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Wolfgang
27.10.2012, 21:30
Schönen guten Abend,

der folgende Reisebericht basiert auf vor 25 Jahren gewonnenen Erlebnissen und Eindrücken. Auch das ist bereits Geschichte...



Aus "Unser Danzig", Ausgabe 01/02 vom 20.01.1987, Seiten 14-21 und Ausgabe 03 vom 05.02.1987, Seiten 12-13

Erwin Flink
Reise in das Große Werder

1944 hatte ich meine Heimat zum letzten Mal während eines Urlaubs von der Ostfront gesehen. Meine Heimat, das ist das "Große Werder" zwischen der Stromweichsel im Westen, der Elbinger Weichsel im Norden, der Nogat und dem Frischen Haff und seiner Nehrung im Osten. Das Große Werder wurde auch zeitweilig Marienburger oder Danziger Werder genannt.

In unserer Heimatzeitschrift "Unser Danzig" hatte ich die unterschiedlichen Berichte über Reisen nach Danzig aufmerksam gelesen, aber selbst immer wieder eine Reise in das Werder aufgeschoben. Es war von viel Vorfreude, spannender Erwartung und abschließender Genugtuung die Rede, aber es klang auch hier und da Wehmut durch, doch kaum war Kritisches zu lesen. Liegt es daran, dass man viele kleine und große Unannehmlichkeiten ohne Murren in Kauf nimmt, weil die Sehnsucht, seine Heimat wieder zu sehen, vieles überbrückt und überdeckt?

Mein älterer Bruder wollte 1986 noch einmal das Große Werder und sein Zuhause sehen, ich sollte ihn begleiten. Mit von der Partie waren auch meine Base und deren Mann, ebenfalls im Werder zu Hause. Als dann der Termin feststand, stellte sich auch bei uns das Heimatfieber ein. Wir hatten eine sechstägige Busreise gebucht, viel zu kurz, wie sich später herausstellen sollte. Wir haben unser Pensum in dieser kurzen Zeit nicht schaffen können, sicherlich werden wir es in ein oder zwei Jahren nachholen, dann werde ich meine Frau und meinen Sohn mitnehmen.

Ich hatte aber nicht nur die Reiseberichte gelesen, sondern auch alle Diskussionen über unsere Heimat verfolgt , sei es das Hickhack der Schulkommissionen um die Texte für die Schul- und Geschichtsbücher, die unglücklichen Äußerungen so mancher deutscher Politiker zur Ostpolitik und Danzig im besonderen, die Bemerkungen polnischer Politiker über das Noch- oder Nichtdeutschtum in den deutschen Ostgebieten und nicht zuletzt die unheilvollen Sätze des Primas von Polen, dass es in unserer Heimat keine Deutschen mehr gebe, die eine Betreuung erfahren müssten. - Aus meinem persönlichen Umfeld weiß ich es besser. - Verärgert war ich besonders über die polnische Einreisebestimmung, die die Mitnahme von Landkarten deutschen Ursprungs untersagt.

Am 30. Juni um 21 Uhr startete der Reisebus ab Oelde. Wir sollten über 18 Stunden unterwegs sein. Die politischen Ereignisse Anfang 1986 und die atomare Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl in der Sowjetunion, so sagte uns der Reiseunternehmer bei Antritt der Reise, hatten bedauerlicherweise zu diversen Absagen der Reisen nach Pommern, Danzig, West- und Ostpreußen geführt. Deshalb hatte er die Fahrten nach Kolberg, Stolp, Danzig, Allenstein und Lötzen zu einer Fahrt zusammengelegt.

Die Fahrt führte uns über Helmstedt, Berliner Ring, Stettin und Hinterpommern in Richtung Danzig. In Kolberg wurde eine Frühstückspause eingelegt. Erinnern wir uns. Hinterpommern wurde 1945 von den Russen den Polen überlassen, und es begann, wie auch in Danzig, Ost- und Westpreußen, die systematische, vom polnischen Staat gelenkte Vertreibung der Deutschen. Die Geschichte Hinterpommerns ähnelt der Geschichte Danzigs und Westpreußens. Nachdem die germanischen Völker der Rugier, Goten und Burgunder diese Gebiete während der Völkerwanderung verlassen hatten, wurden sie im 7./8. Jahrhundert durch slawische Wendenstämme weitgehend besiedelt, bis im 11. Jahrhundert die Rückwanderung, Neubesiedlung und Christianisierung begann.

