Wolfgang
13.09.2012, 00:41
Aus "Unser Danzig", Januar 1998, Seiten 30-31.
Die Veröffentlichung in unserem Forum erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Bundes der Danziger, Lübeck.
"Wir müssen uns das Erbe teilen"
Marienauer in Marynowy
Als Anfang der 90er Jahre die Freie Marktwirtschaft auch in Polen zum Zauberwort wurde, entdeckte Werner Hewelt am schönen Radaune-Stausee in Straschin, daß die Elektrizitätsgesellschaft gerade dabei war, Urlaubsunterkünfte Werksangehöriger für Hotelzwecke umzuwidmen.
Gleich wurde ein Name erfunden, die 3-Bettzimmer ein bißchen aufpoliertund schon war in schöner Lage zwischen Kiefern, Hügeln und See das Hotel "Jon" für Fremde offen. Ein Geheimtip, den 50 Marienauer für zehn Tage im Weichseldelta als Stammquartier nutzten.
Das schöne alte Danzig, nur acht Kilometer entfernt, wurde gleich am ersten Tag zur Besichtigung freigegeben, inklusive ein paar Minuten der Andacht unter dem Turm der Katharinenkirche beim Glockenklang zu "Freude, schöner Götterfunken". Die wiederauferstandene alte Architektur unter warmer Augustsonne und die Schmuckauslagen mit dem "Gold der Ostsee" wurden uns Werderdörflern zu einem schönen Erlebnis. Zoppot und Oliva sollten hier das Erlebnis abrunden.
Wir hatten täglich einen komfortablen Bus zur Verfügung, der uns an den folgenden Tagen ins Große Werder fuhr: nach Bodenwinkel, wo Zander und Aale so köstlich schmeckten, nach Kahlberg zwischen Haff und See und natürlich nach Steegen, dem Familienbad der Marienauer, wo man aber die gepflegte Atmosphäre an Wald- und Strandhalle vergeblich suchte, die Erinnerung jedoch sich in Waldesmitte beim Blaubeersuchen und einst so herrlichen Zeltlagern einkuscheln konnte.
Die stolze Marienburg war uns ebenfalls eine Tagesreise wert, waren da auch gleich beim Anblick der Mauern, Türme und Zinnen die heimatkundlichen Geschichtstexte aus der Dorfschule gegenwärtig: Wem er von Orseln, der Dorfgründer von Marienau 1321, Winrich von Kniprode, der Hochmeister der Blütezeit, und Heinrich von Plauen, der Verteidiger der Burg nach der unglückseligen Schlacht bei Tannenberg. Da sahen wir noch einmal die polnische Kanonenkugel in der Wand des Sommerremters stecken, die den tragenden Mittelpfeiler treffen und den Raum zum Einsturz bringen sollte. Doch die Belagerer auf der anderen Nogatseite hatten wohl zuviel des guten "Zielwassers" getrunken.
Mittelpunkt der Reise jedoch war unser Heimatdorf Marienau (Marynowy) in der Werdermitte. In seinem 70-Hufen-Areal an der Schwente gelegen, war es noch 1945, als die Flucht begann, ein blühendes Dorf mit einigen Vorlaubenhäusern, an die 26 Höfen und etwa 900 Einwohnern, das der Elbinger Dichter Paul Fechter als "ein großes und reiches Werderdorf' beschreibt. Heute jedoch fast bis zur Unkenntlichkeit verändert, sahen wir es nur noch als Schatten seiner Vergangenheit wieder. Eine breitasphaltierte Durchgangsstraße hat die charakteristische Dorfstraße - Pflaster- und Sommerweg - und die glatten schlanken Eschenstämme zu beiden Seiten weggenommen. Das fast zwei Kilometer lange Straßendorf mit Anger hat wohl 70 Prozent der uns noch bekannten Häuser eingebüßt wie auch die gepflegten Bauerngärten, die Vorgärten, die Kartoffel- und Gemüsegärten in Angermitte, wo Teiche wie Perlen an einer Bachschnur, heute ziemlich verkrautet, nur noch für ein Suchspiel taugen.
Manche fanden ihr elterliches Wohnhaus wieder, viele jedoch nicht. Durch Dolmetscher aus Tiegenhof waren kurze Gespräche möglich. Anrührend manches Wort und inneres Bewegtsein, wenn man nach fünfzig Jahren zum erstenmal die Heimat wiedersieht und vertraute, wenn auch veränderte Wege geht. Heute leben etwa 300 Neusiedler im Dorf, deren Zukunft nicht gerade rosig aussieht.
Fest und trutzig steht allein die alte gotische Ordenskirche St. Anna, deren schlanker Holzturm mit einem noch schlankeren Helmaufsatz weit über die ebene Werderlandschaft ragt. Nach frühzeitigem Briefkontakt mit dem heutigen Pfarrer Czeslaw Nowaczynski kam eine Begegnung der ehemaligen Marienauer mit den jetzigen Bewohnern dort in der Kirche zustande. Es waren bewegende Augenblicke - für manchen der Höhepunkt dieser Reise - dort nach fünfzig Jahren wieder zu stehen und einen ökumenischen Gottesdienst zu feiern, wo er einstmals als Kind zur Kommunion ging.
