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Thema: Flucht aus der Heimat / Erlebnisbericht von Irmgard Ewald

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    Forumbetreiber Avatar von Wolfgang
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    Standard Flucht aus der Heimat / Erlebnisbericht von Irmgard Ewald

    Aus "Unser Danzig", 1959, Hefte Nr. 6-10

    Flucht aus der Heimat
    Ein Erlebnisbericht von Irmgard Ewald

    Ein Bauernhof lag, vom Garten umgeben, in einer Biegung des Weichsel-Haff-Kanals. Es war mein Elternhaus. An der alten, knarrenden Wetterfahne auf dem Scheunengiebel versuchte ein Storchenpaar vergeblich, sein Nest zu bauen; der Sturm wehte immer alle mühevollen Anfänge rücksichtslos zu Boden. Vor dem Hauseingang wuchsen rechts eine Linde und links eine Kastanie, deren mächtige Kronen ebenmäßig gewachsen ineinander rankten. Tagsüber jubilierten in dem grünen Blattwerk die Vögel. Nachts ging ein Rascheln durch die Baumkronen, wenn die lichtscheuen Fledermäuse gespenstisch durch das Laub flatterten. Hin und wieder zerriss ein Uhu mit seinem Ruf die Stille der Nacht.

    An sonnigen Sommertagen war es für uns immer eine große Freude, an die Ostsee fahren zu können, sei es mit dem Fahrrad oder auf dem Spazierwagen, vorbei an wogendem Korn, den gelben Rapsfeldern und den vielen saftigen Wiesen mit den schwarzweißen Rindern und den Pferden. Bald erblickte das Auge rechts oder links im ebenen Land eine Windmühle, deren Flügel sich munter in Sonne und Wind drehten. Im Schatten der Weiden, die die Wege und Grabenufer säumten, fuhr man dahin. Aber das geschah meistens nur sonntags. In der Woche hatten wir tagsüber auf den Feldern, im Hof, Haus und Garten zu tun und waren abends rechtschaffen müde. Zur Entspannung und Erquickung nahmen wir dann bei Sonnenuntergang ein erfrischendes Bad in dem klaren Wasser der Linau, in die der Weichsel-Haff-Kanal schon 100 Meter hinter unserem Haus mündete. Ich erinnere mich noch viele Jahre zurück, als ich ein kleines Kind war, da reichte das Wasser des Kanals bis an den Gartenzaun. Große Dampfer kamen vorbei, die am Steg hielten und meine Eltern bequem nach Danzig trugen. An den Sonntagen belebten die Paddler das Wasser. Wir Kinder saßen oft auf dem Kirschbaum, der seine Zweige über das Wasser streckte und die Paddler mit ihrer süßen Frucht in Versuchung brachte. Nun hatte man schon lange das Ausbaggern des Kanals unterlassen, weil die Hauptstraße Danzig - Elbing gebaut wurde, auf der sich jeglicher Verkehr abspielte. Der Kanal versandete immer mehr. An den Ufern wuchs das Schilf mannshoch, und dahinter reckten zwischen vielen Mummelblättern zarte weiße Seerosen ihre Köpfe aus dem Wasser. Schließlich machte Vater aus unseren zwei Kähnen Brennholz. Um die neue Straße, die an der anderen Seite des Kanals lag, erreichen zu können, ließen wir eine Privatbrücke bauen. Die kurze Strecke vom Hof zur Brücke wurde durch einen Weg verbunden, an dessen rechte Seite Vater junge Birken pflanzte. Am späten Abend saßen wir gerne vor dem Haus oder in der Gartenlaube und machten Pläne. Der Garten am Haus, der um die Veranda führte, sollte viel schöner werden und bis hinunter zum träumenden Kanal führen. Wir wussten, unser Hof war nicht groß, aber wir spürten, dass er uns alles bedeutete - innigste Heimat.

    Unsere Vorfahren, mennonitische Bauern aus Holland, hatten vor mehreren Jahrhunderten bei Danzig eine neue Heimat gesucht und gefunden. Der Boden, vortrefflich für Ackerbau und Viehzucht geeignet, ernährte Geschlechter um Geschlechter. Mit den Bauern hatten sich viele Handwerker und Kaufleute angesiedelt, und alle brachten es durch Fleiß zu angesehenem Wohlstand.

    Als 1939 der Krieg begonnen war, wurden Kriegsgefangene aus drei fremden Nationen unsere Arbeitskräfte, denn fast alle Männer waren Soldaten geworden. Vater hatte als Sanitäter im ersten Weltkriege an vorderster Front gedient und war, nun fast 60 Jahre alt, nicht eingezogen. Das sollte später unser ganzer Trost werden. So war also der Bauer daheim und verrichtete ohne große Schwierigkeiten die Arbeit auf dem Felde und im Hofe. Als die hagere Zivilgefangene Antonie, eine Russin, Einzug bei uns als Melkmädchen hielt, war sie über und über mit Läusen bedeckt. Unser stämmiges deutsches Hausmädchen streifte ihr entschlossen die Lumpen vom Leibe und tauchte sie dann nackt in den Fluss. Mit Seife und Scheuerbürste befreite sie das Russenmädchen, das bis dahin, 20 km von Leningrad entfernt, mit den Tieren gemeinsam in einer Lehmkate gehaust hatte, von allem lästigen Schmutz und steckte es in saubere abgelegte Sachen von uns. Die Russin fürchtete aber, von uns vergiftet zu werden; trotzdem wurde ihr Teller immer leer von ihrer Kammer geholt. Des Rätsels Lösung fand ich beim Beobachten durch das Schlüsselloch. Antonie vertauschte ihr Essen mit dem Katzenfutter, wobei sie auch nicht den Löffel gebrauchte, sondern wie die Katze den Teller blank schleckte. Welch tiefes Misstrauen, dachte ich. Man ertappte Antonie dann auch öfter im Stall, wo sie die warme Kuhmilch gleich frisch vom Euter in kräftigen Zügen genoss. Wir hatten unseren Spaß daran, zumal sich Russki zusehends erholte und nicht mehr ein Bild des Elends bot. Sie lernte auch ziemlich schnell deutsch sprechen, was sie nicht hinderte mit "nix ponemaju" zu antworten, wenn sie etwas nicht verstehen wollte. Die einzige Post, die sie erhielt, war die amtliche Nachricht, dass ihr Vater als Partisan erschossen sei. Darauf begann sie uns Deutsche offensichtlich zu hassen.

    Wer glaubt noch an den Sieg?
    Später, als unsere Truppen zurückgeschlagen wurden, wir jedoch noch immer an den Sieg glaubten, sagte Antonie einmal zu uns: "Ihr Deutsche bis jetzt viel gesiegt, jetzt totgesiegt, bald Russen hier sein!" Dabei ballte sie freudig grinsend die Faust. Sie wusste damals mehr als wir, die wir die fremden Sender nicht hörten, da es von der Partei verboten war. Wenn man uns beim Abhören eines solchen Senders ertappt hätte, wäre uns der Abtransport ins Konzentrationslager gewiss gewesen. Die Folge davon war der Verdacht, dass man uns die Wahrheit vorenthalten wolle. Unsere Wehrmacht gab ihr Letztes, das wussten wir. Dennoch kam die Front immer bedrohlicher näher. Der Fehler musste bei den Männern mit den hohen Parteimützen liegen, die in der Heimat saßen und den Mund mit großen Worten immer voller nahmen. Wir tauschten vorsichtshalber unsere Russki gegen einen Russen ein, der sich Waselie nannte. Waselie wird von uns unvergessen bleiben. Sauber in seiner äußeren Erscheinung wie auch von Charakter, lernten wir den Familienvater aus der fernen schönen Ukraine kennen. Fleißig, hilfsbereit und still verrichtete er täglich seine Arbeit. Wie oft sahen wir ihn am Feierabend auf dem Hügel hinter unserem Speicher stehen und wehmütig in die Ferne schauen. Nur ein tiefes Heimweh findet so seinen Ausdruck. Heute können wir aus eigener Erfahrung ermessen, wieviel Leid dieser Mann still getragen hat.

    Edmund, der Pole, war mit 14 Jahren zu uns gekommen und zählte inzwischen 18 Jahre. Während dieser Zeit hatte die Partei alle Polen, die, wie wir spöttisch sagten, einen Tropfen deutschen Blutes nachweisen konnten, eingedeutscht bzw. dazu gezwungen. Letzteres versuchte man auch mit unserem Polen aus Bromberg. Edmund gab jedoch tapfer zur Antwort: "Ich bin ein Pole und werde ein Pole bleiben!" Uns imponierte er damit, aber nicht den hohen Mützenträgern. Merkwürdig fanden wir es daher eines Tages, dass sich Edmund freiwillig eindeutschen ließ und zur Wehrmacht meldete. Er konnte unmöglich seine Gesinnung geändert haben, eher eine Möglichkeit darin sehen, seinem Vaterlande zu dienen, zumal er, ein schlauer Bursche war. Auf den Briefwechsel, den er als Soldat mit uns beginnen wollte, sind wir vorsichtshalber nicht eingegangen. Wir wussten, dass die Polen wieder auf ihre Befreiung hofften. Unzählige Polen hatten sich als Partisanen in der Tucheier Heide versteckt, und man war als Deutscher seines Lebens nicht mehr sicher. Wie sich später herausstellte, hatten auch bei uns die polnischen Arbeitskräfte ihre heimlichen Zusammenkünfte. Es bestand eine sogenannte schwarze Liste mit den Namen der Bauern, von denen sie nicht gut behandelt wurden. Am fröhlichsten waren die Franzosen. Die erste Bekanntschaft war allerdings wenig erfreulich. Man hatte uns einen fanatischen Franzosen zur Arbeit geschickt, der uns Deutsche dermaßen verachtete, dass er es nicht unterlassen konnte, vor unserem Fenster, an dem wir saßen, im Vorübergehen auszuspucken. Uns gefiel das nicht, und wir tauschten ihn gegen Leo ein, der jahrelang gern bei uns arbeitete. Doch als die Zeiten immer kritischer wurden, überkam Leo die Einsamkeit, als einziger Franzose auf unserem Hof zu sein. Bedrückt sagte er es seinem "Chef", so nannte er Vater stets. Vater ließ ihn ungern fort, mochte ihm aber doch seine Bitte nicht abschlagen. Auf diese Weise kam Leo zu einem Bauern, bei dem ein befreundeter Landsmann von ihm arbeitete. Zu uns kam ein anderer Franzose, der sich vortrefflich einarbeitete, sich gut mit dem Ukrainer verstand, auch junger Familienvater war und durch seine Munterkeit schnell beliebt wurde. Aus seiner Heimat bekam er Päckchen mit Schokolade und dergleichen geschickt, wovon er viel den Kindern schenkte, sobald sie in seiner Nähe waren. Immer vergnügt pfiff er sein Pfenniglied.

