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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Eine Sage: Die Tiege



Wolfgang
27.10.2012, 17:50
"Unser Danzig", Ausgabe Mai 1999, Seiten 28-29

Editha von Groddeck

Die Tiege

(Entnommen: "Danziger Sagenbuch für Schule und Haus", Danziger Verlagsgesellschaft m.b.H., Danzig 1923.)

Kennt ihr die kleine Tiege, die in vielgewundenem Lauf durch die weite Ebene des großen Werders zwischen Weichsel und Nogat dem Haff zufließt?

Den rastlosen Menschen von heute machte sie gar zu viele Umwege. Da haben sie ihre Wasser in ein gerades breites Kanalbett gezwungen, auf dem die voll beladenen Kähne ungehindert von der Weichsel zum Haff gelangen. Das ist der Schwentekanal; denn die Tiege wird auch Schwente genannt nach dem zweiten Namen Swenta, den die Tiega, von der ich euch erzählen will, führte.

Hier, wo heute unabsehbare goldne Weizenfelder wogen oder große Herden schwerer Rinder und prächtiger Pferde auf fetten Wiesen weiden, spülten einst, da noch keines Menschen Fuß diese Gegend betreten, die Wellen der Ostsee tief ins Land hinein bis zur Montauer Spitze. Ihre weißen Arme streckten sie der Weichsel entgegen. Die hatte, des langen Weges müde, den Landrücken durchbrochen und stürmte der blauen See zu. Allmählich – es währte freilich tausend und abertausend Jahre - bauten die Wellen lange hohe Dünenstreifen aus dem losen Meeressande auf, die trennten die Meeresbucht von dem flutenden offenen Wasser und dem Spiel der Winde. Und in dem stillen, toten Wasser lagerte nun die Weichsel Schlick und Schlamm ab, den sie auf der Reise mitgenommen. So wurde aus dem Meerbusen ein Sumpfland, aus dem die einstigen kleinen Inseln sich als trockne Anhöhen erhoben.

Auf ihnen siedelten sich bald tatkräftige, wagemutige Menschen an. Wie Fürsten herrschten sie über die Leute, die sich ihrem kraftvollen Schutz unterstellten und ihnen dienten.

Unter ihnen war ein Fürst, dessen tugendhafte Tochter Tiega, die er auch Swenta nannte, von manchem Recker zur Hausfrau begehrt wurde. Vor allem hatte ihr Nachbar Hasso, ein wüster, räuberischer Riese, um sie geworben; dem hatte der Vater sie verweigert, und nun sann er darauf, die edle Jungfrau mit Gewalt in sein Haus zu führen.

Tiega aber ging ruhig ihren Pflichten nach in Haus und Hof. So war sie eines Tages, einen Blumenkranz im langen, heIlen Haar, das graue selbstgewebte Linnenkleid hochgeschürzt, um besser ausschreiten zu können, nach einem klaren See gegangen, um Wasser zu schöpfen. Als sie den hohen bauchigen Tonkrug gefüllt hatte, hob sie ihn kraftvoll auf die Schulter und schritt wohlgemut der heimatlichen Burg zu. Da ersahen ihre scharfen Augen in der Ferne den grimmigen Hasso, der ihr den Weg zu ihres Vaters Hof verlegte. Erschrocken wandte sie sich zurück und eilte, da sie die Schritte des Bösewichts bald hinter sich vernahm, geflügelten Laufes davon. Um dem Heranstürmenden zu entgehen, lief sie kreuz und quer um das dichte Weidengebüsch, bald links, bald rechts ausweichend. Aus dem schweren Krug, den sie von der Schulter genommen, floß das Wasser und verriet ihre Spur. Immer näher kam ihr Verfolger. Schon hörte sie seinen keuchenden Atem. Da stand sie - todesmatt und bebend – vor einem großen Wasser. Nur einen Augenblick stockte ihr flüchtiger Fuß. Dann stürzte sie sich in die Flut, und in blinder Gier sprang Hasso ihr nach. Über ihnen schlossen sich die tiefen Wasser, und der schwere Körper des ungefügen Riesen sank hinab.

Unweit von der Stelle aber war ein Fischer geschäftig, im hohen Schilf seine Reusen auszulegen zum nächtlichen Fischfang. Er hatte die eilenden Schritte gehört und sah das geängstigte Mädchen in den Wellen verschwinden. Schnell löste er den Nachen und zog die Jungfrau hinein. Da erkannte er die edle Tiega, die so manches Mal ihm freundliche Rast am Herdfeuer gestattet, wenn er ihrem Vater einen fetten Aal oder silberschuppigen Lachs gebracht hatte. Sorgfältig geleitete er die gerettete Jungfrau heim.

Und da er zu seinem Nachen zurückging, siehe, da rieselte dort, wo Tiega im gewundenen Laufe ihrem Verfolger enteilte und in weiten Bogen das Wassers ihres Kruges vergoß, ein kleines Flüßchen. Zum Gedächtnis des tugendhaften Fürstenkindes ward es Tiege oder Schwente genannt, und das große Gewässer, das ihm zur Rettung, dem Riesen Hasso zum Verderben wurde, heißt noch heute das Haff.

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Die Veröffentlichung dieses Artikels erfolgte mit freundlicher Genehmigung des "Bundes der Danziger" in Lübeck.

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Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang

Peter von Groddeck
27.10.2012, 21:23
Hallo,
diese schöne Geschichte meiner Großtante ist erstmalig erschienen im Danziger Sagenbuch, Danziger Verlagsgesellschaft m.b.H., Danzig 1925. Dieses Buch habe ich.
Gruß Peter