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Wolfgang
27.12.2012, 17:32
Aus "Unser Danzig", Nr. 6 vom 20.03.1963, Seiten 9-10

Im Bannkreis der Heimat
von Gustav Penner

Die nachfolgenden Fotos vom Bauernhof Penner, Einlage, wurden vor einiger Zeit von einem polnischen Landarbeiter seinem ehemaligen Arbeitgeber Erich Penner, früher in Einlage wohnend, aus Einlage, Weichsel, zugeschickt. Sie zeigen Wohnhaus und Stall des Bauernhofes zwischen Einlager Schleuse und Weichseldamm, Durchstich, nach 15 Jahren polnischer Verwaltung.

Bei Betrachtung dieser Bilder steigen Erinnerungen auf, die im engsten Zusammenhang stehen mit früheren Friedensjahren und hauptsächlich mit unserer Flucht. Häufig sind wir in Friedenszeiten in Einlage zu Besuch gewesen. Wunderbar war die Fahrt dorthin auf dem Weichseldamm mit dem weiten Blick auf das Werderland und den Weichseldurchstich bei Nickelswalde mit der Ostsee im Hintergrund. Als letzter Rettungsanker wurde uns jedoch der Hof in Einlage bei unserer Flucht aus der Heimat, die absonderlich genug war. Immer wieder versuchten wir es, fortzukommen und nahmen Abschied von der Heimat. Doch immer wieder kehrten wir zu ihr zurück, froh und glücklich, dass es so war. Die Heimat hielt uns fest mit unsichtbaren Banden; doch die endgültige Abschiedsstunde schlug auch für uns.

Vom Beginn der Flucht unseres Heimatkreises Großes Werder erfuhr ich als Wehrmachtangehöriger in Danzig, nachdem ich einige Zeit vorher noch Pferdeankäufe in Altfelde, Riesenburg und Deutsch Eylau getätigt hatte. Nun erhielt ich kurzen Urlaub und eilte zu Fuß oder per Anhalter dem heimatlichen Dorf Neukirch zu. Schon auf der Straße Danzig - Marienburg kamen mir Flüchtlinge aus Elbing entgegen. In Schöneberg wurde gerade der Schnapsladen von Groß „verparzelliert". Ich erhielt von einem Bekannten eine Flasche Weinbrand und trudelte auf hochbeladenem Flüchtlings-LKW als Anhalter in Neukirch ein. Meine Familie war schon geflüchtet. Ich setzte mich in Richtung Dirschau in Marsch, und da kam meine Familie wieder zurück. Wir trafen uns schon in Palschau. Es war keine Möglichkeit, über die Weichsel zu gelangen, alles war von Flüchtlingswagen verstopft. Jedenfalls hatten wir uns dadurch wiedergefunden und kehrten auf unsern Hof zurück. Ein Versuch am nächsten Tag, in Schöneberg oder Rotebude die Weichsel zu überqueren, scheiterte ebenfalls aus den genannten Gründen.

Nun waren wir zwangsweise genötigt, in der Heimat zu bleiben. Der Russe ging zunächst nicht weiter vor, und so haben wir zu Hause bei dem starken Frost und Schneewetter schöne ruhige Tage verlebt. Nur die großen Brände längs der Nogat waren stark beunruhigend.

Unterdessen ging das Leben seinen alten Gang. Die meisten Einwohner, besonders die Landarbeiter, waren geblieben, ebenfalls die vielen russischen Arbeiter. Das Vieh wurde gefüttert, die Bäckerei und die Großmolkerei hielten ihren Betrieb aufrecht. Es wurde geschlachtet, und jeder Einwohner erhielt die Menge Fleisch, die ihm auf Karten zustand. Der Laden von Reich war geplündert, der kleine Laden von Friesen jedoch war unversehrt. Die dort vorrätige Ware wurde an die arme Bevölkerung des Dorfes verteilt. Auf Wunsch der Einwohner fungierte ich gewissermaßen als Ortskommandant, da alle Behörden fort waren.

Abends kamen die Nachbarn zusammen und besprachen die Lage. Immer rechneten wir mit der baldigen Ankunft der Russen, die aber noch ausblieben. Dafür aber kehrten die Behörden wieder zurück, und auch die Wehrmacht bezog im Ort Quartier. Es war eine motorisierte Proviantkolonne, die hauptsächlich aus den Depots im Marienburger Schloss Lebensmittel und auch Sprit rausholte. Wir erhielten aber auch kleinere Mengen davon. Da die Hühner fleißig legten, haben wir uns von einem Spezialisten der Wehrmacht Eiercognak fabrizieren lassen.

Offiziell war unser Fluchtziel die Danziger Höhe, und viele Neukircher hatten sich auch bereits dahin begeben. Allmählich machten auch wir uns damit vertraut, dorthin zu ziehen. So ging es schließlich mit einigen Nachbarn zusammen über die Dirschauer Eisenbahnbrücke, über Hohenstein, Sobbowitz nach Schwarzenfelde, wo wir auch leidliches Quartier erhielten. Von Zeit zu Zeit besuchte ich jedoch per Rad über die Weichselfähre Palschau das Heimatdorf und holte mir dort Proviant und Neuigkeiten über die Lage. Es war alles in bester Ordnung. Mein Vater, 81 Jahre alt, der nicht mitfliehen wollte, sorgte für die nötige Ordnung, sogar Radio und Telefon waren noch in Betrieb.