    Der Winter 1944/45 zog ins Land. Mit viel Schnee bedeckte er die Felder, Gehöfte und Zäune. Die Zweige der Bäume neigten sich unter der schneeweißen Last, während die Tannen ihr grünes Kleid mit glitzernden Schneesternchen schmückten.

    Als mein Schwager Soldat werden musste, hatte er noch schnell seine Frau mit den Kindern aus Polen heraus zu meinen Eltern geschickt, da er die Kriegslage als bedrohlich ansah. Die andere Schwester war Lehrerin an der Volksschule, ihr Mann ebenfalls Soldat. Als ihr erstes Kind geboren wurde, blieb sie bei den Eltern wohnen. Mein Bruder stand irgendwo an der Russlandfront und meine nächstältere Schwester arbeitete in Danzig im Büro der Landesbauernschaft. Sie wohnte bei Bekannten in Oliva, während ich als der jüngste Spross unserer Familie das Kindergärtnerinnen-Seminar in Danziq-Langfuhr besuchte, dort auch wohnte und nur sonntags daheim war.

    Das letzte Weihnachtsfest daheim
    Durch den Krieg hatte die Heimat schon viel an ruhiger Behaglichkeit eingebüßt. Eine Unruhe schien in uns Menschen und in jedem Winkel zu hausen, und in dieser Atmosphäre erwarteten wir die Weihnacht. Wohl erstrahlte der Christbaum in seinem schlichten Glanz, aber die Urlauber fehlten, und so war unsere Familie nicht vollständig, um die Weihnachtsbotschaft von Friede und Freude voll empfinden zu können. Die Front war zu nahe herangerückt, da beruhigte selbst die Verkündigung "Fürchtet Euch nicht..." nicht vollends. Der Franzose und der Ukrainer litten ebenso wie wir unter dem zersplitterten Familienleben. Sollten wir sie da noch als unsere Feinde betrachten? Sie gehörten zu uns, zu der großen Menge unter allen Völkern der Erde, die den Krieg nicht wollen und ihn als menschenunwürdig verabscheuen. Wir ließen die beiden Kriegsgefangenen in die Weihnachtsstube eintreten und sich setzen. Dann sangen wir die alten deutschen Weihnachtslieder, unter denen "Stille Nacht, heilige Nacht" wohl das schönste ist; meine Schwester begleitete auf dem Klavier. Ergriffen erlebten die Ausländer deutsche Weihnacht und konnten sich heimlicher Tränen nicht erwehren.

    Die Zeit der längsten Nächte ging dahin. Wir standen nach einer besinnlichen Silvesternacht mit etwas Hoffnung im Jahre 1945. War es nicht doch möglich, dass unsere Heimat auch dieses Mal vom Kriege verschont blieb? Im ersten Weltkrieg war der Russe auch sehr nahe gerückt, und Hindenburg war es durch seine ruhige Überlegenheit gelungen, den großen Ansturm aus dem Osten wieder zurückzuschlagen. So hatten wir die Hoffnung auf eine Wendung der Kriegslage noch nicht aufgegeben.

    Wir schrieben den 21. Januar 1945. Es war ein Sonntag, an dessen Nachmittag wir Mädels uns wieder im Seminar einfanden, um für die letzte Prüfung, das mündliche Examen am kommenden Tag, gerüstet zu sein. Den Abschluss sollte dann eine großartige Feier bilden, ganz gleich, wie die Zensuren ausfallen würden. Nun war aber noch Sonntag. Wir versammelten uns alle im blauen Sesselsaal, um den Wehrmachtsbericht zu hören, in dem es dann hieß: "... der Russe schob sich trotz heftiger Abwehr bis Deutsch-Eylau vor." Das war bedrohlich nahe, stellten wir fest. Uns allen kam der Gedanke: Der Russe konnte an Deutschlands Grenze nicht gehalten werden. Wird sein Vormarsch überhaupt noch aufzuhalten sein? Sogleich verwarfen wir den Gedanken; der Glaube an den Sieg war auch jetzt noch stärker, als die Vernunft. Da erschien unerwartet unsere Seminarleiterin. "Mädels", sagte sie, "soeben ist von der Gauamtsleitung der Befehl gekommen, dass Ihr sofort zu Euren Eltern abreisen müsst. Es besteht die Gefahr, dass Danzig geräumt werden muss. Also packt schnell Eure Koffer und seht zu, dass Ihr den nächsten Zug erreicht." Wir standen und saßen zuerst regungslos da. Dann aber kam Leben in uns, denn wir begriffen plötzlich unsere Lage. Drei Mädels wohnten in der Stadt Danzig, alle übrigen waren bis auf uns drei Danzigerinnen vom Lande aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands. Einige weinten, ihre Eltern wohnten in Ostpreußen und im Korridor. Sie konnten unmöglich dem Russen entgegen fahren. Sicher waren ihre Angehörigen schon auf der Flucht. Mit aller Selbstverständlichkeit wurden sie von den Mädels aus dem Altreich überredet, zu ihnen nach Hause zu fahren, was dankend angenommen wurde. In Hast sollte das Wichtigste in die Koffer gepackt werden. Das war schwierig, denn uns war alles wichtig, selbst die kleinste Schnitzarbeit. Um Mitternacht sollte der Zug vom Danziger Hauptbahnhof ins Altreich fahren. Er musste unter allen Umständen erreicht werden, denn es konnte allzu leicht der letzte sein. Wir drei Danzigerinnen wollten in der Frühe des kommenden Tages um 4 Uhr mit der Kleinbahn nach Hause fahren. So hatten wir noch viel Zeit und halfen den übrigen Mädels die Koffer den langen Jäschkentaler Weg hinunter zur Straßenbahn tragen.

    Es wäre finstere Nacht gewesen, wenn nicht der Schnee etwas geleuchtet hätte. Zu unserer Verwunderung fuhr keine Straßenbahn, statt dessen rollten unaufhörlich Taxen und Autobusse, vollgepfropft mit Menschen, geheimnisvoll an uns vorüber. Uns war die Nacht unheimlich geworden. Es blieb uns nichts anderes übrig, als zu Fuß die Koffer den weiten Weg zum Bahnhof zu schleppen. Dort bot sich ein hoffnungsloses Bild. Dicht gedrängt standen und saßen unzählige Flüchtlinge bei ihrem Handgepäck und warteten erregt auf die Möglichkeit einer Weiterfahrt. Der Zug konnte aber unmöglich all diese Menschenmassen aufnehmen. Schnell und herzlich, mit den besten Wünschen, verabschiedeten wir uns von unseren Schulkameradinnen und hasteten ins Seminar zurück. Mir kam der Gedanke, meine Schwester in Oliva aufzusuchen, doch da die Straßenbahn nicht fuhr, war die Zeit zu knapp für den langen Fußmarsch. Ermüdet warfen wir uns auf unsere Betten, um nach zwei Stunden das Seminar ebenfalls zu verlassen und zu Fuß den Kleinbahnhof zu erreichen. Das geschah auch mit vielen Hindernissen, denn wir hatten uns allzusehr mit Handgepäck beladen. Endlich schlängelten wir uns durch die Sperre und fanden noch Platz auf der Plattform der überfüllten Kleinbahn. Ein Junge von ungefähr 16 Jahren stand neben uns. Wir erfuhren, dass er ins Wehrertüchtigungslager nach Bodenwinkel müsse, um für den Panzernahkampf ausgebildet zu werden. Bitter schaute er drein, sein Gesicht blau verfroren und seine Hände vom Frost aufgesprungen. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis die Heimaterde auch mit diesem jungen Blut getränkt wurde.

    Mein Kollegin Anna verließ uns in Gottswalde, und in Steegen nahm ich von Gerda Abschied. Als ich nach langsamer Kleinbahnfahrt unsere Kreisstadt Tiegenhof erreichte und darauf nach einstündiger Fußwanderung mein Elternhaus, traf ich meine Lieben gemütlich beim Mittagessen an, nichtsahnend wie im tiefsten Frieden. Welch schönes Bild gegenüber dem soeben Erlebten. Ich musste es zerstören, und schon berichtete ich von den Vorgängen in Danzig mit der Bemerkung, dass auch wir schnellstens unsere Flucht vorbereiten müssten. Ungläubig, halb lächelnd, schauten mich alle an. Es kostete meine ganze Überredungskraft, sie wenigstens halbwegs vom Ernst der Lage zu überzeugen. Mutter packte für alle Fälle einige Säcke voll Sachen, und Vater suchte einen geeigneten Wagen zum Trecken aus. Geschickt brachte er Bögen an, über die er die große Rapsplane als Regenschutz spannte.

