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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Der Weichseldurchstich 1895 zwischen Schiewenhorst und Nickelswalde



Wolfgang
06.01.2013, 12:51
Aus "Unser Danzig", Nr. 10 von Pfingsten 1964, Seite 9

Der Durchstich bei Schiewenhorst
von Bruno Schmidt

Im Zuge der Regulierungsarbeiten am Weichselstrom zur Verminderung der Gefahren bei Hochwasser, Eisgang und Überschwemmungen im Weichseldelta wurden 1883 der Preußischen Akademie für Bauwesen zwei Entwürfe vorgelegt, auf Grund deren sie ein Gutachten abgab. Demgemäß wurde u.a. für die Weichsel ein Durchstich durch die Danziger Binnennehrung zwischen Schiewenhorst und Nickelswalde empfohlen. Im Jahre 1891 wurde mit der Durchführung dieser Baumaßnahme begonnen. Durch den 7,1 km langen Durchstich sollte der Weichsellauf um weitere 10 km verkürzt werden. Die Strombreite wurde mit 250 bis 400 Meter gewählt und der Deichabstand mit 900 bis 750 Meter, sich verjüngend. Man brauchte den neuen Wasserweg nur teilweise auszuheben. Die Dünenstrecke sollte hierbei wegen ihrer lockeren Sandmassen in der Hauptsache vom Strom selbst entfernt werden. Auf diesem Bauabschnitt wurden daher nur ein 50 Meter breiter Leitgraben von 1400 Meter Länge ausgehoben, und zwar an einer Stelle, wo die Düne nur 9 Meter hoch war. Die Nachbarhügel lagen dagegen 20 bis 21 Meter hoch über dem Meeresspiegel.

67 Wohnhäuser, 25 Wirtschaftsgebäude und 700 ha fruchtbarer Niederungsboden mussten für die Bauausführung erworben werden. Ein umfangreicher Gerätepark, der nach dem Bau des Nordostseekanals (Kaiser-Wilhelm-Kanals) frei geworden war und nun zur Verfügung stand, wurde bei Schiewenhorst eingesetzt. Es waren 7,2 Millionen Kubikmeter Boden in trockener Baugrube mit Grundwasserabsenkung auszuheben, mit Feldbahnen zu bewegen und dann zu verbauen sowie 240.000 Stück Rundpfähle, 188.600 Kubikmeter Steine und 300.000 Kubikmeter Faschinen einzubauen.

Im Sommer 1894 konnte der große Stromdeich, der die Weichsel vom neuen Bett trennte, abgetragen werden. Am 6.11.1894 wurde der letzte Schutzdamm durchstoßen, womit dann das Wasser in die Baugrube eingelassen wurde. Der Eisgang 1895 wurde am 27. März noch durch das alte Flussbett gelassen, aber das folgende Frühjahrshochwasser am 31. März durch die neue Strommündung geschickt. Bei einem Wasserstand von 4,53 Meter über dem Meeresspiegel erfolgte um 15:45 Uhr der Durchstich. Am andern Morgen, dem 1. April 1895, hatte sich der Leitgraben durch die Strömung schon auf 300 Meter verbreitert. In 16 Stunden waren durch die Kraft des Wasserstromes etwa 2 Millionen Kubikmeter Dünensand in die Ostsee befördert worden. 55 Jahre nach dem Durchbruch von Neufähr hatte die Weichsel damit wiederum eine neue, dieses Mal aber wohl für lange Zeit bleibende Ausmündung erhalten.

Im Zuge der Bauarbeiten mussten Schleusenanlagen auf der westlichen Seite bei Einlage gebaut werden, wo der tot gelegte Arm der Danziger Weichsel abzweigte. Die Schleuse wurde ab 1890 in Beton mit Klinker- und Granitverblendung hergestellt. Die Hauptkammer war 12,50 Meter breit und 61 Meter lang. Diese Schiffahrtsanlagen kosteten allein 5,6 Millionen Mark; die Gesamtkosten des Weichseldurchstichs mit Nebenbaumaßnahmen haben 20,2 Millionen Mark betragen.