Pommern mit seinem langen Zug von flachen Hügeln, dem baltischen Rücken, zwischen denen immer wieder große und kleine liebliche Seen liegen, umrahmt von dichten Wäldern, gehörte schon frühzeitig mit seinen Städten Stettin, Stargard, Treptow, Belgard, Kolberg, Köslin, Rügenwalde und Stolp der Hanse an. Stettin war außerdem ein wichtiger Fischereihafen der Hanse. Die Landschaft Pommerns mit seinem unendlichen Reichtum an Brotgetreide, Kartoffeln, Zuckerrüben, Fleisch und Milch hatte im Deutschen Reich großen Anteil an der Ernährung der Bevölkerung. 1938 haben wir als Schulkinder Pommern während der großen Ferien durchradelt.

Wir Danziger können ganz besonders verstehen, welches Kleinod die Pommern verloren haben. Auch Pommern war am Ende des Zweiten Weltkrieges schwer umkämpft. Doch sahen wir noch viele Häuser und Bauten aus der Vorkriegszeit. Öffentliche Gebäude und Kirchen sind von den Polen zum Teil restauriert worden. Fachwerkhäusererden von den Polen als preußischer Stil bezeichnet.

Diese Reisen in die deutschen Ostgebiete werden weitgehend von dem polnischen Reisebüro "Orbis" gesteuert. Das wird einem erst völlig klar, wenn an der polnischen Grenze sich die Reisebegleitung vorstellt. Bis Kolberg betreute uns "St. ", sprach schlechtes Deutsch, wusste uns aber wenigstens die deutschen Ortsnamen zu sagen. Ab Kolberg übernahm seine Kollegin "Hedwig" dieses Amt. Sie hätte es aber gern,wenn man sie "Jadwiga" nennen würde. Ihr Deutsch war zwar besser als das von "St."; aber dafür konnte oder wollte sie uns nicht immer die Ortsnamen in deutscher Sprache nennen. Erfahren haben wir von "Hedwig", dass es in Polen 98 Prozent Katholiken gibt, keine Deutschen mehr, also auch keine Protestanten. Die alten Deutschen seien verstorben oder ausgewandert (die Vokabel Vertreibung kannte sie sicherlich nicht), und die jüngeren Deutschen hätten polnische Partner gefunden. So einfach ist das. Meines Erachtens ein Gemisch von.amtlicher polnischer Sprachweise, Wunschdenken und Halbwahrheiten. Im Verlauf der Reise haben wir es anders erlebt, außerdem haben wir noch Verwandte in Danzig, dem Werder und Dirschau. Ich persönlich sehe diese Betreuung Deutscher nicht als Service an, sondern ich fühle mich verschaukelt.

Gegen 15 Uhr am 1. Juli erreichten wir das Hotel "Hevelius" in Danzig. Meine Freude war groß, dass gerade Danzig unser Domizil war, denn als Schüler haben wir viele Klassenfahrten nach Danzig veranstaltet, und später habe ich während einiger Tagungen Danzig und seine Umgebung kennengelernt.

Die Altstadt mit der Marienkirche und St. Katharinen lag in der Nachmittagssonne, als wir aus dem neunten Stock des Hotelzimmers blickten. Nach wie vor ein imposanter Anblick. Über unsere Stadt Danzig ist schon so oft berichtet worden, dass ich meine Eindrücke nur kurz wiedergeben möchte. Der Stadtkern mit seiner Baukunst des Mittelalters und der Renaissance, die Marienkirche als eindrucksvollstes Bauwerk der Backsteingotik, St. Marien, das größte evangelische Gotteshaus Europas, St. Nikolai und St. Katharinen und die ungefähr 40 Kirchen Danzigs, die von den Polen alle in gutem Zustand gehalten oder restauriert worden sind, wie St. Marien, .das Rechtstädtische Rathaus, die Fassaden der Häuser am Langen Markt und der Langgasse, wie das Steffensche- und Uphagenhaus oder das Krantor an der Langen Brücke, das wohl bekannteste und berühmteste Bauwerk der Hafenstädte des Ostens, beeindruckt noch immer jeden Besucher Danzigs. Die Niederstadt und die Speicherinsel, an Mottlau und Toter Weichsel gelegen, sind noch stark von Ruinen durchsetzt. Die Innenstadt Danzigs wimmelte von Besuchern, viele aus dem Ausland, aber vor allem polnischen Schulklassen. Auch Deutsche aus beiden Teilen unseres Vaterlandes habe ich gesprochen.