    Am nächsten Tage hatte sich das Gerücht der Flucht schon allgemein bis aufs Land fortgetragen. Am 23. Januar wurde bekannt, dass russische Panzer das Stadtgebiet von Elbing erreicht hätten. Wir wohnten an der Hauptstraße Danzig - Elbing und fanden in der folgenden Nacht keinen ruhigen Schlaf, was in dieser Bedrängnis nicht verwunderlich war. Noch ehe die Sonne erwachte, weckte uns ein reitender Bote mit dem Befehl, sofort den Hof zu verlassen und die Flucht über die Stromweichsel anzutreten. Die Ereignisse überschlugen sich. Die Straße hatte sich über Nacht mit unzähligen Treckwagen ostpreußischer Flüchtlinge gefüllt. Daneben hasteten Männer, Frauen und Kinder zu Fuß, ihre Habseligkeiten auf einem Schlitten hinter sich herziehend. Die Säuglinge waren ebenfalls auf Schlitten verpackt. So bot diese Szene ein erschütterndes Bild der Verzweiflung. Sie hatten Elbing in Schrecken panikartig verlassen. Militärwagen überholten diesen Treck. An ihnen hielten sich an den Seiten verwundete Soldaten aus den Lazaretten in Elbing fest, in ihren Lazarettanzügen mit blutigen Verbänden ohne Schutz gegen die Kälte. Offenbar war alles so schnell gegangen, dass jegliche Organisation versagt hatte. Diese Straße sollten auch wir bald in ihrem Elend kennenlernen. Zur Zeit weilten zwei Kinder meiner ältesten Schwester bei der Schwiegermutter auf dem Bauernhof in Bröske, etliche Kilometer von uns entfernt in Frontrichtung. Entschlossen wagte die Mutter zu Fuß den Weg und langte nach Stunden mit ihren Kindern todmüde aber erleichtert bei uns an.

    Eine dicke Schneedecke hatte sich über das Land gelegt, auf welche die Morgensonne ihre wärmenden Strahlen schickte. Unser Hof lag eingehüllt in dieser zauberhaften Schneelandschaft. So mussten wir von ihm Abschied nehmen und heimatlos werden.

    Der Treck beginnt
    Unser Franzose und der Ukrainer baten, wir möchten das Schicksal doch lieber daheim erwarten. Schließlich war aber der Befehl zur Flucht da, und wir fürchteten uns auch vor den Russen. Stunden bis zur Abfahrt wurden noch verzögert, da wir immer noch hofften, meine Schwester würde gleich mir auf irgendeine Art versuchen, von Danzig-Oliva nach Hause zu kommen, aber sie kam nicht. Vater bestieg den Wagen, unter dessen gewölbter Plane neben unseren Sachen und Essvorräten meine zwei ältesten Schwestern mit ihren sechs Kindern eingehüllt saßen; das siebente Kind wurde im August erwartet. Mutter und ich führten je ein Fahrrad und folgten dem Wagen, der sich langsam in Bewegung setzte. Der Franzose reichte den Kindern schnell seine letzte Schokolade, dann sahen die beiden uns bedrückt nach. Wir durften die Kriegsgefangenen nicht mitnehmen, sie hatten also keine Möglichkeit, aus dem Kessel herauszukommen.

    Wir reihten uns in den auf der Straße ziehenden Treck ein und kamen nur langsam vorwärts. Von hinten überholten uns Wehrmachtkraftwagen, so dass unsere Pferde oft scheuten. Der Verkehr wurde durch das dauernde Überholen immer beängstigender, und es dauerte nicht mehr lange, da hatten sich alle Fahrzeuge in Dreierreihe in einer Länge von viereinhalb Kilometer vor der Weichsel
    fähre in Rotebude festgefahren. Ein Vor- oder Rückwärtsfahren war dadurch unmöglich geworden. In diesem Wirrwarr kamen wir an einer Stelle zu halten, an der von der Straße ein unscheinbarer Landweg abbog, auf ihm suchten wir schnell unsere Rettung. Vor uns sahen wir am verschneiten Grabenufer einen deutschen Soldaten unter einer Weide sitzen. Als wir näher kamen, erkannten wir, dass er sich am Weidenast erhängt hatte. Aus seinen Papieren ging hervor, dass er aus Ostpreußen stammte. Vielleicht hatte er beim Anblick seiner Landsleute auf dieser hoffnungslosen Straße den Lebensmut verloren.

    Wir erreichten den Hof eines uns bekannten Bauern. Er war mit seiner Familie noch daheim und gewährte uns freundlich Unterkunft. Nun folgten vier Tage und vier Nächte von unsagbarem Elend für die Flüchtlinge auf der Straße. Ein eiskalter Schneesturm fegte über das Land. Tagelang blieb uns dadurch die Sicht zur Straße versperrt, und als dann nach diesen Schneesturmtagen sonniges Wetter einsetzte, waren viele Kleinkinder erfroren. Viele Flüchtlinge hatten panikartig ihr Fuhrwerk im Stich gelassen, weil sie jeden Augenblick mit den russischen Panzern im Rücken rechneten. Mit Handgepäck hatten sie das Eis der Stromweichsel überschritten.

    Auf dem Bauernhof waren wir eingekehrt, weil für uns eine Weiterfahrt aussichtslos geworden war. Vater wollte nicht unser Leben, vor allem das der Kinder, tage- und nächtelang durch nutzloses Warten in Gefahr bringen. Die eine Fähre in Rotebude konnte das Übersetzen der vielen Trecks nur langsam bewältigen. Warum baute man keine Notbrücke? Da wir uns erst vier Kilometer von zu Hause entfernt befanden, meinte Vater, wir sollten unseren Hof noch nicht im Stich lassen. So wurde also beschlossen, dass unser Hausmädchen und ich noch einmal zurückkehren sollten, um nach dem Rechten zu sehen. Vater fuhr uns beide im Spazierschlitten, den wir als Anhänger an den Treckwagen gebunden hatten, auf Feldwegen nach Hause. Dann versprach er, am Abend bestimmt nach uns zu sehen. Kaum waren wir allein, da klopfte es schon an die Tür. Zwei Frauen mit ihren Kindern suchten Obdach. Wir ließen sie herein, kochten ihnen Kaffee und wiesen sie ins Sommerstübchen, wo sie alle über Nacht in Betten schlafen konnten. Außerdem stand dort ein Kachelofen, der leicht zu heizen war. Danach wollte ein Ehepaar eingelassen werden, das wir in der Eckstube unterbrachten. Auf weiteres Klopfen ließen wir einen älteren Mann ein, der eine Beinprothese trug. Er setzte sich erst einmal zu uns in die Wohnküche und machte ein sehr trauriges Gesicht. Mit einem Bekannten war er auf einem Wagen geflüchtet. Nur ganz kurz hatte er absteigen wollen, um in einem Geschäft etwas zu kaufen. Als er wieder auf die Straße kam, war der Wagen in dem Wirrwarr verschwunden und mit ihm seine wenigen Sachen. Wir brieten ihm einen großen Teller Kartoffeln und setzten heißen Kaffee dazu, wickelten ihm einige Lebensmittel in ein Handtuch und boten ihm das kleine Zimmer vor der Veranda an, wo er bequem schlafen sollte. Dann saßen wir wieder allein in der Wohnküche. Mir kam der große weiße Kachelherd ohne Mutter wie verwaist vor. Ob sie wohl jemals wieder hier am heimatlichen Herd stehen würde, um die braunen, knusprigen Brote zu backen?

    Wir zündeten die Petroleumlampe an, deren Licht durch den Milchschirm warm den Raum erhellte. Die Gardinen zogen wir vor das Fenster, und Lieschen ging auch noch die Fensterläden schließen. Das taten wir, um uns behaglich und sicher zu fühlen, denn ein Schneesturm zog plötzlich heran. Nach einer Weile polterte es an der Haustür und mehrere robuste Männerstimmen riefen: "Heda, sofort aufmachen!" Wir wussten nicht, mit wem wir es zu tun bekommen würden, und machten deshalb nicht auf; es trieben sich zuviel wüste Gestalten draußen herum. Das Poltern verebbte, die Männer fluchten und zogen ab. Kurz darauf kam Vater, um uns abzuholen, weil ihm unsere Lage doch zu gefährlich erschien.

    Am nächsten Tage unternahmen Vater und ich wieder eine Spritztour nach Hause. Uns verschlug es fast den Atem, so sehr hatte sich alles in den wenigen Stunden verändert. Der ganze Hof stand voll von Flüchtlingswagen, und im Hause waren alle Räume überfüllt mit Menschen jeden Alters. Auf allen Möbeln lag das Gepäck, lagen die Essenreste. Die Gardinen waren abgerissen, verwüstet und verschmutzt fanden wir alle Zimmer vor. Im Keller war das Eingemachte zerschlagen. Ein junger Mann verließ gerade den Hof mit einem gefüllten Marmeladeneimer. Entsetzt waren wir über die Hitze im Gebäude. Alle sieben Heizgelegenheiten waren im vollem Gange. Schätzungsweise hatten 100 Personen Obdach gefunden, und es war sinnlos, von ihnen als der Besitzer anerkannt zu werden. Trotzdem stießen wir oben im Stübchen auf einen ostpreußischen Gutsbesitzer mit Familie, der sich vorgenommen hatte, nicht weiterzuziehen. Er versprach Vater, auf den Hof etwas zu achten. Stall und Scheune standen voll Flüchtlingspferde, zwischen ihnen kauerten im Stroh ebenfalls Menschen. Im Stall trafen wir auf Waselie, unseren Ukrainer, der mit allem Ernst darum bedacht war, unser Vieh so gut wie möglich zu versorgen. Er jammerte, dass nur noch so wenig Futter da sei, die fremden Pferde fraßen natürlich alle mit. Die Flüchtlinge drohten, ihn zu schlagen, wenn er nicht alle Milch hergeben wollte. "Herr, für die Kälber habe ich nichts", stöhnte er. Ihm selber hatten wir genügend Lebensmittel auf seine Kammer gegeben, aber er hatte wohl noch nicht viel angerührt, er sah abgespannt und verbittert aus. Da er sich niemals warmes Essen bereitet hatte, besprachen wir mit unserem Nachbarn, der einen Hof mit Gastwirtschaft am Linaufluss besaß, dass Waselie mittags täglich bei ihm warm essen könne.

