grosseltern, Urgrosseltern geschah.

Siegfried Lenz' Aussage "Wir sind es den stimmlos Gewordenen schuldig..." mag zwar bereits vor ueber 20 Jahren getroffen worden sein. An Aktualitaet hat es jedoch auch bis heute noch nichts eingebuesst.

Herzliche Gruesse aus dem nasskalten Danzig
Wolfgang

Hans-Joerg +, Ehrenmitglied
04.12.2011, 23:49
Hallo Wolfgang
Stimme dieser Aussage zu ... und etwas hilft dabei ja auch Dein / Unser Forum........
Viele Grüße
Hans-Jörg

Schlumpf
05.12.2011, 03:33
Herzlichen Dank, Wolfgang, für Deine wertvolle Arbeit im Forum! Ja, ich sehe das genauso - meine Familie hat immer gemeint, schweigen zu müssen... Aus Scham, Stolz, was weiss ich... Bin dankbar für alle, die das Schweigen brechen - u.a. meine Tante (Jahrgang 1933). Und dafür, auf Mamas (geb. 1931) Spuren in Danzig wandeln zu dürfen - erstmals diesen September. Und garantiert nicht das letzte Mal... Meine Familie mütterlicherseits ist erst im August 1945 raus aus Danzig, was alle sehr geprägt hat (und meine Kindheit ebenso). Und ich bin total stolz auf alle (Opa sechs Wochen Narvik-Lager inkl. Flecktyphus) sowie unendlich froh, dass die ganze Familie zusammen gen Westen kam... Was sie erlebten, ist für uns "Nachkömmlinge" unvorstellbar. Umso wichtiger, es nicht zu vergessen, was unsere Lieben erlitten und geleistet haben!
In diesem Sinne alles denkbar Gute und liebe Grüße von Antje:-)

Hans-Joerg +, Ehrenmitglied
05.12.2011, 09:13
Hallo
Dazu noch eine allgemeine Bemerkung…..
Echte Zeitzeugen ( auch innerhalb der Familie ) werden immer weniger ………
Deshalb kann ich nur jedem raten ….. FRAGT solange es noch möglich ist …..!!!!
Es sind oft ab und zu nur” Kleinigkeiten “ !
Viele Grüße
Hans-Jörg

Ulrich 31
05.12.2011, 11:02
Guten Morgen Wolfgang,
auch ich teile voll und ganz Deine Meinung zu diesem Thema. Ich selbst kann dazu aus eigener Erfahrung aber nur wenig beitragen; denn ich war erst 14, als ich Danzig 1945 noch vor Kriegsende verließ, und es gibt leider keine mir Nahestehenden mehr, die mehr zu dem wüssten als ich. Zum Glück aber gibt es dieses schöne Forum, durch das man viel erfahren und lernen kann. Herzlichen Dank dafür!
Ich wünsche Dir, dass Du bald zufrieden in Dein neues Haus einziehen kannst und in diesem Heim alles Glück.
Herzliche Grüße aus dem gleichfalls nasskalten Berlin
Kurt Paul (= Ulrich)

buddhaah
05.12.2011, 11:49
Wolfgang,

meine Generation wir leider momentan nicht fertig mit all der Arbeit, die man heutzutage leisten muss, um die Familie zu ernähren. Die Krise fordert ihren Tribut, weshalb ich letztens auch seltener im Forum schreibe.

Zum Thema Dokumentation der Erlebnisse, jener, die die Ereignisse damals durchlebt haben, möchte ich mich jedoch auch äussern: als deutsch-polnischer Danziger (* 1979) ist mir bewusst, wie sehr die derzeitige Identität der Stadt noch immer unter dem Bruch mit der ethnisch deutschen Vergangenheit leidet. Nur wenige Polen haben im Hinterkopf, dass vor 1945 in Danzig auch reges Leben herrschte. Für die meisten ist die "Stunde Null" eben zu erst Kriegsende und die Vorgeschichte Danzigs allenfalls übermittelte Interpretation einer fremden Nation, die einen Krieg zu verantworten hat und, als solche, eben auch nicht des Zuhörens wert sein kann. So zumindest, sahen es viele Polen aus der Generation meiner Grossmutter mütterlicherseits - was auch von den kommunistischen Machthabern nach Kräften unterstützt wurde.

