Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten
Im Text auf der Umschlagseite des Buches heißt es: "Die Tagebücher des jüdischen Professors haben sich als unverzichtbares und erschütterndes Zeitdokument erwiesen. "Beobachten, studieren, notieren" - das war die ständige Forderung, die der zwangsemeritierte Wissenschaftler an sich selber stellte."
Victor Klemperer, 1881 geboren, Sohn eines Rabbis, zum Protestantismus konvertiert, verheiratet mit einer "Arierin", war Deutscher und fühlte sich als Deutscher mit Herz und Seele. Er lebte in Dresden, er wollte die Zeit des Nationalsozialismus, des Unrechtsregimes, aber auch seine und die aller Dresdner Juden 12 Jahre lang andauernde Leidenszeit als Chronist dokumentieren.
Das von mir besprochene Buch umfasst eine Auswahl aus rund 5.000 Seiten Tagebuch. Die unmittelbare Zeitnähe der Aufzeichnungen, die anfangs sich nur abzeichnende und langsam zunehmende Entrechtung der jüdischen Mitbevölkerung die in blanken Terror, in Raub, in "Transporte" nach Theresienstadt, in KZ-Einweisungen, in offene Morde mündete, geben einen tiefen Einblick in jene Zeit, von denen heute nur noch Wenige wissen.
In Victor Klemperers täglichen Berichten wird auch aufgezeigt, wie sich die nichtjüdische deutsche Bevölkerung verhielt, wie sie teils nicht wusste, was geschah, wie sie -sehr selten- Anteil nahm und half, wie sie aber auch aktiv ihren Teil zum unvorstellbaren Unrecht beitrug.
Victor Klemperer hoffte und seine "arische" Frau, die zu ihm hielt, auch. Sie gaben sich trotzdem keinen Illusionen hin, sie befürchteten einen Transport, sie hatten Angst, an Hunger oder Krankheit zu sterben, von der Gestapo ins KZ eingewiesen zu werden.
Das Beklemmende an dem Buch sind seine Details, die chronologische und exakte Aufzeichnung, wie es begann und wie Schritt für Schritt die jüdischen Mitbürger anfangs nur drangsaliert, später dann hingemordet wurden. Victor Klemperers zeitgeschichtlich Dokumentation lässt den Schluss zu, dass die nichtjüdischen deutschen Volksgenossen sehr viel mehr über die Entrechtung der Juden wissen mussten -wenn sie nicht absichtlich wegschauten- als heute allgemein in Deutschland geglaubt wird.
Vor dem Lesen dieses Buches vermutete ich, relativ gut informiert zu sein über das was Juden angetan wurde. Jetzt weiß ich, dass sich mein Wissen in erster Linie über die Umsetzung der "Endlösung", des Dahinmordens in den KZs beschränkte.
Victor Klemperer schrieb ungeheuer eindringlich über seine Todesängste und die seiner im "Judenhaus" dahinvegetierenden Mitbewohner, über zusammengestellte Transporte mit denen seine Bekannten und Freunde auf immer verschwanden, aber auch über kleine Freuden, die über die totbringende Zeit hinweghalfen.
Ich kann mich nicht erinnern, je ein anderes Buch gelesen zu haben, das einerseits meinen Wissenshorizont so stark erweiterte, das andererseits aber auch in eigene starke physische Beklemmungen mündete. Es ist nicht möglich, sich den sachlichen, den chronistischen Aufzeichnungen zu entziehen ohne nicht emotional tief aufgewühlt zu werden.
Victor Klemperer überlebte den Krieg. Ein Wunder, er überlebte als Einer von ganz Wenigen. 1960 starb er in Dresden.
Seine Tagebuchaufzeichnungen sind ein zeitgeschichtliches Dokument, das JEDER -und da vor Allem auch jeder Jüngere- lesen sollte, der darüber etwas mehr informiert sein möchte, was in der dunkelsten Phase der deutschen Geschichte geschah. Dieses Wissen gibt auch einen Schlüssel zur Hand, der ein klein wenig nachvollziehbarer macht, warum all das nach dem Krieg nicht konsequenzenlos für Deutschland bleiben durfte.
Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten - Tagebücher 1933-1945 / Eine Auswahl
SPIEGEL Edition, gebunden, 365 Seiten
ISBN-10: 3-87763-023-5
Preis: 9.95 Euro