    In Erwartung der russischen Panzer
    Es folgten wieder Tage, an denen wir jeden Augenblick die russischen Panzerspitzen erwarteten. Jedoch schnell über die Weichsel zu kommen, war noch unmöglich. Immer neue Trecks kamen angefahren und standen Tag und Nacht, ehe sie rüberkamen. Unterdessen fuhren Vater und ich zu Bauernhöfen, auf denen immer größere Gruppen bekannter Familien zusammensaßen, um von ihnen vielleicht etwas Neues über die Lage zu erfahren. So kam die unruhigste Nacht heran. Vom Kanonendonner der nahen Front erzitterte das Haus. Maschinengewehrschüsse schreckten durch die Nacht. Jeden Augenblick erwarteten wir den Russen. Wir lagen alle in einem Zimmer, teils auf der Erde und teils in den Betten und zitterten vor Erregung. Wir dachten zu viel an die Greueltaten, die in Polen passiert waren, wo man nicht einmal vor den Kindern haltgemacht hatte. Ein wenig verloren wir die Nerven und überlegten, ob wir nicht selber ein Ende machen sollten. Mutter war entschieden dagegen. "Wir haben uns das Leben nicht selber gegeben und dürfen es uns auch nicht selber nehmen", behauptete sie und hat wohl am meisten auf Gottes Hilfe gebaut. Vater tröstete uns mit seinem guten Revolver. Für den Fall, dass uns die Russen auseinanderreißen oder quälen sollten, hatte er für jeden einen Schuss bereit. Uns beruhigte das damals sehr; aber ob er im gegebenen Falle noch die Möglichkeit dazu gehabt hätte, konnten wir damals wohl nicht übersehen. Unser Quartiergeber wurde so sehr von der Unruhe und Angst gepackt, dass er mit Frau und Kindern und wenigem Handgepäck mitten in der Nacht aufbrach, um zu Fuß das andere Weichselufer zu erreichen. Wir warteten, und als gegen Morgen wirklich mit einem Gewehrkolben gegen die Tür gepoltert wurde, dachten wir nichts anderes, als dass unser Stündlein geschlagen habe. Vater öffnete, und vor uns stand ein Soldat in deutscher Winterausrüstung, der uns schnell mit einem kritischen Blick überflog und von uns über die militärische Lage orientiert werden wollte. Wir waren erstaunt und konnten nicht viel sagen, da wir vermuteten, es mit einem russischen Spion zu tun zu haben. Als der Mann dann noch seinen Blick auf Lieschen, unser Hausmädchen, ruhen ließ und sich sein Gesicht zu einem unverschämten Grinsen verzog, wurde uns immer unbehaglicher zumute. Er verschwand aber danach, und wir haben nie erfahren, wer er gewesen ist.

    Die Russen kamen doch noch nicht, und so wagten Vater und ich, schnell noch einmal nach Hause zu fahren. Die Flüchtlinge waren fast alle abgezogen, nur in der Sommerstube befanden sich noch Frauen. Vater bot ihnen an, mit ihrem Handgepäck unseren Schlitten zu besteigen, und so fuhren wir sie bis zum anderen Weichselufer, was mit einem kleinen Gefährt möglich war. Wir kehrten zurück auf unseren Hof, und da saß in der Eckstube eine alte Frau ganz allein auf dem Sofa, das sie sich nahe an den warmen Kachelofen gerückt hatte. Zu ihren Füßen stand ein Kochtopf mit Pellkartoffeln, die sie in der Ofenröhre kochen wollte. Die Stube vor der Veranda, von uns Vorhaus genannt, war verschlossen. Wir gingen deshalb in den Garten und fanden den Eingang der Veranda offen. In der Stube hatte sich zu unserem Erstaunen ein russisches Ehepaar einquartiert. Nachdem Vater sich als der Besitzer vorgestellt hatte, schaute uns der Mann flehentlich an und bat, das Zimmer mit seiner Frau benutzen zu dürfen. Diese lag krank zu Bett, und der Mann war sehr besorgt um sie. Auf unsere verwunderte Frage, warum er denn vor seinen eigenen Landsleuten flüchtete, sagte er nur: "Oh, wir deutschfreundlichen Russen haben von den Bolschewisten nichts Besseres zu erwarten als Sie!" Kurz darauf sprachen wir mit Waselie. Er hatte sich schon mit dem russischen Ehepaar bekannt gemacht und ihnen geholfen, wo er nur konnte. Uns bedrückte das soeben Erlebte; wir empfanden das Schicksal dieser Russen tragischer und trauriger als das unsrige.

    Vater holte noch unser junges Pferd aus dem Stall und band es als Mitläufer an den Schlitten, denn er hatte sich vorgenommen, Lieschens Mutter und Geschwister mit einem Gefährt zu versorgen. Der Vater dieser vielköpfigen Familie stand irgendwo an der Front. So holten wir die Mutter mit den Kindern zu uns auf den herrenlos gewordenen Bauernhof und lebten gemeinsam. Es wurde für alle ein fürstliches Essen gekocht, denn Vorräte waren reichlich vorhanden. Bald rüsteten wir zur Weiterfahrt, denn der starke Schneefall drohte uns einzuschneien. Während unser Treckwagen solange in der angeblich verschlossenen Scheune gestanden hatte, fehlte doch die Kiste mit unserem gesamten Silber. So schmerzlich dieser Verlust war, ändern konnten wir daran nichts mehr. Wir zogen weiter, aber nur bis ins Dorf, um an fester Straße zu sein. Entschlossen bezogen wir das verwaiste Haus des Bürgermeisters. Übrigens hatten wir uns bei ihm einen Tag, bevor der reitende Bote kam, nach der Lage erkundigt, und er hatte uns ganz beruhigend geantwortet, dass keine Gefahr bestünde. Die Nacht darauf hatte er sich heimlich mit seiner Familie und Treckwagen aus dem Staube gemacht, um ins Altreich zu gelangen. Wir betraten das verlassene Haus: es war von den durchziehenden Flüchtlingen unsagbar verschmutzt worden. Das Wohnzimmer wurde so gut wie möglich gereinigt, während die Küche von uns nicht angerührt wurde, da sie mehr einer Abortanlage ähnlich geworden war. Wir kochten in der Ofenröhre des kleinen Vorzimmers, das den Blick zum Hof freigab. Vorübergehende Bekannte hatten unseren Einzug bemerkt und fragten lachend: "Na, Bürgermeister geworden? Wann geben Sie die nächsten Lebensmittelkarten aus?" — "Von mir aus gleich, hier liegt genug von dem Zeug", war die Antwort. Polenmädchen fanden sich ein, die die Küche vom Schmutz befreiten und die leckersten Eierkuchen zu backen begannen. Als Vater, von dem verlockenden Duft angezogen, die Küche betrat, wurde er freundlich eingeladen, mitzuspeisen. Da wurde uns klar, dass die Polen uns nicht auf ihrer schwarzen Liste stehen hatten, also eine Gefahr weniger.
    Trecks und immer wieder Trecks zogen die Dorfstraße entlang, bis endlich Soldaten kamen. Eine Ortskommandantur setzte sich fest, die sofort die Straße aufzuräumen begann. Nachts hielten wir abwechselnd am Fenster Wache, um unseren Treckwagen im Auge zu behalten. Vater achtete auf den Stall, denn auf keinen Fall durften wir unsere Pferde stehlen lassen. Dann klopfte es mitten in dunkler Nacht. Eine schwangere Frau bat um ein Glas Wasser und drängte uns dafür ein Hindenburglicht auf mit der Bemerkung, dass wir ihr einen sehr großen Dienst erwiesen hätten. Die Wasserleitungen im Dorfe waren nämlich alle zerstört, und wir hatten uns von einem Brunnen Wasser in Eimern herangeschafft. Nicht besser als der Bürgermeister verhielt sich unser Ortsgruppenleiter: die Hauptsache, er befand sich in Sicherheit. Ein Arbeiter kam zufällig als Soldat in sein Heimatdorf. Seine Familie saß noch zu Hause fest, denn weder Bürgermeister noch Ortsgruppenleiter hatten sich um die Leute gekümmert, so dass sie keine Treckmöglichkeit hatten. Er entdeckte uns und fragte nach den beiden Würdenträgern. Wir konnten ihm keine Auskunft geben, und so sagte er nur verbittert: "Die Hunde knalle ich nieder, wenn ich ihnen begegnen sollte!"

    Ans andere Ufer der Weichsel
    Am 4. Februar gegen Morgen rüsteten wir zur Überfahrt, ebenfalls Lieschen mit ihren Angehörigen. Wir brauchten auch nur einige Stunden zu warten, bis wir an das andere Weichselufer übergesetzt wurden. Der Treckwagen fuhr voraus, Mutter und ich folgten wieder mit den Fahrrädern. Es taute, und ein dicker Schlamm bedeckte die Straße. In Letzkau hielten Mutter und ich kurze Rast in dem sauberen Stübchen eines uns bekannten alten Arbeiterehepaares. Die Frau stärkte uns mit heißem Kaffee und belegten Broten und meinte freundlich: "Das ist nur einfache Christenpflicht." Gegen Mittag holten wir den Wagen bei unseren Verwandten in Groß Zünder ein. Diese hatten aber schon das ganze Haus voller Flüchtlinge und die Scheune mit 100 gefangenen Russen belegt, die von Soldaten bewacht wurden. Daraufhin fragten wir telefonisch bei entfernten Verwandten in Grebinerfeld um Unterkunft an. Sie wurde uns gerne gewährt. Als wir anlangten, war schon ein Giebelstübchen für uns hergerichtet worden. Die Mahlzeiten nahmen wir mit unseren Gastgebern gemeinsam ein und saßen auch an den Abenden zusammen im Wohnzimmer. Alle anderen Räume waren dicht mit Flüchtlingen belegt. Der Treckwagen wurde von uns abgeladen, da wir annahmen, dass der Russe an der Weichsel aufgehalten würde. Dieser Fall trat aber nicht ein, vielmehr wurde die Gefahr an dieser Seite der Weichsel ebenso groß, da der Russe in Richtung Dirschau heraufgestoßen kam. Es wurde uns immer mehr bewusst, dass die Russen uns bald eingekesselt haben würden. Tagsüber überflogen russische Tiefflieger die Danziger Niederung und beschossen die ziehenden Trecks.