Es hat sich in den letzten 15 Jahren sehr viel getan. Besonders meine Generation sieht den Bedarf einer Wiederherstellung kultureller und zivilisatorischer Kontinuität Danzigs, die die grossen, einschneidenden Erlebnisse des 20. Jahrhunderts eben nicht als Brüche sieht, sondern als Ereignisse in einer durchgängigen, europäischen Geschichte des Ortes Danzig. Es regen sich so viele junge Köpfe, die keine Kontaktangst mit der Vergangenheit haben - die dann eben auch durchaus zugeben, dass der Geist der Stadt über Jahrhunderte weder polnisch, noch gemischt, sondern eben deutschsprachig war. So what?

Diese Ereignisse, so sehe ich das, sollten die verschiedenen Sichtwinkel aller Beteiligten spiegeln - und nicht nur das Leiden einer Gruppe über jenes der anderen stellen.

Die Erfahrungen der "Erlebnisgeneration", aber auch ihrer Kinder und Kindeskinder (das ich ja auch bin), sind somit äusserst wichtig, um die Gräben zuzuschütten - und Danzigs Geschichte als Europastadt in historischer Kontinuität zu verstehen.
Wozu es nicht führen soll - und darf! - sind Diskussionen über Ausgleiche, Reparationen, Wiedergutmachungen und Restitution.

Abschliessend sei noch zu sagen, dass der polnische Teil meiner Familie unsägliches nach 1948 von Seiten der Kommunisten erfuhr. Mein Grossvater investierte 1945 sein gesamtes Hab & Gut in den Wiederaufbau des Hauses an der Ecke Langgasse-Beutlergasse. Nach getaner Bautätigkeit folgten Enteignung, Erniedrigung, 5 Jahre Arbeitslager, Arbeitsverbot und ein früher Tod.

Die Geschichte ist eben, gerade in Danzig, manigfaltig und facettenreich, sodass man um eine hochdifferenzierte Betrachtung gar nicht herumkommt - und dies setzt voraus, dass man eben allen (die damals vor, während und nach 1945) "dabei waren" zuerst einmal zuhört.

Beste Grüsse,

Michael

Peter von Groddeck
05.12.2011, 16:46
Hallo Michael,
wunderschöner Beitrag. Kommentar zu folgenden Satz: "Besonders meine Generation sieht den Bedarf einer Wiederherstellung kultureller und zivilisatorischer Kontinuität Danzigs, die die grossen, einschneidenden Erlebnisse des 20. Jahrhunderts eben nicht als Brüche sieht, sondern als Ereignisse in einer durchgängigen, europäischen Geschichte des Ortes Danzig."
Zum Glück gibt es auch in meiner Generation (*1937) viele die so denken. Leider auch wenige andere.
Gruß Peter

Ulrich 31
05.12.2011, 17:36
Hallo Michael,
auch ich danke Dir für Deinen sehr erfreulichen Beitrag. Wie Peter gehöre ich (* 1931) zu denen, die erleichtert und zufrieden feststellen, dass die Einstellung der heutigen polnischen Generation zur Geschichte von Danzig überwiegend ohne Ressentiment ist, so wie ich selbst dazu stehe. Auf einem anderen Blatt steht aber, dass die Jugend (aber auch Ältere) in Deutschland viel zu wenig oder gar nichts von der Geschichte Danzigs weiß. Frag dort mal nach der Freien Stadt Danzig.
Gruß Ulrich

christian65201
05.12.2011, 20:06
Hallo Michael,
Hut ab, Dein Beitrag spricht mir aus ganzem Herzen

Christian

Hansgeorg Bark
06.12.2011, 00:31
wenn keine fragen gestellt werden, giebt es auch keine antwort. guten Abendt Hansgeorg Bark