Mir fiel besonders ein junges Ehepaar aus West-Berlin auf, das Danzig privat aufgesucht hatte. Es war außerordentlich interessiert, aber ihm fehlte das fundierte Wissen und die Kenntnisse der deutschen Geschichte Danzigs, um uns Danziger verstehen zu können. Hier ist den Schulen und ihren Lehrern wohl der größte Vorwurf zu machen, wenn sie ihren Schülern so wenig Kenntnisse über das Deutschtum des Ostens vermitteln.

Ein weiterer Tag galt dem Besuch von Oliva, Zoppot und der Westerplatte. Oliva mit der Basilika und seinem Zisterzienserkloster, das eine bedeutende Rolle bei der Neubesiedlung des Ostens im 11. Jahrhundert spielte. Zoppot mit seinem weltweit bekannten Seesteg, seinem Kurpark und Kurhaus und einstmals wunderbaren Seestrand. Das schöne klare Wetter ermöglichte uns, die Steilküste von Adlershorst zu sehen.

Ich will keineswegs die außerordentlich guten und erfolgreichen Restaurierungsarbeiten der Polen an Danzigs weltweit bekannten und berühmten Bauwerken und Häusern schmälern, aber die Polen müssen sich bis heute sagen lassen, dass sie es nicht geschafft haben, Danzig mit pulsierendem Leben zu erfüllen, wie es einst zur deutschen Zeit war. Allgemein fehlen in den Gassen die Farben an den Häusern, das belebende Element der Schaufenster mit seinen Auslagen, am Abend das schillernde und gleißende Licht der Reklamen, die dahin schlendernden Passanten am Abend, die die Auslagen bestaunen.

Nach Einbruch der Dunkelheit wird Danzig zur toten Stadt. Es gibt nur wenige Gaststätten, die abends noch geöffnet sind, darunter das Restaurant "Lachs", bekannt schon zur deutschen Zeit.

In der Breitgasse war man übrigens durch Aufstellen von Gerüsten dabei, den "Dominik" vorzubereiten, Danzigs landauf, landab bekanntestes Vergnügungsfest für jung und alt. Wir sind einige Male von Simonsdorf und Neuteich eigenst zu diesem Trubelfest nach Danzig gefahren. Zwei Tage hatten wir für das Große Werder und den Besuch der Ostsee in Steegen und Stutthof wie auch der Frischen Nehrung und dem Frischen Haff eingeplant. "Werder" bedeutet in seinem Ursprung "Insel". Und Insel im wahrsten Sinne des Wortes-war unser Großes Werder, wie es seit 1920 genannt wurde, nachdem die Stadt Danzig, mit Zoppot und Oliva, der Danziger Höhe, der Danziger Niederung und dem Danziger/ Marienburger Werder vom Deutschen Reich losgelöst und zum Freistaat erklärt wurde.

Im Westen bildete die Strom-Weichsel von der Montauer Spitze (Abzweigung der Nogat von der Weichsel) bis zur Elbinger Weichsel die Grenze. Im Norden war es diese Elbinger Weichsel (ein früherer Mündungsarm der Stromweichsei) bis zum Frischen Haff. Im Osten bildete die Nogat die Grenze, ebenfalls ein Mündungsarm der Weichsel, von der Montauer Spitze bis zum Frischen Haff. Die Grenze verlief dann nördlich durch das Frische Haff, über die Frische Nehrung bis zur Ostsee. Die Montauer Spitze war das Länderdreieck zwischen dem Deutschen Reich, dem Freistaat Danzig und Polen.

Durch Überschwemmungen der nicht eingedeichten Weichsel und seiner Deltaflüsse wie Nogat, Scharfau, Lienau, Schwente und Elbinger Weichsel wurde das Werder durch die Sinkstoffe dieser Flüsse zu einer fruchtbaren Niederung. Erst durch die voranschreitende Eindeichung und Regulierung der Flüsse im Laufe der Jahrhunderte, etwa ab 1300, wurde die Auflandung des Weichsel-Nogat-Deltas beendet. Doch in den nachfolgenden Jahren gab es immer wieder verheerende Deichbrüche an Weichsel und Nogat, wobei der Deichbruch 1840 bei Neufahrwasser eine der größten Katastrophen war. Erst der Durchstich von Menschenhand ab Einlage bis zur Ostsee, welcher der Weichsel einen geraden, ungehinderten Abfluss der Wassermassen, insbesondere aber des Eises im Winter, in die Ostsee bescherte, brachte dem Werder die ersehnte Ruhe. Nogat und Elbinger Weichsel und die durch den Durchstich entstandene, sogenannte "Tote Weichsel" wurden durch Schleusen abgehängt.

