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Wolfgang
18.04.2008, 14:10
Kerzen auf dem Friedhof Heilig Leichnam


Freitag, 31. Oktober 2003, 13:00 Uhr

Es ist ein ruhiger Herbsttag. Der Oktober klingt an seinem letzten Tag golden aus. Ein leiser Wind zupft ein wenig an dem vergilbenden Laub der alten Kastanien. Ich finde immer wieder hierher. Zur Kirche Heilig Leichnam, oberhalb des Hauptbahnhofs, am Fuße des Hagelsberges. Hier wurde mein Vater konfirmiert. Hier war ich mit ihm das erste Mal vor fast 10 Jahren, als noch verwildertes Buschwerk den alten Friedhof überwucherte und versteckte. Er schlug sich mit mir seinerzeit durch das Gebüsch um mir die einmalige Außenkanzel zu zeigen. Und hier war ich auch als vor eineinhalb Jahren das Denkmal für die nicht mehr existierenden Friedhöfe eingeweiht wurde. Heute bin ich wieder hier.

Ein Gärtner fegt Grabplatten frei, recht das goldene Laub zu großen Haufen zusammen. Am Sonntag, an Allerseelen, wird hier der Stadtpräsident Pawel Adamowicz eine Kerze anzünden. Eine Kerze im Gedenken an die Toten, die ihre letzte Ruhestätte auf den alten untergegangenen Friedhöfen fanden. Dieser alte Friedhof wirkt wunderschön. Mit großem Aufwand wurde er von der Stadt Danzig zu einem Gedenkfriedhof umgestaltet. Er ist umgeben von einem schmiedeeisernen Zaun. Ich betrete die Stätte, halte ein, spreche lautlos ein Gebet. Zwischen den Gedenkstelen belädt der Gärtner einen Schubkarren mit dem zusammen geharkten Kastanien- und Lindenlaub. Auf einer Grabplatte ist zu lesen "Frieda Hähnel +1937", daneben "Paul Lowitzki +1939", "Johanna Kugler +1934" und "Hermine Trzeciak +1927". Auf vielen Grabplatten brennen Kerzenlichter. Ich gehe langsam weiter. Der Gärtner verlässt erneut mit einem hochbeladenen Schubkarren den Friedhof. Und hier, gerade frisch frei gefegt, finde ich auch einige jüdische Grabtafeln.

Ausgelassen lärmend kommt eine Schulklasse, bleibt am Eingang stehen. Die Kinder mögen acht, vielleicht auch zehn Jahre alt sein. Wollen sie etwa auf den Friedhof? Die Lehrerin spricht zu ihren Schülern, die aufmerksam zuhören. Sie betreten zusammen den Friedhof, gehen durch die Reihen, verteilen sich. Zwei Mädchen nähern sich dem Grabstein neben mir, beäugen mich kurz, holen aus einem mitgebrachten Einkaufsbeutel zwei Grablichter, die sie mit Hölzchen entzünden, knien nieder, stellen die Lichter ab, verharren schweigend, beten und gehen nach einem Weilchen wieder zu ihrer Lehrerin. Ich trete an die Grabplatte mit den zwei roten Lichtern, lese die eingemeißelten Lettern "Emilie Schmidt, geb. Hellmut / *25.4.1844 +25.4.1920 / Ruhe sanft".

Überall zwischen den Grabsteinen liegen rotbraun glänzende große Kastanien. Ich nehme eine Handvoll auf, stecke sie mir in die Jackentasche. Wenn ich meinen Vater das nächste Mal sehe, werde ich ihm eine schenken. Eine Kastanie vom Friedhof neben seiner Einsegnungskirche.

Die Schulklasse hält sich nun am Denkmal auf. Dort werden weitere Kerzen entzündet und neben den sich dort bereits befindenden ungezählten Lichtern aufgestellt. Die Kinder verhalten sich ruhig und andächtig. Ich bin beeindruckt, ja, tief berührt. Polnische Kinder an alten deutschen Grabplatten. Ein Lichtermeer.

Die Klasse geht. Ich auch. Auf dem Gehweg vor dem Friedhof beginnen die Kinder wieder ausgelassen zu lärmen. In mir bleibt tiefe Ruhe.

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P.S.: Als mein Vater sterbenskrank und nach einem Schlaganfall vollkommen gelähmt ans Bett gefesselt war, legte ich ein Bändchen mit einer dieser Kastanien, die ich durchlocht hatte, um sein Handgelenk. Die Kastanie passte in seine Hand, die ich sanft schloss. Als ich ihm sagte, sie sei von den Kastanienbäumen aus dem Hof seiner Einsegnungskirche, entrang sich seiner Kehle ein Stöhnen. Die Danziger Kastanie war bei ihm bis er starb.