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Wolfgang
25.12.2012, 22:57
Aus "Unser Danzig", Nr. 2 vom 20.01.1963, Seiten 9-10

Heimat im Winterkleid
von Kurt Bartels

Dem goldenen Herbst, den wir so liebten, weil er den Früchten die letzte Reife gab, weil er der Natur vor ihrem Winterschlaf ihr prächtigstes Farbenkleid verlieh, folgte der andere Herbst. Er kam mit dräuendem Nordweststurm, der unaufhörlich Regenwolken vor sich her trieb. Die manchmal wochenlang herabrieselnden Wassermassen verwandelten in dem schweren Boden des Danziger Werders die unbefestigten Zufahrten zu den oft abgelegenen Gehöften in fast grundlose Wege. Wehe dem Bauern, der jetzt noch Zuckerrüben auf den Feldern hatte! Oft war es einfach nicht möglich, sie zu· den Lastkähnen an der Königsberger oder Elbinger Weichsel zu bringen.

Groß und Klein atmete auf, wenn bei einem Mondwechsel der Wind nach Osten umsprang. Nun wussten wir, dass in wenigen Tagen, vielleicht schon in der nächsten Nacht, die trockene Kälte aus den Weiten des Ostens uns erreichen würde. Dann würden bald die Gräben, Bäche und Flüsse zugefroren sein und für uns Kinder die ersten Winterfreuden beginnen. Wir überprüften die Schärfe unserer Schlittschuhe und warteten ungeduldig darauf, dass der Frost noch stärker würde. Wie es mit ,Kindern nun mal ist, die meisten können nicht die Zeit abwarten, und beim Probieren, ob das Eis wohl schon trüge, gab es dann sehr oft nasse Füße. Die Unvorsichtigsten rutschten manchmal sogar bis unter die Arme ins Wasser. Zu Hause angekommen wollten wir' dann nichts von unserem Reinfall merken lassen. Aber damit kamen wir bei unseren Eltern schlecht an. Auf Strümpfen mussten wir über den Fußboden gehen. Hinterließen wir dann feuchte Spuren, so setzte es eine Tracht Prügel, oder - was schlimmer war - wir durften am nächsten Tag nicht aufs Eis.

Nun, die Natur hatte ein Einsehen mit uns; schon nach einer Woche trugen nicht nur die Gräben, sondern auch die Königsberger Weichsel und das Frische Haff. Jetzt konnten wir am Vormittag kaum das Ende der Schulzeit abwarten. Im Laufschritt ging es nach Hause, in aller Eile wurde das Mittagessen eingenommen, auf dem breiten Graben wurden die Schlittschuhe untergeschnallt, und schon nach wenigen Minuten waren wir an der Weichsel. Dort erwartete uns meistens Herr Schröder, einer unserer Lehrer, der uns in den Anfangsgründen des Kunstlaufens unterrichtete. Den meisten von uns verging hierbei allerdings sehr schnell die Lust, und wir taten uns rasch zu einem zünftigen Eishockeyspiel zusammen. Nach Einbruch der Dunkelheit humpelten wir dann mit angeschlagenen Knöcheln und Schienbeinen nach Hause.

Machte uns der klare Frost täglich aufs Neue eine Freude, so bangten die Bauern um ihre Wintersaaten. Sie waren erst froh und freuten sich des Winters, wenn eine dicke Schneedecke auf Ackern und Fluren lag.

Beim ersten Schneefall waren wir Kinder meistens sehr traurig, denn nun war das Eislaufen zu Ende. Nach wenigen Stunden herrschte bei uns aber schon wieder eitel Freude, denn jetzt kam der Rodelschlitten zur Geltung. Alle paar Minuten fuhr auf der Hauptstraße, die von Stutthof nach Danzig führte, ein Schlittengespann vorbei. Wir sahen es dem Kutscher schon an, ob wir unseren Rodel hinten anhängen durften oder nicht. Es bedurfte nur eines Augenzwinkerns und schon waren drei bis fünf Schlitten hintereinander verkoppelt. Bis zum Galgenberg, der kurz vor Steegen liegt, ließen wir uns mitnehmen. Weiter mitzufahren war nicht ratsam, denn dort begann das Revier der Steegener Jungen. In ihrem Dorf waren sie meistens die Überlegenen. Wenn wir Glück hatten, nahm uns ein entgegenkommender Schlitten wieder mit; wenn nicht, dann spannten wir Großen uns vor die Rodel und zogen die Kleinen nach Hause. Am schönsten aber war es, wenn uns Onkel Prang, der Postfahrer, am Sonntag für eine Rodelpartie ein Pferd auslieh. Dann gab es für uns nur ein Ziel, durch den wunderschönen Winterwald zur Ostsee zu fahren. Erst hier, in der Ruhe des Waldes kam das Schellengeläut richtig zur Geltung, weithin war sein Klingen zu hören.

War der Werder eine weite Ebene, die weder von Berg noch von Hügel unterbrochen wurde, so wies der Waldstreifen, der sich rechts der Hauptstraße von Stutthof nach Nickelswalde hinzog, für unsere Begriffe doch recht beträchtliche Erhebungen auf. Auf einem der höchsten dieser Berge hatten unsere rührigen Gemeindeväter eine Rodelbahn anlegen lassen. Neben diesem Berg brachten wir unser Pferd zum Stehen und wickelten es in einen dicken Woilach. Als wir Rangen dann schnaufend unsern Rodelberg erstiegen hatten, sauste einer natürlich als erster den schönen Abhang hinunter, aber leider ohne Schlitten! Einige böse Buben hatten am Vorabend die Rodelbahn unter Wasser gesetzt, und sie glich jetzt einer schrägen Eisbahn. Saß man, wenn man oben war, nicht sofort auf einem Schlitten, dann bedurfte es nur eines geringen Anstoßes und schon ging es auf dem Hosenboden bergab. Unten angekommen waren in der Hose dann meistens zwei handtellergroße Löcher. Das letzte Wort dazu sagten dann die Eltern.

Am Sonntag Nachmittag war hier oft so viel Betrieb, dass wir schon nach einer Stunde zu rodeln aufhörten. Der Braune wartete bereits ungeduldig auf uns, er fiel sofort in einen flotten Trab, und bald hatten wir die dem Ostseestrand vorgelagerten Dünen erreicht. Hörten wir im Sommer schon von weither das Rauschen der Brandung, so blieb nun alles ruhig. Es war für uns ein wenig befremdend, aber gleich sollten wir die Ursache erfahren. Als wir den Strand erreichten, glaubten wir uns in eine Märchenwelt versetzt. Soweit das Auge reichte, schien die gesamte Danziger Bucht nur aus bizarren Eisgebilden zu bestehen. Nur in extrem kalten Wintern kam es dazu, dass die Bucht zufror bzw. sich mit Eis dichtschob.

Als die Sonne blutrot im .Westen versank, wurde es Zeit, an den Heimweg zu denken. Schnell ging es nun in der Abenddämmerung durch den Winterwald nach Haus. Der Schnee bekam eine bläuliche Farbe, und unsere Phantasie ließ Baum und Strauch zu Märchenfiguren verschmelzen.

Unsere Heimat war unsagbar schön auch im Winterkleid.

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