Tiegenhof und Neuteich hießen die beiden Städte des Großen Werders. Tiegenhof war die Kreisstadt und berühmt durch seine Stobbesehe Machandelfabrik, die Ölmühle und die Brauerei Stobbe. Die Stadt beherbergte die Veredelungsbetriebe für landwirtschaftliche Erzeugnisse und war der Mittelpunkt der Viehwirtschaft des Werders. In der Mitte des Werders gelegen, war sie auch gleichzeitig Verkehrsknotenpunkt. 1939 hatte Tiegenhof etwa 4.100 Einwohner. Es lag in seinem Mittel etwa 0,40 Meter unter dem Meeresspiegel und war künstlich trockengelegtes Werdergebiet.

Neuteich war stolz auf seine Zucker- und Malzfabrik und seine vielen Gewerbe-Kleinbetriebe. 1320 von dem Deutschen Ritterorden gegründet (Werner von Orseln), wurde es schnell zu einem zweiten Mittelpunkt des Wirtschaftslebens im Werder und war, wie Tiegenhof, w farbenfrohes und blitzsauberes Städtchen mit pulsierendem Leben.

Das Große Werder war in seiner Gesamtheit geradezu das Muster einer landwirtschaftlichen Idylle. Seine mannshohen Getreidefelder , blühende Raps- und Mohnfelder, seine weiten Rüben- und Kartoffeläcker, aber auch seine riesigen Wiesen mit der ansehnlichen Viehhaltung, den gut geführten Bauernhöfen und weiten Ländereien der Gutshöfe mit ihren typischen Vorlaubenhäusern bestimmten das Aussehen und Ansehen des Großen Werders. Weidenbäume, Birken, Windmühlen, Wasserläufe und Triften, Vorfluter, Schwente und Tiege waren ebenfalls ein bestimmendes Element des Werders (Woarderland) mit seinem Woarderblott, dem Wißelstrand, den Oadeboars und der Schleieroul bei einem ausgeprägten Binnenklima.

Wir beschlossen, mit der S-Bahn von Danzig bis Dirschau zu fahren, um von dort die Rundfahrt mit einem Taxi durch das Werder zu starten. Auf dem Bahnsteig trafen wir "Bruno". Er war, wie seine Mutter, im Freistaat geblieben, und beide hatten alle Vertreibungsmaßnahmen der Polen überstanden. Er hatte sich seinen Jugendtraum erfüllt und war nach abgeschlossener Lehre Lokomotivführer geworden. Nun war er mit 67 Jahren Rentner. Im besten Danziger Platt "schlabberte" er mit uns, beriet uns, wie wir nach Dirschau kommen konnten, und studierte für uns Abfahrts- und Ankunftszeiten. Es bereitete ihm sichtliches Vergnügen, von sich und seiner Frau zu erzählen. Zwei Tage später traf mein Bruder ihn nochmals an der St.-Bartholomäi-Kirche, "wo er zur Beichte ging, weil der Pfarrer deutsch spreche, denn die Beichte lege er lieber in Deutsch ab, weil er sich dann besser verständlich machen könne".

In Dirschau hatten wir besonderes Glück, dort stand, wie bestellt, ein Mercedes-Diesel. Sein Taxifahrer war deutschstämmig, sprach ebenso wie Bruno gutes Deutsch, war außerordentlich gefällig und was von uns von großer Wichtigkeit war, er war im Werder ortskundig und kannte die Ortsnamen noch alle in Deutsch. Auch war er erstaunlich gut über allgemeine Tagesthemen im Bilde.

Nach dem Durchfahren einiger für uns interessanter Straßen in Dirschau ging es über die alte Weichselbrücke nach Liessau. Hier war der Mann meiner Base zu Hause. Auch er war nach über 40 Jahren zum erstenmal in seinem Geburtsort. Die nächste Station war das Haus meines Onkels auf halbem Weg zwischen Liessau und Damerau. Der Ziegelbau sieht noch gut erhalten aus. Die jetzigen Bewohner sprachen nur polnisch, gaben jedoch auf unsere Fragen bereitwillig Auskunft, nachdem unser Taxifahrer gedolmetscht hatte.

Angenehm war das Fahren auf den Landstraßen. Der Verkehr war minimal, kaum ein Auto, hier und da ein Pferdefuhrwerk oder ein Trecker.

Die sogenannten Sommerwege gibt es nicht mehr. Die Straße war über die ganze Breite asphaltiert und lag voll im Schatten der nach 40 Jahren hoch gewachsenen Bäume mit ihren riesigen Baumkronen. Bei 30 Grad Hitze sehr angenehm.