    Vater, meine älteste Schwester und ich beschlossen, noch einmal über die Weichsel nach Hause zu fahren, um ein Schwein zu schlachten. Unser Vorrat war bedenklich zusammengeschrumpft. Es war der 4. März, ein strahlend sonniger Tag, als wir zu Hause eintrafen. Das Wohnhaus war von unseren Soldaten belegt, und es machte wieder einen sauberen Eindruck. In Stall und Scheune standen Pferde, dazwischen besorgte Waselie noch immer treu unser Vieh. Nachdem sich Vater als der Besitzer ausgewiesen hatte, war bald ein Schwein mit Hilfe eines schlachtkundigen Soldaten in Fleischstücke, Würste und 20 gefüllte Dosen zerlegt. Mitten in der Arbeit kam überraschend Besuch. Es war der uns bekannte Ortsgruppenleiter aus Lindenau. Er trug Parteiuniform. Nachdem er für einen ordentlichen und geschlossenen Treck seines Dorfes gesorgt hatte, war er durch Erkundungsfahrten von ihm abgekommen, somit auch von seiner Familie. Nun wäre das Suchen sinnlos geworden, meinte er und wollte sich zum Heimateinsatz melden. Er war einer der wenigen Idealisten, die aus ehrlicher Überzeugung der Partei gedient hatten.

    Nachdem wir zusammen Mittag gegessen hatten, nahm er Abschied von uns. Am Abend spielte ein Soldat auf dem Klavier, die anderen sangen, rauchten und spielten Karten. Die gute Stube und die Eckstube waren gleichzeitig ihre Schlafräume. Wir legten uns oben im Erkerstübchen schlafen. Als wir am anderen Morgen die Wohnküche betraten, war diese blank geputzt und auf dem Fenstersims stand ein Glas mit frisch geschnittenen Weidenkätzchen. Wir sollten uns auch jetzt noch zu Hause fühlen, meinten die Soldaten und erwarteten doch jeden Augenblick die feindlichen Panzerspitzen. Der Eisenacher, der uns beim Schlachten geholfen hatte, schrieb noch einen Brief an seine Angehörigen. Einige ältere Soldaten folgten seinem Beispiel, jedoch mit der Bemerkung: "Hat ja gar keinen Zweck, die Post geht doch sowieso nicht mehr durch." Der junge Eisenacher meinte überzeugt: "Ich habe den Glauben an unseren Sieg noch nicht verloren, und was die Post betrifft, die wird auf dem Luftwege befördert." Seine Kameraden schwiegen dazu, denn sie wollten ihm seinen Glauben nicht nehmen, obwohl sie selbst auf Grund ihrer Erfahrungen in diesem Kriege alle Hoffnung aufgegeben hatten. Im Garten entdeckte ich unter den Tannen zwei Soldatengräber mit schlichten Holzkreuzen. Wenige Kilometer trennten uns noch vom Russen. Am 7. März forderte uns die Wehrmacht endgültig auf, sofort den Hof zu verlassen, da äußerste Gefahr bestünde. Dieses Mal war der Abschied besonders schmerzlich, denn wir fühlten, dass er für immer sein würde. Waselie war sehr traurig, als wir uns von ihm verabschiedeten.

    Als wir die Weichsel erreichten, war kaltes, regnerisches Wetter, und an ein schnelles übersetzen nicht zu denken, da eine lange Kolonne Kühe übergesetzt werden sollte. Die Euter hingen prall gefüllt, und niemand melkte die armen Tiere, die vor Schmerz brüllten. Vater tat das Wetter nicht gut, schon zu Hause hatte er eine leichte Ruhr bekommen. Die Auffahrt auf die Fähre war inzwischen steil geworden, denn das Hochwasser war mächtig gestiegen. Unsere Stute zwang das Gefährt unter größter Anstrengung hinauf. Am anderen Ufer lag der Außendeich einen halben Meter unter strömendem Hochwasser, aber auch diese Schwierigkeit überwand unser treuer Vierbeiner unter Aufwand aller Kräfte. Doch dann wurde unser Pferd immer matter, die Anstrengungen der letzten Wochen waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Wir stiegen alle ab und führten das erschöpfte Pferd am Zügel die vielen Kilometer bis Grebinerfeld, wo uns unsere Angehörigen aufatmend empfingen.

    Am folgenden Tage wurde durch den Rundfunk bekanntgegeben, dass Dirschau nach hartem Kampf gefallen sei. Wir hatten keinen Schuss gehört. An uns kam die Forderung, den Treck in Richtung Pommern in Bewegung zu setzen. Wir folgten diesem Befehl nicht, sondern wollten den Hof erst dann verlassen, wenn der Besitzer ihn selber verließ. Jedoch am 21. März war endgültiger Räumungsbefehl. Der Russe stand in Schöneberg, Dirschau und gegen Danzig bei Praust. Ein Lehrerehepaar, mit einer bildhübschen Tochter von ungefähr 18 Jahren machte durch Erschießen seinem Leben ein Ende, so machten es viele. Wir hatten wieder alle Sachen auf den Treckwagen geladen und nahmen dankend von unseren Quartiergebern Abschied. Ein kalter Regenwind strich über die Straße und hatte bei aller Unannehmlichkeit doch den Vorteil, dass er die Tieffliegergefahr milderte: einige Stunden vorher, als die Sonne noch schien, hatten die Russen Bomben auf die Dörfer geworfen, die wir jetzt durchfuhren.

    Wir kamen an der Straßenkreuzung Trutenauer Eck vorbei, und da hing an einem Baum der Kommandant von Dirschau. Man hatte ihn erhängt, weil er Dirschau kampflos übergeben hatte, um die Zivilbevölkerung zu schonen und da nach seiner Ansicht der ganze Kampf mit den Durchhalteparolen sinnlos geworden war. Daneben hingen noch zwei Soldaten, die man aus ähnlichen Gründen ebenfalls aufgehängt hatte. Dieses grauenvolle Bild sollte uns von jetzt an nicht mehr loslassen; die Heimat war zur Hölle geworden. Es galt für unsere Soldaten nur noch eine Parole aus dem "Führerbefehl": Kämpfen bis zum letzten Mann. Die letzten Phasen dieses Krieges waren nur ein sinnloses Dahinschlachten geworden.

    Wir erreichten Wotzlaff, ein mit Flüchtlingen und Soldaten überfülltes Dorf. Bei meiner Seminarkollegin Anna, auf dem großen Bauernhof, fanden wir ein Plätzchen auf Stroh in der von Soldaten belegten Stube. Auf dem Treckwagen wurde abwechselnd Wache gehalten. In der Küche erstanden wir Milch für eine warme Suppe.

    Auf dem Wege nach Stutthof
    Am übernächsten Tag setzten wir die Flucht fort; wir hatten uns Stutthof als Ziel gesetzt, wo wir endgültig unser Schicksal abwarten wollten. Die Sonne schien für diese Fahrt vom Himmel, und wir sahen es wie ein Wunder an, dass wir nicht von Tieffliegern angegriffen wurden. Bei Danzig kamen wir an zerstörten Häusern und abgestürzten Flugzeugen vorbei. In Bohnsack wollten wir über eine Notbrücke fahren, wurden aber vom Brückenwachmann daran gehindert, da nach des Gauleiters Anordnungen alle Flüchtlinge nach Danzig zur Verschiffung sollten. Wir wussten jedoch, dass viele Flüchtlinge den Bombenhagel in Danzig aushielten und vergeblich auf die Verschiffung warteten, da die wenigen zur Verfügung stehenden Schiffe die Menschenmassen nicht bewältigen konnten. Eine Unterredung mit dem Brückenoffizier ergab, dass wir ausnahmsweise hinüber durften, weil wir uns drüben einen Bauernhof als Ziel gesetzt hatten, der meinem Schwager gehörte; die Papiere meiner Schwester bezeugten die Wahrheit. Glücklich über die gelungene Überfahrt hielten wir im Bohnsacker Wald Rast. Die Sonne schien wohltuend hernieder, so dass wir uns behaglich lagern konnten.

    In der Nähe stand ein kleines Haus mit einem Brunnen, von dem wir uns im Eimer Wasser heranschafften, um uns zu waschen. Irgend etwas an der Lage war belustigend, denn es bestand kaum ein Unterschied gegenüber den echten Zigeunern bezüglich unserer Lebensweise. Im Walde hatten sich viele Flüchtlinge in Erdhöhlen festgesetzt. Hier wurde einige Tage später unsere Nachbarstochter von Fliegerbomben zerrissen.

    Langsam zogen wir der Stromweichsel entgegen und erhofften auch dort gute Überfahrt. Es sollte jedoch nicht so einfach werden. In Schiewenhorst geriet unsere Fahrt ins Stocken. Vor uns stand ein langer Wehrmachtskonvoi. Ich ging mit den Kindern zu Fuß auf die Fähre und wollte sie nach unserem Beschluss an der anderen Weichselseite in Freienhuben bei Verwandten ins Bett stecken, denn es begann dunkel zu werden. Mutter und Schwester wollten mit den Kleinsten nachkommen, während Vater und meine älteste Schwester den Treckwagen bewachen sollten, um nach unserer Annahme dann später überzusetzen. Als wir am anderen Ufer ankamen, stellten wir zu unserer größten Überraschung fest, dass alle Landser, denen wir begegneten, die deutsche Sprache nur unvollkommen beherrschten. Offensichtlich handelte es sich um Hilfswillige (Hiwis), die man in deutsche Uniformen gesteckt hatte. Damit sollte also uralter deutscher Boden verteidigt werden, eine Tatsache, die uns nichts Gutes ahnen ließ.