Die Bankreihen waren mit den jetzigen Bewohnern und unserer Gruppe voll besetzt. Der Pfarrer erschien in hellgrünem liturgischem Gewand vor dem barocken Altar von 1727. Er begrüßte die deutsche Gruppe der alten Dorfgemeinschaft und seine Gemeinde. Anschließend übergab er Helmut Enss, der die Marienauer Gruppe vertritt, das Wort zu einer Ansprache, die Herr Klein (Tiegenhof) ins Polnische übersetzte.
Danach ging es in die Feldmark. Die Heimaterde hatte es doch allen angetan. Die gelben Korn- und Stoppelfelder an der Rohrlake zu betreten, wo der Pflug unserer Vorväter generationenlang die Scholle wendete für Saat und Ernte, den Duft des reifen Korns wahrzunehmen, war vor allem für die Ackerleute aus unserer Gruppe aus deutschen Zeiten eine tiefe innere Reise in ihre Vergangenheit. Man schöpfte eine Handvoll Erde zum Mitnehmen, man pflückte einen Ähren- und Feldblumenstrauß, Schilf und Rohrkolben aus der Schwente.
Unweit davon die Weißbäume, das zweite Wahrzeichen neben der Kirche, sichtbar von jedem Punkt der äußeren Grenzen der Dorfgemarkung. Zwei der vier Riesen stehen noch in alter Pracht. Wir haben sie zum Abschied umarmt, in Treue fest - fast acht Meter Stammumfang!
So endete diese besondere Reise in unsere Werderheimat, aus der uns der politisch-kriegerische Strom der vierziger Jahre fortgerissen hat. Die Fragen nach den Ursachen in historischer Wahrheit stellen wir heute leider immer noch nicht. Es war eine Reise in einer wohltuenden Gemeinschaft von Schicksalsgefährten. Bilanzen gab es auf dem Rückweg noch nicht zu hören. Rückschau bedarf des Nachdenkens in der Stille, und vielleicht erstellt daheim jeder eine andere aus seiner Sicht und Lebenserfahrung. Die augenblickliche geschichtliche Befindlichkeit unseres Volkes wird ihm dabei wenig hilfreich sein. Vielleicht bleiben auch manche in der Gegenwart, blinzeln in die Sonne und sagen: es war schön, mit meinen lieben alten Dorfnachbarn ins heimatliche Werderland zu fahren.
Die Veröffentlichung in unserem Forum erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Bundes der Danziger, Lübeck.
"Wir müssen uns das Erbe teilen"
Marienauer in Marynowy
Als Anfang der 90er Jahre die Freie Marktwirtschaft auch in Polen zum Zauberwort wurde, entdeckte Werner Hewelt am schönen Radaune-Stausee in Straschin, daß die Elektrizitätsgesellschaft gerade dabei war, Urlaubsunterkünfte Werksangehöriger für Hotelzwecke umzuwidmen.
Gleich wurde ein Name erfunden, die 3-Bettzimmer ein bißchen aufpoliertund schon war in schöner Lage zwischen Kiefern, Hügeln und See das Hotel "Jon" für Fremde offen. Ein Geheimtip, den 50 Marienauer für zehn Tage im Weichseldelta als Stammquartier nutzten.
Das schöne alte Danzig, nur acht Kilometer entfernt, wurde gleich am ersten Tag zur Besichtigung freigegeben, inklusive ein paar Minuten der Andacht unter dem Turm der Katharinenkirche beim Glockenklang zu "Freude, schöner Götterfunken". Die wiederauferstandene alte Architektur unter warmer Augustsonne und die Schmuckauslagen mit dem "Gold der Ostsee" wurden uns Werderdörflern zu einem schönen Erlebnis. Zoppot und Oliva sollten hier das Erlebnis abrunden.
Wir hatten täglich einen komfortablen Bus zur Verfügung, der uns an den folgenden Tagen ins Große Werder fuhr: nach Bodenwinkel, wo Zander und Aale so köstlich schmeckten, nach Kahlberg zwischen Haff und See und natürlich nach Steegen, dem Familienbad der Marienauer, wo man aber die gepflegte Atmosphäre an Wald- und Strandhalle vergeblich suchte, die Erinnerung jedoch sich in Waldesmitte beim Blaubeersuchen und einst so herrlichen Zeltlagern einkuscheln konnte.
Die stolze Marienburg war uns ebenfalls eine Tagesreise wert, waren da auch gleich beim Anblick der Mauern, Türme und Zinnen die heimatkundlichen Geschichtstexte aus der Dorfschule gegenwärtig: Wem er von Orseln, der Dorfgründer von Marienau 1321, Winrich von Kniprode, der Hochmeister der Blütezeit, und Heinrich von Plauen, der Verteidiger der Burg nach der unglückseligen Schlacht bei Tannenberg. Da sahen wir noch einmal die polnische Kanonenkugel in der Wand des Sommerremters stecken, die den tragenden Mittelpfeiler treffen und den Raum zum Einsturz bringen sollte. Doch die Belagerer auf der anderen Nogatseite hatten wohl zuviel des guten "Zielwassers" getrunken.