Dann lag Groß Lichtenau vor uns, der Geburtsort meiner Base, meiner Brüder und der meinige, zeitweilig auch unser Wohnort. Das Panorama war noch fast wie einst. Weit sichtbar die katholische Kirche mit ihrem alles überragenden Turm. Es fehlt die evangelische Kirche mit ihrem Turm, sie ist abgerissen worden. Waren es wirklich über 40 Jahre her, die wir von hier fort waren? Fast schien die Zeit stehengeblieben. Am Dorfeingang war keine Veränderung wahrnehmbar. Dann sahen wir, dass die Schienen der Kleinbahn umgelegt waren. Erst die Rundfahrt durch unseren Geburtsort ließ uns einige Häuser vermissen, andere wenige waren dazugekommen, andere hatten eine neue Funktion erhalten. Der junge Pfarrer der katholischen Kirche hat den Ehrgeiz, die Kirche wieder in ihren alten Zustand zu versetzen. Er ließ sich von uns genau schildern, wie sie ausgesehen hatte. Mit einigen Dingen hatte er schon begonnen. Die Kirchenkate war von deutschstämmigen Leuten bewohnt, die hier im Westen Verwandte haben und diese auch des öfteren besuchen. Die alte Kirchenkate war allerdings in einem miserablen Zustand. Dagegen war das aus Stein gebaute Pfarrhaus noch sehr gut erhalten, ebenso der Ziegelbau auf dem "Bachmannschen Hof" , einem Hofbesitzer in Groß-Lichtenau. Der Ziegelbau hat schon zur damaligen Zeit Aufsehen erregt, weil er zu den größten und schönsten im Ort zählte.

Auch in Groß-Lichtenau waren die Straßen von Bäumen aus unserer Zeit umgeben, die inzwischen beachtliche Ausmaße angenommen haben. Unsere gute alte Dorfschule stand noch brav an ihrem Platz. Hier hatte ich das Abc und das Einmaleins gelernt. Damals waren die Schulen für evangelische und katholische Schüler noch getrennt, jeweils die Hälfte des Gebäudes für jede Konfession. Der große Pausenhof war durch einen doppelten Bretterzaun getrennt. Innerhalb dieser zwei Zäune stand eine große Wasserpumpe mit verzierten Eisenteilen und einem langen geschwungenen Schwengel zum Bedienen der Pumpe. Nur hier durften die getrennten Dorf jungen und Mädchen' sich treffen und miteinander sprechen, wie sie es ja sowieso außerhalb der Schulzeit taten. Man kann es heute kaum glauben, daß es so etwas gegeben hat.

In unserem schönen großen Dorfteich war kaum noch Wasser. Er war teils zugeschüttet, teils verunkrautet, der Platz rundherum ungepflegt. Auf ihm spielte sich zu unserer Zeit der "Jahrmarkt" ab. Auf diesem Teich haben wir Jungen und Mädchen zu Anfang eines jeden Winters "Eislaufen" veranstaltet. Was man Eislaufen nennen kann. Wenn es anfing zu frieren, das Wasser sich mit einer Eisdecke überzog und uns Kinder gerade so tragen konnte, haben wir uns untergehakt und sind über das Eis gelaufen. Manchmal haben wir es auch zu wellenartigen Bewegungen gebracht und sind eingebrochen.

Die Taxifahrt ging weiter nach Tralau, wo wir einige Jahre gewohnt haben, weil der Vater von seiner Dienststelle hierher versetzt worden war. Unser Wohnhaus lag am Eingang des Ortes, am Lesker Weg, der inzwischen asphaltiert war. Unser Obst- und Gemüsegarten war nicht mehr, das Haus war zu einer Siedlerstelle umfunktioniert worden.

15 ha groß schien die allgemeine Größe einer Siedlerstelle zu sein, wie wir auch an anderen Stellen, so am Nachmittag in Simonsdorf, erfahren haben. Sie sind entstanden durch Teilung der großen Bauernhöfe und Landgüter. Die Siedlerstellen wirken alle ein wenig ärmlich. Die Häuser sind ausbesserungsbedürftig, die Höfe trist und es fehlen die für einen Siedler typischen Kleintiere wie Huhn, Ente, Gans und Schwein. Die Siedler klagten durchweg über fehlende Geräte und schlecht zu erhaltene Materialien.