    Das Haus der Verwandten war überfüllt von Menschen, die dicht beieinander auf den Fußböden lagerten. Nicht einmal die Treppe war frei, und so blieb der nachfolgenden Familie keine andere Wahl, als ebenfalls auf diese Art und Weise zu übernachten. Die Atmosphäre in diesem Hause hatte etwas Beängstigendes, und dementsprechend war auch die Stimmunq der Menschen. Da der Treckwagen mit Vater und meiner ältesten Schwester sich immer noch am anderen Ufer befand, machte ich mich auf, um sie abzulösen. Dort war inzwischen das angebundene Fahrrad vom Wagen gestohlen worden, ohne dass beide etwas davon bemerkt hatten. Mein Vater und ich machten es uns auf dem Bock bequem und beratschlagten, auf welche Weise wir nun den Wagen an das andere Ufer bekommen könnten, denn zunächst sollten erst einmal die Wehrmachtwagen übergesetzt werden. Da diese sich aber in einer unwahrscheinlichen Schnelligkeit vermehrten, konnten wir uns sehr schnell ausrechnen, dass unsere Chancen nicht gerade günstig waren. Zu allem Überfluss wurde uns dann noch von den Offizieren die Überfahrt verboten, und man drohte uns, den Wagen in den Graben zu kippen, wenn wir nicht schleunigst von der Straße verschwänden. Unsere Ahnungen hatten uns also nicht betrogen. Zunächst fuhren wir also erst einmal scharf rechts ran und kamen dabei so dicht an den Straßengraben, dass unser schwer beladener Wagen fest saß und nicht mehr weiter konnte. Aus einem benachbarten Wäldchen holten wir uns Hilfe durch zwei Pferde, und mit vereinten Kräften gelang es uns, den Wagen von der Straße wegzubringen in Richtung des besagten Wäldchens. Auf dem Wege dorthin überquerten wir den sauber geharkten Hof eines Bauern, der daraufhin seinen Hund auf uns hetzte, weil wir es gewagt hatten, seinen Hof zu verunzieren. Im Wäldchen angekommen, hielten wir erst einmal Rast.

    Auch in den kommenden Tagen wurde es uns von der Wehrmacht unmöglich gemacht, mit der Fähre überzusetzen. So ward das Auseinanderleben unerträglich und schließlich kam unsere ganze Familie wieder zurück, so dass wir in dem Wäldchen wieder vereint waren. überall hörten wir, dass die Flüchtlingstrecks aufgelöst werden sollten, da sie die ganzen Straßen verstopften. Wenn wir nun schon Pferde und Wagen aufgeben wollten, so wollten wir doch wenigstens versuchen, unsere Sachen auf Wehrmachtwagen mitzuschmuggeln. Mutter und ich trafen am Abend auch wirklich einen freundlichen älteren Major, der seine Soldaten mithelfen ließ, unsere Sachen auf seine Munitionswagen zu verstauen. Auf diese Weise gelang es uns, unter Tieffliegerbeschuß über die Weichsel zu unseren Verwandten nach Stutthof zu kommen, während Vater bei unserem Fuhrwerk im Wäldchen zurückblieb. Nachdem alle unsere Sachen abgeladen waren, verabschiedeten wir uns von den hilfsbereiten Soldaten, indem wir ihnen noch Zigaretten aus unserem Bestand auf den Weg mitgaben. Familie H. servierte uns ein Abendessen, dass uns gründlich stärkte nach all diesen Aufregungen. Ein warmes Lager auf dem Fußboden ließ uns bald in tiefen Schlaf fallen.

    Am anderen Morgen weckte uns strahlender Sonnenschein. Ich schwang mich auf mein Rad, um die Verbindung mit Vater an der anderen Flussseite wieder aufzunehmen. Viele Kilometer fuhr ich so auf sonnenbeschienener Waldstraße. Der Tannenwald atmete den frischen Morgen und trieb ein munteres Spiel mit Licht und Schatten. Nur die Tiefflieger, die dauernd unterwegs waren, störten dieses beschauliche Bild. Im Wäldchen traf ich meinen Vater in trauriger Verfassung an. Er hatte vergeblich versucht, seine Pferde behalten zu können; sie wurden auch ohne Fuhrwerk nicht auf die Fähre gelassen. Alle Flüchtlingspferde sollten der Wehrmacht übergeben werden. Wir waren nicht wenig erstaunt, als plötzlich der Bauer des naheliegenden Hofes erschien, der noch vor kurzem seinen Hund auf uns gehetzt hatte, und mit aller Freundlichkeit um unsere Pferde anhielt, die wir ja doch nun nicht mehr gebrauchen könnten. Vater erwiderte ihm nur ruhig: "Nein, meine Pferde bekommt die Wehrmacht!" Wie konnte der Mann nur noch die Dreistigkeit aufbringen, sich angesichts der nahenden Front bereichern zu wollen? Vater fiel der Abschied von seinen Pferden unsagbar schwer, als er sie bei einer Wehrmachtstelle ablieferte, und ich erlebte es zum ersten Male, dass ich meinen Vater weinen sah. Trotz argem Tieffliegerbeschuss gelangten wir beide wohlbehalten über die Weichsel zu den Unsrigen. Diese waren inzwischen zum Hof meines Schwagers umgezogen, der, von einem schönen Garten umgeben, nahe an der Königsberger Weichsel lag. An der anderen Uferseite lag das berüchtigte Konzentrationslager Stutthof. Wir erkannten drüben viele Baracken und Stacheldrahtzäune, auf denen Wäsche, richtiger gesagt Lumpen, trockneten. Welches Elend und Unrecht dort erlitten wurde, blieb uns verborgen.

    Der Weichseldamm gesprengt
    Inzwischen hatten die Russen den größten Teil des Danziger Werders besetzt und kamen dem Ufer der Stromweichsel immer näher. Da verbündeten sich unsere Soldaten mit dem Wasser und schickten es dem Russen entgegen. Der Weichseldamm bei Rotebude wurde durchstochen und gesprengt. Die gewaltigen Wassermassen überfluteten das Land, auch unser zurückgelassener Hof wurde somit zur Wasserburg. Diese Gelegenheit nutzten viele um mit Kähnen auf ihre zurückgelassenen Höfe und Besitzungen zu fahren. Sie hofften, auf diese Weise den Krieg am besten zu überstehen, konnten aber nicht ahnen, dass wenig später der Hungertod auf sie wartete.

    Stutthof, wo wir uns aufhielten, lag vor der Überschwemmung geschützt zwischen den beiden Armen der Königsberger und Elbinger Weichsel. In der großen guten Stube konnten wir alle in Betten schlafen. Die drei Schwestern meines Schwagers waren noch daheim; sie bewirteten uns, als wäre jeden Tag Sonntag. Eine Veterinär-Kompanie hatte sich im Hause einquartiert. Obwohl Schlachtvieh im Übermaß im Stall und auf den Weiden vorhanden war, bekamen die Soldaten fast nur Pferdefleisch zu essen. Sie waren darüber aber gar nicht so betrübt, da es, gut zubereitet, allen vortrefflich mundete.

    Die Sonne schickte immer mehr wärmende Strahlen zur Erde, und diese ahnte den kommenden Frühling. Wir harkten im Garten die Wege und saßen dann und wann in der Laube. Die Wäsche im Freien aufzuhängen, wagten wir kaum, denn sie hätte nur zu den feindlichen Fliegern hinauf gewinkt, und denen wäre es dann eingefallen, uns persönlich zu besuchen. Sie taten es ohne diese Herausforderung schon oft genug. Da wir es gar nicht schafften, so oft und schnell in den Laufgraben der Soldaten zu springen, duckten wir uns meistens nur hinter die Federbetten, während von den Bombeneinschlägen der Dreck an die Fensterscheiben spritzte. Ringsherum wurden Höfe getroffen, gab es Tote und Verwundete. Bald hatten wir uns angewöhnt, bei Fliegerbeschuss in den massiven Stallgang zu flüchten, wo wir dann dicht gedrängt im Dunkeln standen. Zwischen unseren Beinen suchte dann immer winselnd und jaulend ein Offiziershund Schutz.

    Man munkelte überall von Verschiffung der Zivilbevölkerung. Um Erkundigungen darüber einzuziehen, setzten Gerda und ich uns eines Tages auf unsere Räder. Der Himmel schickte klaren Sonnenschein, ein Wetter, dass jeder Flieger ausnutzte. Die russischen Tiefflieger kamen darum recht viel, und wir mussten oft im Graben Schutz suchen. Wir machten einen kleinen Abstecher zum Bauernhof von Gerdas Verwandten, wo wir das ganze Haus von Soldaten und Zivilisten belegt vorfanden. Der Besitzer selbst hatte sich mit seiner Familie im Keller verschanzt und öffnete uns erst die Kellertür, nachdem wir uns legitimiert hatten. Von der Verschiffung hielten sie persönlich nichts, weil man dann für immer seinen Hof aufgeben musste. Wir fuhren also weiter nach Letzkauerweide, wo die Kirche von Bomben stark mitgenommen war. Beim Pastor erfuhren wir, dass Prahmfähren in Schiewenhorst eingesetzt seien, um die Flüchtlinge bis nach Heia zu bringen. Von dort aus sollten sie mit großen Schiffen nach Schleswig-Holstein gebracht werden. Diese Auskunft genügte uns, und wir fuhren wieder zurück. Inzwischen hatten verschiedentlich die Fliegerbomben die Straße aufgerissen, und uns gaben die russischen Flieger während dieser Fahrt ebenfalls Gelegenheit genug, im beschleunigtem Tempo die Straßengräben aufzusuchen, um mit heiler Haut davonzukommen. Endlich ließen wir auch den Wald hinter uns und radelten auf dem Landweg weiter.

    Endlich trafen wir bei unserer Familie wieder ein. Noch am selben Tage sauste ein Bordwaffengeschoss durch die Hauswand und weiter durch das Küchenfenster ins Vorhaus, dicht an Mutter vorbei, die mit dem jüngsten Enkelkind in den Stallgang eilen wollte. Der Schreck darüber bekräftigte unseren Vorsatz, auf alle Fälle die Verschiffung zu wagen. Aber sogleich tauchten auch Bedenken auf. Der Seeweg setzte uns Angriffen durch U-Boote und Gefahren durch Fliegerangriffe aus; in beiden Fällen stand uns der Tod im nassen Element bevor. Hatte man aber Glück, dass das Schiff unbehelligt den Bestimmungshafen erreichte, so war man zunächst einmal der größten Gefahr entronnen. Ausschlaggebend war letzten Endes die Ansicht unserer Soldaten, die in unserem Falle diese Möglichkeit auf alle Fälle ergriffen hätten, um mit heiler Haut aus dem Kessel herauszukommen. So gingen wir dann entschlossen an die Vorbereitungen.