Rudolf
06.12.2011, 14:21
Hallo Michael ,
Dein Beitrag hat mir sehr gefallen und ich kann nur unterstreichen , was Du ausgedrückt hast . Ich (*1933) habe mich auch früher schon zu dieser Thematik im Forum geäußert ( Beitrag vom 02.09.2009 zu : Deutsche und Polen und Beitrag vom 17.03.2010 zu : Aus anderem Blickwinkel ) . Mein polnischer Freund , mit dem ich seit meinem ersten Besuch in Danzig im Jahre 1960 bis zu seinem Tod im Jahre 2000 einen ständigen Kontakt hatte , sah von Anfang an , daß es in einigen Jahren , besonders unter der heranwachsenden Jugend in Polen eine Reduzierung der Ressentiments gegenüber den Deutschen bzw. der früheren deutschen Bevölkerung geben wird . Dieser Mann ( man findet über ihn etwas im Internet unter seinem Namen Antoni Dworski ) sprach schon 1960 hierzu offen mit mir und das also bereits zu einer Zeit , als noch gut die Hälfte Danzigs in Trümmern lag . Ich wohnte seinerzeit in Danzig im Orbis-Hotel gegenüber dem Hauptbahnhof und ich glaube , daß es sich damals um das einzige ( neu erbaute ) Hotel Danzigs handelte . Der Zugang zum Hotel war mit Steinbrocken eingefaßt , auf denen man teilweise die Fragmente deutscher Beschriftung sehen konnte , es waren Teile von Grabsteinen . Als er das sah - und auch mein Gesicht dazu - war es ihm sichtlich peinlich , wie auf diese Art mit der früheren Geschichte Danzigs umgegangen wurde .
In den Jahren seitdem hat sich vieles geändert und ich bin überzeugt , daß sich im gegenseitigen Verstehen diese Veränderungen auch weiter positiv verbessern werden .
Beste Grüße - Rudi

udalerikus
07.12.2011, 17:34
Hallo,

ja, fragen, und auch aufschreiben! Denn nur so bleibt Erinnerung wirklich erhalten und verwischt nicht mit der Zeit.
Schade nur, dass sich bei der allgemeinen Stimmung hier, diese Zeitzeugengeschichten zu bewahren, keiner findet, der seine Geschichte für das Projekt 'Danziger Lebensgeschichten' zur Verfügung stellt. Ich bin ganz sicher, dass diese auch in Buchform, und nicht nur in einzelnen Beiträgen hier im Forum, von Interesse wären. Ich kann aber natürlich auch nicht einfach Beiträge 'klauen'.

Gruß
Udo

midma
12.12.2011, 10:37
Ich finde diesen Beitrag sehr interessant. Ich habe die Geschehnisse nicht miterlebt, dafür bin ich zu jung, allerdings Interessiere ich mich sehr für die Vergangenheit und die Geschichte. Das ist auch der Grund warum es wichtig ist, dieses Wissen zu archivieren, sei das in Büchern, Dokumentationen oder in Foren wie dieses hier. So kann man das Wissen noch sichern und weitergeben.

Wolfgang
13.12.2011, 21:29
Schönen guten Abend,

es gibt nur noch wenige Zeitzeugenberichte die über ihre eigenen Erlebnisse berichten können. Viele von ihnen sind verstummt. Es gilt nun, auch nach deren Berichten zu forschen und sie zu veröffentlichen. So sind z.B. von meiner Oma einige wenige Nachkriegsbriefe erhalten geblieben in denen sie über ihre Erlebnisse spricht: http://forum.danzig.de/showthread.php?1149-Erlebnisse-meiner-Gro%DFmutter-Gertrud-Naujocks-geb.-Trosin

So etwas bringt uns auch heute noch mit großer Eindringlichkeit vor Augen wie die (Über-) Lebensumstände seinerzeit waren.

Mittlerweile sind wir fast ausschließlich Suchende. Die noch Lebenden werden immer weniger und sie können immer seltener noch Antwort geben.

Herzliche Grüße aus dem nasskalten Danzig
Wolfgang

Hans-Joerg +, Ehrenmitglied
13.12.2011, 22:06
Hallo Wolfgang
So ist es ... siehe auch mein Beitrag # 4 !!!!!
Fragt solange es noch möglich ist ....!!!!
Viele Grüße
Hans-Jörg