Uns ehemalige "Landkinder" fiel auf, dass die Felder durchweg bestellt waren mit Getreide, Rüben, Kartoffeln, Mohn oder Mais, aber wir sahen auch, dass ein Großteil der Kornfelder mit wildem Mohn, Kornblumen oder Kamille durchsetzt waren. So ansehnlich diese Pflanzen sich im Freien präsentieren, in einem Kornfeld sind sie eigentlich fehl am Platze. Ich entsinne mich, dass wir als Schulkinder diese Kornfelder gegen ein willkommenes Taschengeld davon befreit haben. In breiter Front zogen wir durch diese Getreidefelder und haben den wilden Mohn, die Kornblumen, die Kamille und, wenn vorhanden, auch die Distel gezogen und am Feldrand abgelegt. Dadurch konnte der Bauer sein Korn in ziemlicher Reinheit ernten.

Bisher hatten wir nie Schwierigkeiten gehabt, mit den Polen ins Gespräch zu kommen, sei es, daß sie selbst Deutsch sprachen oder aber unser Taxifahrer dolmetschte. Das hat uns etwas erstaunt, weil uns die polnische Reisebegleitung zu Anfang der Fahrt vorsorglich, wenn nicht gar listig, darauf hingewiesen hatte, dass in den Landgebieten die dort lebenden polnischen Siedler Deutschen gegenüber sehr unfreundlich seien. "Das müßten wir Deutsche doch verstehen". Auch bereitete sie uns darauf vor, dass diese Polen bisher wenig an ihren Wohnhäusern getan hätten, weil sie zum Teil immer noch glaubten, eines Tages wieder weg zu müssen.

Über Leske, vorbei an der ehemaligen Badeanstalt in der Schwente, vorbei am Schützenhaus, erreichten wir Neuteich. Hier bin ich von 1937 bis 1942 zur Schule gegangen und hatte auch im Internat der Schule gewohnt. Inzwischen war es 13 Uhr geworden und wir wollten etwas für unser leibliches Wohl tun. Dank unseres gewandten Taxifahrers bekamen wir in Neuteich ein passables Menü und auch Getränke vorgesetzt, dabei Bier, weil es nach 13 Uhr war. Unser Esslokal war neben dem "Kino von Kapahnke" in dem ehemaligen Bekleidungsgeschäft.

Das "Deutsche Haus" an der Marktecke gegenüber steht nicht mehr. Verkaufswagen, der Platz davor sah ziemlich wüst aus. Direkt daneben die katholische Kirche, die gut gepflegt aussah, was im Grunde in Polen für alle katholischen Kirchen gilt. Hier in Neuteich steht ausnahmsweise auch noch die evangelische Kirche mitten auf dem Marktplatz, allerdings wird sie wohl nicht mehr ihrem ursprünglichen Zweck gemäß genutzt.

Unsere Schule war mit einem polnischen Reichsadler versehen, durfte also nicht fotografiert werden, wie uns die Reisebegleiterin bei der Einreise in Polen geraten hatte, um keine Unannehmlichkeiten zu bekommen; das gleiche gilt für Brücken, Kasernen, Hafenanlagen und überhaupt für alle offiziellen Gebäude. An der Ziegelei vorbei ging es über Eichwalde, Irrgang, Tragheim und Kalthof nach Marienburg. Simonsdorf war unser nächstes Ziel. Hier, wie überall in den Dörfern, sind keine wesentlichen Veränderungen festzustellen. Einige wenige Neubauten zwar, hier und da eine andere Verkehrsführung, ansonsten fanden wir uns noch sehr gut zurecht.

Wenn ich das Gesehene dieses ersten Tages im Großen Werder überdenke und weiß, dass unser Werder mit zu den Kornkammern des Deutschen Reiches zählte, dann vermute ich, dass heute im allgemeinen die Nutzfläche und der Viehbestand des Großen Werders nicht dem Umfang und der Bedeutung entsprechen wie zur deutschen Zeit.

Hierzu einige Bemerkungen zu den früheren Größen der Höfe und Güter im Großen Werder. Zwar rechnete man damals auch schon offiziell mit ar und ha, aber die Bauern und Gutsbesitzer bezeichneten die Größe ihrer Höfe und Güter nach Morgen und Hufe. Es gab badische, bayerische, preußische, kulmische und sächsische Morgen, alle in der Größe verschieden. Im Werder wurde in der Hauptsache nach preußischen Morgen gerechnet, dazu muss man wissen:
1 preuß. Morgen 25 ar
4 preuß. Morgen = 100 ar = 1 ha
60 preuß. Morgen = 6000 ar = 15 ha = 1 Hufe

Bei Größen nicht selten von 8-22 Hufen kann man den gewaltigen Unterschied zur Siedlerstelle und damit die bessere Wirtschaftlichkeit infolge höherer Ausnutzung mit größeren Einzelfeldern für das einzelne Saatgut ermessen.