    Am späten Abend klopften uns bekannte Mädel an die Tür. Sie hatten vor, sich verschiffen zu lassen, und baten für diese Nacht um ein Lager. Kurioserweise hatten sie ihre besten Sachen angezogen nach dem Motto: "Vornehm geht die Welt zugrunde." Überhaupt haben wir an diesem Abend noch viel gelacht und uns selbst darüber gewundert angesichts unserer nicht gerade hoffnungsvollen Lage, denn der Kessel war inzwischen nur noch an der Seeseite offen. Außerdem schossen seit einigen Tagen die Russen mit ihrer Artillerie schon über unsere Köpfe bis nach Stutthof hinein.

    Am nächsten Tage packten wir unser Handgepäck. Es fiel uns schwer, eine so geringe Auswahl der Dinge zu treffen, aber die Umstände erforderten es. An unser leibliches Wohl mussten wir ebenfalls denken, weil wir nicht wussten, ob wir während der Überfahrt Proviant erhalten würden. Auf den Körper zogen wir doppelt und dreifach Kleidung und Wäsche. Der älteste Junge meiner Schwester zählte zehn Jahre und bekam ein Federbett auf den Rücken gebunden. Drei weitere Steppdecken mit Schafwolle gefüllt zählten zum Handgepäck. Jeder hätte versuchen sollen, ein Federbett mitzunehmen, diese weise Überlegung hatten wir aber schon eingebüßt. So ließen wir also den Schatz an Federbetten, die Mutter alle selber für die Aussteuer ihrer Töchter gestopft hatte, in eine große Kiste gleiten und beschrifteten sie mit unserem Namen. Dasselbe geschah mit all den anderen Sachen. Wir betrachteten die Kisten noch einmal in dem irren Glauben, sie nach einigen Wochen unversehrt wiederzufinden.

    Am 8. April 1945 bestiegen wir alle mit unserem Handgepäck einen Wagen und fuhren zur Weichselmündung. Es war dunkle Nacht. Wir hofften, bald eine Prahmfähre besteigen zu können. Das Weichselufer war von unzähligen Menschen bevölkert. Nacht und Menschen ineinander verschmolzen, wirkten wie eine schwarze bewegliche Masse. Ein aufsteigender Nebel machte dieses Bild noch verschwommener. Da es unmöglich war, mit dem Wagen bis ans Ufer zu gelangen, mussten wir auf der Dammhöhe halten. Mit unserem Gepäck und den Kindern an der Hand tappten wir durch die Dunkelheit zum Ufer hinunter.

    Es vergingen Stunden, doch keine Prahmfähre legte am Ufer an. Der Nebel hüllte uns alle in seinen kühlen Schleier. Wir horchten in die Stille. Allmählich erfasste uns stumme Hoffnungslosigkeit, weil keiner wusste, wo die Fähren geblieben waren. Müde, hungrig und durchgefroren beobachteten wir, wie es langsam Tag wurde. Da ergriffen wir erschlossen unser Handgepäck und hatten das Glück, mit einem fremden Pferdefuhrwerk wieder zurück nach Stutthof gebracht zu werden. Nur Anneliese und ich fanden keinen Platz mehr auf dem Wagen und mussten die 14 Kilometer auf Schusters Rappen zurücklegen. Es dauerte nicht lange, da brach die Morgensonne so wärmend und freundlich hervor, als wollte sie uns ermutigen. Merkwürdigerweise war ringsherum nichts vom Krieg zu spüren, denn kein einziger Schuss fiel. Fast unnatürlich wirkte diese ungewöhnliche Stille. Sie erweckte in uns die verräterische Hoffnung, dass der Krieg in dieser Nacht beendet worden sei. In diesem Falle war es ja ein Segen, dass wir die Heimat noch nicht verlassen hatten. Jubelnd, als ob es so wäre, liefen wir quer über die Felder auf den Hof zu und ließen uns müde in die Federbetten fallen. Wenige Stunden trügte uns diese Hoffnung, dann lärmte der Krieg plötzlich wieder, für unser Empfinden noch grausamer. In der Nacht standen viele Christbäume am Himmel und erhellten die Nehrung, auf der die Bomben ihr Ziel suchten. Da kamen wir uns wieder so jämmerlich vor und bedauerten, nicht länger auf die Fähre gewartet zu haben, denn wir hatten inzwischen erfahren, dass sie am Morgen, als sich der Nebel vollends aufgelöst hatte, doch noch gekommen war. Von der Wehrmacht wurde der Zivilbevölkerung jetzt befohlen, sich unbedingt verschiffen zu lassen.

    Am kommenden Tag fuhren uns Soldaten auf einem Wagen nach Schiewenhorst ans Wasser. Dieses Mal hatten wir uns mit leichterem Handgepäck versehen, denn wir wollten im Dunkeln einander nicht verlieren. Die Soldaten blieben vorsichtshalber mit ihrem großen Bretterwagen am Ufer stehen, um uns gegebenenfalls wieder mit zurücknehmen zu können. Die ganze Nacht verbrachten wir auf diese Weise zusammengekauert auf dem Wagen, bis endlich gegen Morgen eine Fähre am Ufer anlegte. Wir stürmten förmlich zur Fähre, aber als wir endlich an der Reihe waren, war sie schon voll belegt. Trotzdem wurde für meine älteste Schwester und deren Kinder noch Platz geschaffen, wir anderen sollten zurückbleiben. Da baten wir, uns auf das Wellblechdach setzen zu dürfen. Es wurde erlaubt, und so kletterten wir geschwind auf das runde Dach, plazierten uns auf die erhöhte Mitte, um vor dem Abrutschen ins Wasser gesichert zu sein. Unerhörtes Glück hatten wir mit Vater, dass er gerade das einundsechzigste Lebensjahr überschritten hatte, denn unter diesem Alter mussten alle Männer für den Heimateinsatz zurückbleiben. Endlich stieß die Fähre vom Ufer ab und glitt zur offenen See hinaus.

    Überfahrt nach Hela
    Das Wasser spritzte spielerisch bis zu uns auf das Dach. Das Ufer der Heimat entschwand unseren Blicken. Vor uns tauchte Hela auf. Oft waren die Flüchtlinge auf der Halbinsel Hela abgesetzt worden und dann so schnell wie möglich von großen Schiffen übernommen worden. Doch während des kurzen Aufenthaltes auf der Insel hatten noch viele durch feindlichen Beschuss den Tod gefunden. Aus diesem Grunde legte unsere Fähre sofort am Hilfskreuzer "Orion" an, der auf Flüchtlinge wartete. Ein Matrose wies uns Wohnraum 11 im Mittelschiff an. Zu 52 Personen fanden wir Platz in dem kleinen Wohnraum der Matrosen, die ihn für uns geräumt hatten. Nur einer blieb als unser Betreuer zurück. Endlich wärmten unsere Körper wieder durch, und wir legten einige Sachen ab. Durch einen Lautsprecher vernahmen wir ruhige und freundliche Begrüßungsworte des Kapitäns. Anschließend erklärte uns unser Betreuer, dass wir wirklich ohne Sorge sein könnten, denn das Schiff sei gut bewaffnet und hätte schon manchen Kampf bestanden. Außerdem fahre uns ein Minensucher voraus. Wir sollten uns lieber auf Dänemark freuen, der Hilfskreuzer laufe wahrscheinlich Kopenhagen an.

    Nach diesen Worten wich allmählich die Angst von uns, und wir fühlten uns bald geborgen. Zum Mittag gab es schon eine warme kräftige Suppe für die Erwachsenen, für die Kinder einen süßen Milchbrei und für die Säuglinge warme Flaschenkost. Gesättigt und durchwärmt war vom Säugling bis zum Greis alles zufrieden. Am Nachmittag erhielten wir reichlich Kaltverpflegung. Durch die zwei Bullaugen blinzelte die Sonne vergnügt auf die weiß gescheuerten Holztische. Plötzlich Alarm! Wir wurden aufgefordert, schnellstens die Bullaugen zu schließen, und dann waren auch schon alle Matrosen an Deck bei ihren Geschützen. Feindliche Bomber versuchten, unsere Fahrt zu verhindern. Wir vernahmen das Brummen der Flugzeuge und die Abschüsse der Schiffsflak, ohne dass wir direkte Beunruhigung empfanden.

    Nach dem Luftangriff erfuhren wir, dass die feindlichen Flieger ein unbeladenes Handelsschiff getroffen hatten. Dafür hatte unsere Flak zwei feindliche Maschinen heruntergeholt. Zur Nacht kletterten zwei bzw. drei Personen in eine Koje, wir Jugendlichen lagen auf den Tischen. Am nächsten Morgen hatten wir im Waschraum Gelegenheit, mit warmem und kaltem Wasser unseren Körper zu reinigen. Für Verpflegung wurde wieder gut und reichlich gesorgt. So gingen wir kaum an unsere mitgenommenen Vorräte.

    Inzwischen hatte unser Schiff die Fahrt aufgenommen. Gegen Mittag gingen wir alle an Deck, damit die Matrosen die Kajüte reinigen konnten. Um uns herum sahen wir ruhige, spiegelglatte See, über die sich ein klarer und blauer Himmel wölbte. Der Sonne gefiel es, das weite Wasser in ihr silbernes Licht zu tauchen. Vom Oberdeck aus sahen wir das ganze Geleit, in dem wir als Führungsschiff fuhren, uns voraus ein schöner, weißer Sperrbrecher. Man glaubte, im Paradies zu sein, wenn man an die Unruhe im Kessel zurückdachte. Am Abend, als sich die Luft in der Kajüte übermäßig erwärmt hatte, stiegen wir wieder an Deck, über uns ein sternenklarer Himmel, ruhige, verträumte Nacht. Vom Oberdeck klangen wehmütige Seemannslieder in die Stille. Nichts störte diesen Frieden, in rascher Fahrt glitt das Schiff durch das Wasser mit Kurs Dänemark.

