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Wolfgang
03.11.2012, 11:27
Aus „Unser Danzig“, Ausgabe April 1955, Seite 8

Das große Wasser

von Otto Dirschauer / Ladekopp

Wenn wir Berichte hören über Hochwasser und Überschwemmungen, wird die Erinnerung an jene Zeit wach, als im Kampfe gegen die entfesselten Naturkräfte weder Rundfunk noch Hubschrauber noch Motorboote zur Verfügung standen. Vor hundert Jahren wurde das fruchtbare Große Werder infolge eines rechtsseitigen Deichbruchs nördlich der "Montauer Spitze" von der Weichsel überflutet.

In jedem Frühjahr, wenn die Eis- und Wasserstandsmeldungen vom Ober- und Mittellauf der Weichsel auch nur die geringste Gefahr befürchten ließen, zog die Eiswacht auf, und in den sonst so stillen Wachtbuden (Gasthäuser, die in regelmäßigen Abständen an der dem Lande zugekehrten Deichkronenkante erbaut worden waren) begann ein reges Leben. Da im Jahre 1855 die Nachrichten bedrohlich klangen, wurde vom Deichhauptmann die höchste Alarmstufe befohlen. Ständig waren Reiter unterwegs, deren geübtem Blick nicht das geringste entging und die jede Beobachtung unverzüglich dem Befehlsstande in der nächsten Wachtbude meldeten. Nachts dienten brennende Teertonnen als Lichtquellen und Signalapparate. Ununterbrochen rollten auf beiden Seiten des Stromes Fuhrwerke heran, beladen mit Sandsäcken, Faschinen (Reisigbündel) und Arbeiterkolonnen. Auf der Ostseite mußten Menschen und Material über ein etwa 50 km langes Beobachtungsgebiet

verteilt werden. Da das auf der Westseite gelegene Danziger Werder erst nördlich von Dirschau beginnt, war hier das Einsatzgebiet erheblich kürzer und infolgedessen die Lage der Eiswacht günstiger. Wie eine mächtige feindliche Angriffsmacht stürmten die Wasser- und Eismassen von Süden heran, stießen auf den Widerstand des noch nicht oder nur teilweise aufgebrochenen Eises, stauten sich und stiegen, sodass die weißen Köpfe der Eisblöcke über die Deichkronen hinweg schauten, Spähern vor einem Angriff gleich.

In der zweiten Phase ging der Feind dazu über, die Abwehrfront abzutasten und bald

hier, bald dort vorzustoßen, um die Stelle des geringsten Widerstandes zu suchen. Doch die Eiswacht war auf dem Posten und riegelte alle Einbrüche ab.

Dann aber kam der Großangriff. Als die Gefahr erkannt worden war, wurde an Menschen und Material alles eingesetzt, was erreichbar war. Ein erbittertes Ringen begann. Stundenlang, pausenlos, zäh und unerbittlich griff der Gegner an und gewann allmählich an Boden. War eine Bresche abgedichtet, hatte der wilde Strom schon zwei neue geschlagen. Wie die Köpfe der Hydra wuchs die Zahl der Einbruchstellen. Menschen und Pferde gaben ihre letzte Kraft her, nicht selten einen Meter tief im Wasser stehend. Doch die Naturgewalt sollte Sieger bleiben gegenüber dem, was Menschen einzusetzen hatten: Geist, physische Kraft, Material und – Heimatliebe.

Ganz plötzlich, obwohl nicht unerwartet, trat die Katastrophe ein. Auf einmal fehlte

ein Stück im Deich, und durch die Lücke ergossen sich unaufhaltsam ungeheure Wasserrnassen ins Große Werder.

Nahe der Bruchstelle stand ein stattlicher Werderhof. Der Besitzer hatte im letzten

Augenblick seine besten Pferde angespannt und hielt vor dem Tor. Er wartete auf seine Frau, die noch irgend etwas retten wollte und trotz seinem Protest noch einmal ins Wohnhaus gestürzt war. Mit gefüllter Schürze trat sie in dem Augenblick aus der Tür, als der Damm brach. In höchster Not erkletterte sie einen Torpfeiler; aber sie konnte dem Tode nur Sekunden abringen. Wie wenn die Sense einen Schwaden legt, so wurde der Hof weggefegt. Die Leiche der Frau ist niemals gefunden worden. Ihr Mann entging nur dadurch dem Tode, dass die Pferde wild wurden und mit ihm durchgingen.

In diesem Augenblick jagten ' die Meldereiter los. Ihre Aufgabe war: "Wasser ansagen." - Einer von ihnen war mein Großvater, der damals im 30. Lebensjahr stand. Sein vorgeschriebener Weg führte ihn nach Norden bis über Neuteich hinaus. Unablässig gellte in allen Ortschaften, die er durchritt, sein Warnruf: "Dat Woter kemmt!"

Die Kräfte des Pferdes durften nicht vorzeitig erschöpft werden, und so kam es, dass der verfolgende Feind seine Finger nach Ross und Reiter ausstreckte. Zuerst füllten sich die Gräben mehr und mehr mit Wasser. Dann wurden aus ihnen Teiche, Seen, die die angrenzenden Ländereien bedeckten, und schließlich .überspülte das Wasser auch die etwas höher gelegenen Straßen, stieg und stieg.

Auf schweißbedecktem Pferde erreichte mein Großvater sein Ziel, nachdem er mit dem Tode um die Wette geritten war, und als das Wasser Türen und Fenster eindrückte, waren die letzten noch verbliebenen Arbeiten, denen ein woh1durchdachter Plan zugrunde lag, getan. Der sonst im Gebälk der Scheune untergebrachte Kahn schaukelte auf dem Wasser, scheinbar vergnügt darüber, endlich in seinem Element zu sein, ·und Menschen und Haustiere hatten für Wochen ihre Wohnung auf Haus- und Stallböden verlegt.

Beim Höchststand des Wassers wurde auf Großvaters Anwesen sogar der Aufenthalt auf dem Boden zu einer feuchten Angelegenheit. Und an diesem Tage geschah es, dass sich unter den vorbeitreibenden Dingen auch ein kleiner Dachboden befand. Darauf stand, an eine Wiege angebunden - gleichsam als Wächter -, eine Ziege und naschte unbekümmert und ahnungslos von einem Bund Heu. Mein Großvater pflegte gerade der wohlverdienten Ruhe, und meine Großmutter bemerkte die Wiege erst, als sie auf gleicher Höhe trieb. Auf ihren Alarmruf sprang mein Großvater jedoch schnell ins Boot und ruderte aus Leibeskräften. Indem er die Uneinheitlichkeit der Strömung geschickt ausnutzte, gelang es ihm mit vieler Mühe, das Unglücksfahrzeug zu überholen. Als es dann an ihm vorüber trieb, griff er mit der linken Hand zu, erwischte den Säugling am Arm und riss ihn ins Boot - aber auch aus seinem süßen Träumen, was dieser natürlich übel nahm. Die Ziege meckerte einmal kurz und vorwurfsvoll, vergaß bei vollem Maul das Kauen und schaute verdutzt zurück. Sie konnte leider nicht gerettet werden und wird wohl ihr Wellengrab gefunden haben.

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