Vergessen sei auch nicht die Vielzahl der Pflanzenwelt in und an den Gewässern, auf Wiesen und Feldern, die Vogelwelt am Frischen Haff und in Wald und Feld, die Sitten und Gebräuche, Spiele und Redensarten, die deftige Kost, die im Großen Werder auf den Tisch kam. Ich denke auch an die Hofmarken der Bauern, die zum Teil auf Runen der Germanen fußten und sich später vereinzelt zu Familienwappen entwickelten.

Vergessen sei auch nicht unsere Plattdeutsche Sprache im Werderland mit ihren vielen Sprüchen und Bauernregeln zum Wetter oder sonstigen Ereignissen: Die Bäume begossen zum 1. Mai, tragen Früchte soviel, wie sonst zwei. oder:
Dat olle Joahr es wedder hin,
Dat niege kommt heran,
Oh, wat ek doch so glicklich ben,
Dat ek noch wünsche kann.

Für den zweiten Tag im Werder hatten wir eine nördliche Route gewählt, die schon immer von den Danzigern bevorzugt wurde, wenn sie nach Bohnsack, Steegen, Stutthof, der Frischen Nehrung und dem Frischen Haff ihren Ausflug planten, sei es mit der Kleinbahn oder ,einem Bus. Am Morgen holte uns der Taxifahrer bei herrlichem Wetter direkt am Hotel Hevelius in Danzig ab.

Die Fähre Östlich-Neufähr war nicht in Betrieb. Wir mussten wenden und nahmen den Weg über die Pontonbrücke bei Bohnsack über die Tote Weichsel. In Schiewenhorst ließen wir uns über die Stromweichsel setzen. (Hier bei Schiewenhorst sind 1945 viele Flüchtlinge aus dem Werder von der deutschen Marine eingeschifft und gerettet worden, während die Rettungsaktion schon unter russischem Granatfeuer lag.)

Die Weichsel hat hier schon fast ihre breiteste Ausdehnung, und man sieht bereits die Öffnung zur Ostsee hin. Ein lauer Wind aus Nordost brachte uns schon den leisen salzigen Duft einer Seebrise in die Nase. Zur Linken den Kieferngürtel der Nehrung, durchfuhren wir Nickelswalde, Pasewark, Junkeracker und Steegen, alles Ortsnamen, die uns von Ausflügen oder Radtouren an Wochenenden oder in den Ferien in Erinnerung waren. Ganz besonders gespannt waren wir auf Steegen und Stutthof, wo wir sehr oft gezeltet haben, oder aber ganz einfach eine Hängematte von Baum zu Baum spannten, um darin zu nächtigen, zugedeckt mit einer Wolldecke und der Zeltplane.

Badende haben wir überall in der Ostsee gesehen. In Zoppot, an der Westerplatte, wie jetzt auch in Steegen und Stutthof, allerdings war im Gegensatz zu früher in Steegen Tang am Strand, was auf die von der Presse publik gemachte Verschrnutzung der Ostsee hinweist. Der Kieferngürtel der Nehrung ist heute allerdings total vermarktet. Der Waldstreifen zwischen der Ostsee und dem Festland ist durchsetzt von Ferienhäusern, Restaurants und Unterkünften für Feriengäste. Die einstige sprichwörtliche Ruhe und Behaglichkeit einer Idylle ist dahin, eine Oase der Erholung ist auch hier der ferienhungrigen Industriegesellschaft zum Opfer gefallen.

Ob wir es wohl besser gemacht hätten? Die Fahrt über Stutthof, Bodenwinkel, Vogelsang und Neue Welt bis hin zur russischen Grenze fiel einem wolkenbruchartigen Regen mit Blitz und Donner zum Opfer. Bei schönem Wetter kann man von Vogelsang oder Neue Welt und auf der anderen Seite des Frischen Haffs Elbing sehen. Diesmal lag eine dichte Regenwand davor, und das Frische Haff war sehr unruhig geworden.

Bodenwinkel: Mir fielen sofort wieder die gutschmeckenden Aalsuppen ein, die uns die Fischerfrauen bereitet hatten, wenn wir dort gezeltet haben, oder die frisch aus dem Räucherofen gekauften Aale und Flundern. Nicht zu vergessen Aal in Dillsoße, was anderntags auf der Speisekarte des "Lachs" in Danzig stand. Natürlich habe ich mir diese Köstlichkeit nicht entgehen lassen. Auch die Reisegesellschaft hatte uns einen Abend in den "Lachs" zum Forellenessen eingeladen.