Zu erwähnen ist, dass die Ablagerungen der Sinkstoffe, die die Weichsel mit sich führte, sich nach dem Durchstich von 1895 nunmehr ausschließlich vor dieser Stelle vollzogen. Nach Weissker hatten diese Ablagerungen in der Zeit von 1895 bis 1929 einen Umfang von 56,7 Millionen Kubikmetern, wovon allein auf die Zeit des großen Frühjahrshochwassers von 1924, als die Hochwasserwellen von Weichsel, Bug und Narew gleichzeitig zusammentrafen, 17,424 Millionen Kubikmeter entfallen. Dadurch hat sich die Strandlinie bis 1929 auf der Westseite um 1100 Meter und auf der Ostseite um 800 Meter vorgeschoben. Auf der Westseite mussten in den Jahren 1907 und 1924 Leitwerke und auf der Ostseite in den Jahren 1897, 1899 und 1911 Molen gebaut werden.

Durch den Weichseldurchbruch und den Durchstich ist die Weichsel - und damit der Weg der Hochwasser und der Eisgänge - also insgesamt um 24 km verkürzt und das Abflussgefälle des Stromes entsprechend verstärkt worden, so dass sich die Überschwemmungsgefahren für das Weichseldelta künftig ganz wesentlich verringerten. Die Bewohner der fruchtbaren Niederungen aber konnten seitdem dem Hochwasser und dem Eisgang auf der Weichsel erheblich ruhiger entgegensehen als einst ihre Vorfahren.

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Wolfgang
06.01.2013, 13:03
Aus "Unser Danzig", Nr. 10 von Pfingsten 1964, Seite 10

Die dritte Mündung der Weichsel
von Ludwig Pietsch

Längst schon ist die Weichsel nicht mehr der einzige oder der Hauptweg, auf dem die Weizenmassen aus Polen nach Danzig gelangten, um hier an die großen Händler verkauft und auf die Seeschiffe verladen zu werden. Die Eisenbahnen haben den Strom entlastet, und zugleich hat der Getreidehandel Russisch-Polens mit dem Ausland andere Wege als nach den preußischen Häfen eingeschlagen. Ehedem kamen die mit den Weizenlasten beladenen großen Flöße, die "Eitynnen", die Weichsel herab bis zu diesen Uferstrecken, wo sie ausgeladen und aufgeschüttet wurden, um dort Wochen und Monate zu lagern. Das malerische, zigeunerische Volk der "Flissen" führte zumeist diese Flöße und hatte dann bis zum Verkauf des Weizens und der Flöße ein seltsames Biwakleben neben den Körnerhaufen, die immer wieder umgeschaufelt werden mussten. Um ein Wachtfeuer, auf dem jene ihr bescheidenes Mittag- und Abendessen kochten, lagerten diese bedürfnislosen, braunen Leute auf Stroh und vergnügten sich mit Geigenspiel und Tänzen, wenn sie nicht mit dem Ausladen und Schaufeln beschäftigt waren oder nicht in der Stadt herumstreiften, um dem jungen Danzig die mit primitiven Brandmustern geschmückten Stöcke gegen blanke Knöpfe zu verhandeln.

Drüben auf dem nördlichen Ufer, wo an dem Strom einzelne niedrige Bauern-, Schiffer- und Wirtshäuser von echt holländischem Typus mit geschorenen, niedrigen Lindenbäumen vor der Fassade meist in weiten Zwischenräumen voneinander liegen, schließt schon in nicht eben weiter Ferne die mit dunklem Kiefergehölz bestandene Dünenkette der "Nehrung" den Horizont. Den Landschaftsbildern am linken, südlichen Ufer gibt die Erscheinung des alten Danzig mit seinen so mannigfach gestalteten, schlanken und schweren, wuchtigen, emporragenden Türmen und steilen Dächern, die sich dort in mäßiger Entfernung immer wieder verschieben, ein besonderes Gepräge.

