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Wolfgang
17.03.2013, 12:24
Aus "Unser Danzig", Nr. 10 von Pfingsten 1964, Seite 19

Eine Episode aus Tiegenhof
von Br. Th.

Als ich noch in Tiegenhof so um 1890 zur Schule ging, meine Eltern wohnten in Fürstenau, war August Barthold der Inhaber vom Hotel "Deutsches Haus". Vier Häuser weiter nach links war das Textilwarengeschäft von Samuel Lehmann, ein Jude, der in zweiter Ehe mit meiner Kusine verheiratet war und sich taufen ließ. Barthold und auch Lehmann waren in unserem Städtchen angesehene Bürger. Jeden Morgen trafen sie sich auf halbem Wege und hatten sich vom Abend vorher viel zu erzählen, was alles so an den Stammtischen passiert war. Das "Deutsche Haus" war damals das besuchteste Lokal, nach dem Brande von 1883 modern ausgebaut mit Saal, Bühne, Kegelbahn usw. Ein Hotel "Deutsches Haus" gab es hier im Osten in jeder Stadt. Nun war auch das Geschäft von einer Familie D., später Pantel, in der Nähe. Die Inhaberin dieses Ladens hatte den weniger schönen Beinamen "Gewitterbremse" bekommen. Warum und wieso, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls muss diese Frau sehr neugierig gewesen sein und außerdem eine scharfe Zunge gehabt haben. Wenn Lehmann und Barthold oft sehr lange erzählten, kam regelmäßig Frau D. und ging sehr dicht, sozusagen auf Tuchfühlung, bei den beiden vorbei, um ein paar Worte von dem Gespräch zu erhaschen. Lehmann bemerkte die Frau meistens zuerst und sagte dann regelmäßig zu Barthold: "August, dreih die om, die Gewitterbrems kömmt!" Wie üblich, sprachen diese beiden Nachbarn plattdeutsch.

Zeiten fliehen, es gehen hin die Jahre. Zuerst starb Lehmann und dann bald darauf Barthold, beide noch im besten Alter. Sie wurden auf dem alten evangelischen Friedhof, nicht weit voneinander entfernt, zur letzten Ruhe gebettet. Damals gab es noch keine Lohnträger in Tiegenhof, und so wurden Freunde und Bekannte des Verstorbenen in der Traueranzeige gebeten, das Amt eines Trägers zu übernehmen; meistens waren es die Handwerksmeister aus Tiegenhof.

Etwas später starb auch Frau D. und wurde auf demselben Friedhof begraben. Als nun die Träger mit dem Sarge in die Nähe von Lehmanns und Bartholds Ruhestätte kamen, sagte einer von ihnen leise, aber für die Umstehenden gut zu verstehen, zu einem von diesen: "August, dreih di om, die Gewitterbrems kömmt!" Darüber wurde noch in späteren Jahren gesprochen. Mancher Tiegenhofer, der heute vielleicht zehn Jahre jünger ist als ich, wird es von seinen Eltern erzählt bekommen haben.

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