Mittelpunkt der Reise jedoch war unser Heimatdorf Marienau (Marynowy) in der Werdermitte. In seinem 70-Hufen-Areal an der Schwente gelegen, war es noch 1945, als die Flucht begann, ein blühendes Dorf mit einigen Vorlaubenhäusern, an die 26 Höfen und etwa 900 Einwohnern, das der Elbinger Dichter Paul Fechter als "ein großes und reiches Werderdorf' beschreibt. Heute jedoch fast bis zur Unkenntlichkeit verändert, sahen wir es nur noch als Schatten seiner Vergangenheit wieder. Eine breitasphaltierte Durchgangsstraße hat die charakteristische Dorfstraße - Pflaster- und Sommerweg - und die glatten schlanken Eschenstämme zu beiden Seiten weggenommen. Das fast zwei Kilometer lange Straßendorf mit Anger hat wohl 70 Prozent der uns noch bekannten Häuser eingebüßt wie auch die gepflegten Bauerngärten, die Vorgärten, die Kartoffel- und Gemüsegärten in Angermitte, wo Teiche wie Perlen an einer Bachschnur, heute ziemlich verkrautet, nur noch für ein Suchspiel taugen.
Manche fanden ihr elterliches Wohnhaus wieder, viele jedoch nicht. Durch Dolmetscher aus Tiegenhof waren kurze Gespräche möglich. Anrührend manches Wort und inneres Bewegtsein, wenn man nach fünfzig Jahren zum erstenmal die Heimat wiedersieht und vertraute, wenn auch veränderte Wege geht. Heute leben etwa 300 Neusiedler im Dorf, deren Zukunft nicht gerade rosig aussieht.
Fest und trutzig steht allein die alte gotische Ordenskirche St. Anna, deren schlanker Holzturm mit einem noch schlankeren Helmaufsatz weit über die ebene Werderlandschaft ragt. Nach frühzeitigem Briefkontakt mit dem heutigen Pfarrer Czeslaw Nowaczynski kam eine Begegnung der ehemaligen Marienauer mit den jetzigen Bewohnern dort in der Kirche zustande. Es waren bewegende Augenblicke - für manchen der Höhepunkt dieser Reise - dort nach fünfzig Jahren wieder zu stehen und einen ökumenischen Gottesdienst zu feiern, wo er einstmals als Kind zur Kommunion ging.
Die Bankreihen waren mit den jetzigen Bewohnern und unserer Gruppe voll besetzt. Der Pfarrer erschien in hellgrünem liturgischem Gewand vor dem barocken Altar von 1727. Er begrüßte die deutsche Gruppe der alten Dorfgemeinschaft und seine Gemeinde. Anschließend übergab er Helmut Enss, der die Marienauer Gruppe vertritt, das Wort zu einer Ansprache, die Herr Klein (Tiegenhof) ins Polnische übersetzte.
Danach ging es in die Feldmark. Die Heimaterde hatte es doch allen angetan. Die gelben Korn- und Stoppelfelder an der Rohrlake zu betreten, wo der Pflug unserer Vorväter generationenlang die Scholle wendete für Saat und Ernte, den Duft des reifen Korns wahrzunehmen, war vor allem für die Ackerleute aus unserer Gruppe aus deutschen Zeiten eine tiefe innere Reise in ihre Vergangenheit. Man schöpfte eine Handvoll Erde zum Mitnehmen, man pflückte einen Ähren- und Feldblumenstrauß, Schilf und Rohrkolben aus der Schwente.
Unweit davon die Weißbäume, das zweite Wahrzeichen neben der Kirche, sichtbar von jedem Punkt der äußeren Grenzen der Dorfgemarkung. Zwei der vier Riesen stehen noch in alter Pracht. Wir haben sie zum Abschied umarmt, in Treue fest - fast acht Meter Stammumfang!
So endete diese besondere Reise in unsere Werderheimat, aus der uns der politisch-kriegerische Strom der vierziger Jahre fortgerissen hat. Die Fragen nach den Ursachen in historischer Wahrheit stellen wir heute leider immer noch nicht. Es war eine Reise in einer wohltuenden Gemeinschaft von Schicksalsgefährten. Bilanzen gab es auf dem Rückweg noch nicht zu hören. Rückschau bedarf des Nachdenkens in der Stille, und vielleicht erstellt daheim jeder eine andere aus seiner Sicht und Lebenserfahrung. Die augenblickliche geschichtliche Befindlichkeit unseres Volkes wird ihm dabei wenig hilfreich sein. Vielleicht bleiben auch manche in der Gegenwart, blinzeln in die Sonne und sagen: es war schön, mit meinen lieben alten Dorfnachbarn ins heimatliche Werderland zu fahren.