Allmählich sind wir in die Nähe jenes alten Durchbruchs der Weichsel bei Neufähr gelangt, der sich in der letzten Januarnacht 1840 durch die Gewalt des Hochwassers und der Eisschollen vollzog. Hier bei der Uferortschaft Plehnendorf sperrt die nach ihm benannte alte Schleuse, die damals durch jenen Durchbruch zum Meere "tot" gemachte westlichste Strecke der Danziger Weichsel gegen deren östlichen Teil ab. Diese Schleuse öffnete ihre Tore für unseren Dampfer, und bald schwammen wir, Neufähr mit seiner Mündung zur Linken lassend, weiter gegen Osten hin weichselaufwärts, dem "Danziger Haupt" entgegen. Mehr und mehr näherten wir uns dem neuen, großen Schleusensystem bei dem Uferdorf Einlage, jenem bewundernswerten Werk der Wasserbaukunst, das der künstliche Durchstich notwendig gemacht hatte. Zehn Kilometer beträgt die Weichselstrecke zwischen der Plehnendorfer und dieser Schleuse. Sie ist eine Doppelanlage, die aus zwei nebeneinander gelegenen Schleusen, einer sogenannten "Kammerschleuse" für das Durchpassieren von Schiffen und einer "Floßschleuse" für die großen Holzflöße besteht. Beide Tore sind fest und hoch genug, um auch bei höchstem Wasserstand und stärkstem Eisgang das Eindringen der Flut und der Schollen in die tote Danziger Weichsel unmöglich zu machen, während durch ihre Anlage die Schiffsverbindung nach und von Danzig, von und nach Elbing und Königsberg offengehalten wird.

Im Eingang der Kammerschleuse legte der Dampfer an, und wir verließen ihn, um die ganze Anlage sowie die der Floßschleuse in der Nähe anzusehen. Die Tore liegen in der Fluchtlinie des neuen Weichseldeichs unter Drehbrücken, die ebenso wie die Tore hydraulisch durch innerhalb des Mauerwerks der Schleusenwände verlegte Wasserdruckmaschinen mit größter Leichtigkeit und Sicherheit bewegt werden. Vor den Toren der Kammerschleuse ist an der Stromseite ein geräumiger Hafen angelegt. Die Wasserspiegelhöhe in dem Hauptstrom und in der Toten Weichsel ist nicht die gleiche. Durch die Kammerschleuse aber wird der Wasserstand in der Kammer zwischen den geschlossenen Toren an ihren beiden Enden mittels des Ein- und Auslassens von Wasser durch die im Mauerwerk befindlichen Kanäle, die "Umläufe", je nach Bedarf gehoben oder gesenkt, so dass die Fahrzeuge fast unmerklich aus der einen in die andere Wasserhöhe hinüber gleiten können. Die Floßschleuse bedarf nur der Tore an dem östlichen Eingang aus der großen Weichsel. Sobald sie geöffnet sind, führt die natürliche Strömung die Flöße aus ihr in die niedrig gelegene Tote Weichsel hinab.

Von der Höhe der Drehbrücke über die Kammerschleuse bei dem Wärterhäuschen überblicken wir nun das ganze gewaltige Werk der Stromregulierung und der neuen Mündung des sich jetzt ungehemmt in nördlicher Richtung ins offene Meer ergießenden Stromes. Dort, am Fuße der durchstochenen Nehrungsdüne, nahe der neuen Mündung am rechten Stromufer wird, die Häuser des Dorfes überragend, die Windmühle von Nickelswalde sichtbar, in deren Gehöft Königin Luise auf ihrer traurigen Reise nach Memel im Winter 1806 übernachtet haben soll. Damals lag es weit ab von der Weichsel, und der hohe Dünenwall trennte es vom Meer. Heute wälzt der Strom hart an ihm vorüber seine Fluten, und nichts hemmt den Blick von dieser Mühle aus auf die offene See. 7,5 km von hier oberhalb am Strom bei dem Dorfe Siedlersfähr begann der Durchstich, für dessen Bewerkstelligung zunächst ein Landstreifen von eben dieser Länge und über einen Kilometer Breite, auf dem sich 67 Wohnhäuser und 26 Wirtschaftsgebäude befanden, angekauft werden musste. Mit der Aushebung dieses ganzen Geländes für das neue Strombett wurde gleichzeitig die Verlegung des viel zu nah am Strom gelegenen linken Uferdeiches auf einer Strecke von zehn Kilometer Länge vom Beginn des Durchstiches bis zum Dorfe Gemlitz auf einer weiter westlich abliegenden Linie ausgeführt. Dadurch wurde schon auf dieser ganzen Strecke ein Flutprofil von 900 Meter Breite geschaffen.