Über Stutthof, Groschkenkamp, Holm, Tiegenort, Tiegenhof und die neue Weichselbrücke bei Rotebude/Käsemark ging es zurück nach Danzig. Diese Landschaft südlich von Stutthof mit ihren vielen Mündungsarmen, kleinen Brücken, Fähren und Kampen ist reizvoll anzusehen. Wir überquerten die Königsberger Weichsel, die Lasche, die Heckers Lake und die Elbinger Weichsel, die Tiege und Lienau. In Tiegenhof legten wir Pause ein. In Steegen haben wir zu Mittag gegessen. Unser Taxifahrer kannte alle Stellen, wo es für Fremde etwas zum Essen gibt, was zu dieser Zeit gar nicht so einfach war, weil die polnischen Schulkinder Ferien hatten und die Lokale und Restaurants ausgebucht waren. Und Vorrat darüber hinaus gab es scheinbar nicht. Am Ende der Fahrt wurden wir von unserem Taxifahrer mit Blumenampeln beschenkt und für das nächste Jahr von ihm zu einer erneuten Fahrt eingeladen; wir tauschten unsere Heimatanschriften und hatten das Gefühl, einen ereignisreichen Tag verbracht zu haben.

Das Fazit der Reise: Wir haben uns über die Fahrt in unser Großes Werder und Danzig gefreut, viele Erinnerungen aufgefrischt und die Erkenntnis gewonnen, dass unser Großes Werder, das Frische Haff mit der Frischen Nehrung, die Ostsee, Danzig mit Mottlau, Radaune und Weichsel, immer noch voller Faszination und eine Reise wert sind.

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Die Veröffentlichung dieses Artikels erfolgte mit freundlicher Genehmigung des "Bundes der Danziger" in Lübeck.

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Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang

Vodelp
18.07.2013, 13:49
Toller Bericht, daraus kann man gute Einblicke gewiesen wie es war und wie es ist.
Ich erinnere mich auch wie sehr ich es als Kind mochte einfach im Freien zu übernachten oder in der Hängematte draußen (http://haengemattenshop.com/outdoor-camping) zu schlafen. Heute wäre das nichts mehr für mich.

MeinEichwalde
20.07.2013, 14:11
Lieber Wolfgang,
sehr schön ausgesucht, danke !!
GEerade vorgestern habe ich mich mit ehemaligen Kommilitonen hier in Berlin Friedenau getroffen.Wir waren zu viert 1977 in der Heimat meiner Mutter, ich ging mit meinem Freund( dem Vater unseren Kinder später) ich war 22 Jahre alt, und wir waren mit dem Rad--- also ich ging mit ihm auf den Hof meines Grossvaters, dort empfingen mich die alten Arbeiter meines Grossvaters mit Ach wie das Evchen, weil ich meiner Mutter so ähnlich sehe.Sie hatten sie mit 16 jahren 1945 zuletzt gesehen.Da war sie so gross wie ich heute. Ich war überhaupt nicht politisch oder seelisch von meiner Familie vorbereitet worden. So dass ich un dmeine Freunde das nicht besprochen oder emotional eingeordnet haben. Auch vorgestern waren die politisch emotionalen Bedeutungen für eine (heute) #Proffessorin der Kunstgeschichte gebürtig aus Augsburg, und einen Antiquar gebürtig aus Westfalen, und auchdie anderen Gäste völlig unbekannt. Ein anderer Teil meiner Familie fuhr etwa um die gleiche Zeit dorthin. Es gab aber keinen Austausch darüber bis heute, eine VErklemmtheit in der Beurteilung der Geschehnisse,die mich hilflos zurückläßt bis heute. Heute weiss ich was die Ursache ist, es ist eine Herzlosigkeit und Kälte. Das konstatiere ich und ich bin wie immer auf der Suche nach den GEfühlen, die die Arbeiter, die in Polen geblieben waren, so unbefangen äusserte. Ich wurde dort mit meinem Freund eingeladen, sehr kurz aber doch. in grosser Selbstverständlichkeit.
Heute gibt es dort in Eichwalde keine Menschen mehr, die das machen könnten.Es gibt nur Angestellte der Firma Danko.Alle meine Gefühle sind wie ich heute weiss richtig, ich musste sie nur wieder finden und mit Fakten unterfüttern.
Auffällig war noch, dass auch die soziale Situation in Polen damals von uns unterschiedlich erinnert wurde.Von Lebensmittelmarken, mangelnder Fahrradreparaturmaterial, Fleischmangel, Alkoholismus der verschärften Art, und langen Wartezeiten beim Fahrradtransport von Berlin (West) nach Posen, ich vermute dass auch meine Freunde heute Europa nicht beurteilen können, oder ?
LG Eure Delia