Nur auf der Danziger Höhe begann es zu kriseln. Wir sollten dort die Quartiere räumen. Aber wohin? Der Russe war bald in Stettin. Da beschlossen wir und ein Nachbar: Zurück nach Neukirch! Vorher jedoch wollten wir unser Flüchtlingsgepäck in Einlage bei meinem Vetter Erich Penner einlagern. Die Reise ging über Stüblau. Hier entließen wir unsere Töchter; sie sollten über die Palschau-Fähre nach Hause eilen und dort Ordnung schaffen, bis wir hinkamen. Wir zogen längs der Weichsel nach Einlage, ließen dort unser Gepäck, und kehrten dann am nächsten Tag über Rotebude nach Neukirch zurück.

Hier hatten die Töchter den Haushalt wieder leidlich in Ordnung gebracht. Sonst war noch alles in bester Verfassung, als hätte es keine Flucht gegeben. Diese ganze Angelegenheit dauerte etwa vom 17. Januar bis 10. März 1945. Die Behörden waren wieder in Tätigkeit. Es wurde offiziell darauf hingewiesen, an die Bestellung der Äcker zu denken und das Saatgut bereit zu halten. Die Wehrmacht lud sogar zu einem Kintoppabend ein. Der Saal war proppevoll und niemand dachte mehr an den Russen. Zum Ende der Vorstellung aber gab es eine gewisse Unruhe, Soldaten kamen und gingen, und es schien etwas im Gang zu sein. Bald darauf hörte man, der Russe sei im Anmarsch und es sei ratsam, sich noch über Nacht oder spätestens am nächsten Morgen nach dem Westen über die Weichsel abzusetzen. Wir fassten kurz den Entschluss, über die Weichselbrücke in Dirschau stromabwärts nach Einlage zu ziehen. Wir schafften diese Strecke in einer Nacht. Um die Eisenbahnbrücke in Dirschau war es totenstill, nichts Lebendes war dort zu bemerken. Bald darauf muss die Brücke in die Luft geflogen sein.

Nun waren wir wohlbehalten bei meinem Vetter angekommen und dort gut untergebracht. Ich versuchte noch einmal per Rad über Nickelswalde - Fürstenwerder nach Neukirch zu gelangen. Bis Schöneberg (Post) - noch fünf Kilometer bis Neukirch - kam ich. Da wurde mir jedoch von Schönebergern geraten, nicht weiterzufahren, der Russe stehe schon bei Neunhuben und könne mir leicht den Rückweg verlegen. Unverrichteter Sache kehrte ich wieder nach Einlage zurück. Jetzt war ich mir voll bewusst: Die Heimat kann nicht mehr gerettet werden.

Einige Wochen haben wir ab 10. März noch in Einlage in Ruhe verleben dürfen. Der ältere Bruder meines Vetters, Johannes Penner, Neuteicherhinterfeld, und Frau kehrten auf seinem Fluchtwagen schwerkrank in Einlage ein. Bald darauf starb er und wurde in dem kleinen Park in der Nähe der Schleuse begraben.

Nach und nach wurde die militärische Lage auch in Einlage unhaltbar. Die russischen Flieger bearbeiteten die Gegend mit Bordwaffen. Eine Granate flog durch das Giebelfenster in eine Pelzdecke und explodierte nicht. Der Schienenstrang der Kleinbahn auf den Schleusentoren erhielt einen Volltreffer. Der Schaden konnte jedoch bald wieder behoben werden. Granaten schlugen häufig in der Gegend ein. Ein Entschluss musste gefasst werden, was weiter geschehen solle.

Die einzige gangbare Möglichkeit war: Überseetransport über Hela. Unter großen Gefahren ging der Fluchtweg über Danzig - Westlich Neufähr - Hela und weiter mit Seeschiff über See - Richtung Holstein.

Ich selbst hatte schon vor einigen Wochen den Wehrmachtentlassungsschein in der Tasche und erwartete den Russen in Danzig im Raiffeisenhaus; ich wollte der Heimat die Treue halten. Der Russe hat mir nichts getan. Nur die übliche Ausplünderung - Uhr usw. - fand bei mir statt, und dann wurden mir einige Male die Stiefel umgetauscht. Zuletzt hatte ich Wehrmachtswinterstiefel an den Füßen. Nachdem ich mich bei Bekannten in Langfuhr einige Wochen herumgedrückt hatte, schnappte mich die polnische Miliz.

Sie sperrte mich neun Monate im Gefängnis Schießstange ein. Typhus und Hunger verwandelten mich dort in ein Knochengerüst. Mir kommt es wie ein Wunder vor, dass ich heute noch lebe. Mein Vater wurde zu Hause von den Russen erschossen.

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Wolfgang
27.12.2012, 17:57
Schönen guten Abend,

über seine Inhaftierung auf Schießstange berichtet Gustav Penner in "Polnischer Gefangener auf Schießstange" (http://forum.danzig.de/showthread.php?9360-Gustav-Penner-Polnischer-Gefangener-auf-Schie%DFstange)

Viele Grüße aus dem Werder
Wolfgang