Vom Durchbruch bei Neufähr her wusste man, was der Strom ohne menschliche Beihilfe zu vollbringen vermag. Um ihm sein neues Bett zu schaffen, mussten zwischen Siedlersfähr und der Düne acht Millionen dreihunderttausend Kubikmeter Erde ausgeschachtet werden. Das hätte, da man auf zehn Handkarren kaum zehn Kubikmeter Erde unterbringen kann, mithin 83 Millionen solcher Ladungen betragen. Durch Menschenkraft war diese Arbeit nicht zu vollbringen. Große Trockenbaggermaschinen mussten an deren Stelle treten. Sieben von ihnen waren gleichzeitig in Tätigkeit, von denen jede mit der an einer vorgestreckten Kette befestigten und durch Dampfkraft bewegten Schaufeleimer täglich 2000 Kubikmeter Erde aushob. Kleine, von Lokomotiven gezogene Eisenbahnwagen nahmen diese Massen auf und trugen sie dahin, wo sie zur Auffüllung der neuen, breiten Deiche verwendet wurden. Der Boden der so geschaffenen ungeheuren Baugruben zwischen Siedlersfähr und der Düne, die gegen den Strom durch den alten nördlichen Deich des bisherigen Laufes der Danziger Weichsel, gegen die See hin durch die noch undurchbohrte Düne vor dem Eindringen des Wassers geschützt war und von dem aus dem Boden aufquellenden durch Auspumpen befreit wurde, lag mehrere Meter unter dem Meeresspiegel. So konnten nun die beiden Schleusen angebracht und die Uferbefestigungen des neuen Strombettes ausgeführt werden. Zu letzterem Zweck mussten 300.000 Kubikmeter Faschinen, 188.000 Kubikmeter Steine herangefahren werden, die Tausende von Schiffsladungen bildeten. Zwei Dampfkräne waren Tag und Nacht tätig, um diese Massen herauszuheben, die dann auf einer eigenen Eisenbahn zu den Verwendungsstellen geführt wurden. Bis zum November 1894 waren diese Arbeiten vollendet. Der alte Deich bei Siedlersfähr wurde durch schwimmende Bagger entfernt. Die Wasser der Weichsel strömten in das neue Bett ein und füllten es rasch.

Es blieb nur noch übrig, den Dünendamm zu durchbrechen. Am 31. März des folgenden Jahres geschah das in besonders feierlicher Weise. In Vertretung des Kaisers und auf dessen telegraphisch erteilten Befehl tat der Oberpräsident von Goßler, umgeben von den Beamten und Technikern, die sich auf der festlich beflaggten und geschmückten Strombaustelle versammelt hatten, nach einem Segensspruch über das zum Heil der Provinz unternommene Werk den ersten Spatenstich in den noch sperrenden Damm. Dann hat sich ein merkwürdiges Schauspiel geboten: Wie ein dünner Bach sei das Wasser durch den schmalen Graben in die See geronnen. Aber bald schwoll dies Rinnsal zum sprudelnden, reißenden Strom an. Dreiviertel Stunden nach jenem ersten Spatenstich hatte es sich an der Mündung ein Bett von 100 Meter Breite gewühlt. Am nächsten Morgen aber wälzte sich die Weichsel in einer Breite von 300 Metern ins Meer. 2.000.000 Kubikmeter Dünensand hatte sie innerhalb 16 Stunden hinweggerissen, verschlungen und hinausgespült.

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