    Etwa 3000 Flüchtlinge hatte "Orion" aufgenommen. Während wir zu den Glücklichen gehörten, die in einem Raum untergebracht waren, lagerten unzählige Menschen in den Hallen, Gängen und auf den Treppen. Sie wurden viel gestört und getreten von denen, die versuchten, die Toiletten zu erreichen. Endlich dort angekommen, musste man manchmal eine Stunde lang anstehen. Dieser Zustand ließ sich aber leider nicht ändern. Als unbequeme Mitreisende lernten wir Kopfläuse kennen, denen wir aber schnellstens den Garaus machten. Wenn es irgendwann unruhig im Raum wurde, ergriff meine Schwester ihr Schifferklavier und spielte. Sofort verstummten auch die schreienden Säuglinge, und die Ruhe war wiederhergestellt.

    Am 11. April vormittags lief unser Schiff in den Freihafen von Kopenhagen ein. Wir saßen an Deck in den Rettungsbooten und sonnten uns. Am 12. wurden die Leute von Deck und aus den großen Hallen ausgeladen, während wir am 13. das Schiff verließen. Regenwolken bedeckten den Himmel und ließen ihre Wassermassen zur Erde gleiten. Wir standen mit unserem Gepäck am Ufer des Freihafens, während die Matrosen rein Schiff machten. Durch unseren Betreuer bekamen wir heimlich zwei Flaschen Milch zugesteckt für den Fall, dass wir vorerst nicht versorgt würden. Bald fuhr uns ein Autobus zu völlig leeren Baracken, die mit nasskalter Luft angefüllt waren. Ein Duft von Stroh, das in Mengen vorhanden war, schlug uns entgegen. Mit Hilfe eines Tauchsieders wurde die Milch für die Kleinsten erwärmt, und dann kuschelten wir uns ins Stroh. Erst gegen Abend steckte ein Däne seinen Kopf zur Tür herein und meinte, wir seien wohl an einen verkehrten Ort gebracht worden. Aber uns interessierte das im Augenblick nicht, denn wir waren müde und wollten nur noch schlafen. Das taten wir denn auch und hielten den ersten ruhigen Schlaf seit dem Verlassen unseres Hofes.

    Beim Erwachen betrachteten wir erst einmal in Ruhe unsere Umgebung. Von der Straße her wurde es lebendig, etliche Flüchtlinge wurden gebracht, und so entstand das Flüchtlingslager in Baggersmind. Das Strohlager auf der Erde blieb, aber im Nebenraum richteten wir uns eine Wohnstube ein, Aus Strohpaketen und Steppdecken entstand eine schöne Couch. Aus dem Garten holten wir einen langen Tisch, und schließlich fanden wir draußen noch eine Bank. Die mitgebrachten Handarbeitsdecken wurden aufgelegt, und dann fabrizierten wir aus Konservendosen Wandvasen und steckten an das Fenster aus buntem Stoff eine Gardine. Wir waren recht stolz und glücklich über die geschaffene Gemütlichkeit.

    Nur wenige Kilometer von uns entfernt, nahe dem Küstenort Dragör, lag verschlafen und still das Gut Sögaard. Unsere deutschen Soldaten hielten Dänemark noch besetzt und hatten dieses Gut nahe dem Flugplatz Kastrup beschlagnahmt. Sie suchten Arbeitskräfte und fragten in unserem Lager nach Freiwilligen. Wir meldeten uns sofort, packten schnell unsere Sachen zusammen und wurden bald mit Bretterwagen abgeholt. Vom Gut aus fuhr uns eine Frau wegweisend mit dem Fahrrad voraus und brachte uns in ein nahes Strandviertel von Dragör, das aus entzückenden Sommerhäuschen bestand. Uns wurde das Häuschen "Marselis" zugewiesen. Die kommenden Wochen ließen uns körperlich und seelisch gesunden und wieder zu wahrhaft frohen Menschen werden. Die kleine Villa war von einem lauschigen Garten umgeben. Eng an die Hauswand schmiegten sich Steinbeetpflanzen. Das Häuschen selbst bestand aus einem Wohnraum, der durch die großen Fenster wie ein Wintergarten wirkte, einem Schlafzimmer, einem Kinderzimmer und einer kleinen modernen Küche. Die Besitzer des Häuschens hatten selbstverständlich ihre Einrichtung bei der Beschlagnahme entfernt. So blieb uns keine andere Möglichkeit, als mit Wehrmachtmöbeln eine gewisse Gemütlichkeit zu schaffen. Von unserer Familie gingen Vater, meine älteste Schwester und ich zur Arbeit auf das Gut. Aber es gab nicht viel zu tun. Ein alter Herr Svensen wies uns die Arbeit zu und schickte uns mit kleinen Hacken in die Treibhäuser der Gärtnerei. Viel zu schnell waren wir mit seinen Aufträgen fertig, und er konnte nicht begreifen, dass wir so stürmisch nach mehr Arbeit verlangten. Am schönsten waren die Essenpausen, in denen wir die naheliegende Kantine aufsuchten. Es gab dort Würstchen, Milch und Kuchen, und alles konnten wir uns leisten, denn wir hatten ja dänische Kronen in den Taschen. Doch nach kurzer Zeit wurde diese Wehrmachtkantine geschlossen. Seitdem kauften wir in Dragör viele Eier zu billigen Preisen. Als nächste Beschäftigung mussten wir von den Feldern Steine und Stöcke auflesen, die in reicher Zahl vorhanden waren. Eines Tages beorderte man uns nach Kastrup, wo wir offiziell von der Luftwaffe übernommen wurden; nun galten wir als Bodenpersonal. Der wichtigste Teil dieser Zeremonie war für uns die gleichzeitig damit verbundene erste Löhnung (30 Kronen), die wir fast restlos für Verpflegung ausgaben. An allen Tagen besuchten uns deutsche Landser, die endlich wieder einmal eine deutsche Familie erleben wollten. Auf diese Weise verbrachten wir manch eine schöne Abendstunde bei Schifferklaviermusik und Erzählungen. Es waren meistens Familienväter, die den Weg zu uns fanden. Einer von ihnen war Ostpreuße und Vater von elf Kindern. Er wusste nichts von seiner Familie, seit Ostpreußen vom Russen überrannt worden war. Auf seine Kosten erhielten wir täglich Milch für unsere Kinder und so manches andere.

    Merkwürdig fanden wir nur, dass auf den Straßen selten ein Kind zu sehen war. Wir schlossen darauf auf große Kinderarmut, sollten aber bald eines Besseren belehrt werden. Nämlich am Tage der Kapitulation zogen große Scharen von Kindern und Erwachsenen zum Flugplatz Kastrup, wo die englischen Flugzeuge landeten und die englischen Flieger wie willkommene Befreier jubelnd begrüßt wurden. Für uns war es ein deprimierender Tag. Die Feststellung, dass die Dänen ihre Kinder vor uns versteckt gehalten hatten, bedrückte uns sehr. Wir packten vorsichtshalber wieder unser Handgepäck, da wir nun wahrscheinlich nicht weiter das Häuschen bewohnen durften. Die deutschen Soldaten hatten schon Bescheid erhalten, nach Deutschland abzuziehen. Sie brachten uns ihre restlichen Vorräte, unter anderem auch eine neue "Singer"-Nähmaschine.

    Mit der Kapitulation war unsere Arbeit auf dem Gut beendet. Unsere neue vorgesetzte Dienststelle wurde das deutsche Lazarett in Dragör, das vorläufig noch dort verblieb. Wir selber mussten bald in eine ehemalige Offiziersbaracke umziehen. Eine Woche verlebten wir nur in ihr, aber während dieser Zeit lernten wir die erste Razzia kennen. Sie kam überraschend für uns und wurde von einigen Dänen durchgeführt, die alles wild durcheinander wühlten. Gesucht wurden Waffen und Kronen, erstere besaßen wir nicht, die letzteren fanden sie nicht. Unter ihren Füßen zersplitterten die Bilder von Deutschlands führenden Männern, die bisher die Offiziersbaracken geschmückt hatten. Unsere nächste Unterkunft fanden wir in einer Luftwaffenbaracke hinter Dragör; sie gehörte zu einer Barackengruppe, die zwischen der See und einem Wäldchen lag. Mit den anderen Insassen zählten wir 48 Personen. Man war schnell miteinander bekannt und bildete eine Gemeinschaft, die nicht getrübt wurde. Vom Lazarett erhielten wir sehr gute Verpflegung, und nebenbei belieferte uns wöchentlich das Dänische Rote Kreuz ebenfalls noch mit Lebensmitteln. Es ging uns also unter den gegebenen Umständen wirklich nicht schlecht. Wir konnten uns frei bewegen und unternahmen viel Spaziergänge in die Umgebung. Unter anderem besuchten wir auch Kopenhagen, schlenderten durch Grünanlagen der Zitadelle und fanden die Hauptstadt Dänemarks sehr schön. Die dänischen Frauen trugen recht farbenprächtige Kleidung, und zwar vorwiegend einfarbige Stoffe und dazu lustige Kopftücher. Seitdem wir Flüchtlinge waren, zierte auch uns ein Kopftuch, und so fielen wir in keiner Beziehung als Deutsche auf.

    Während einer Autobusfahrt hatten wir ein erfreuliches Erlebnis. Meine älteste Schwester und ich saßen still nebeneinander, um uns als Deutsche nicht zu verraten, als es plötzlich hinter uns raschelte und über unsere Schulter ein Stullenpaket in den Schoß glitt. Bald darauf folgte eine Apfelsine und etwas später noch eine Packung Zigaretten. Die Art, in der dieses geschah, ließ uns vermuten, dass der Spender nicht erkannt werden wollte. Scheu blickten wir hinter uns und sahen eine blonde Dänin, die keine Miene verzog und gleichgültig zum Fenster heraus sah. Wir nahmen uns vor, ihr beim Aussteigen unauffällig zu danken. Leider konnten wir diese Absicht nicht ausführen, weil sie ganz plötzlich unseren Blicken entschwunden war, sehr wahrscheinlich um mit ihren eigenen Landsleuten nicht in Konflikt zu geraten.

    In dänischer Internierung
    Kaum einen Monat lebten wir auf diese Weise, dann wurden die leerstehenden Baracken mit 500 Flüchtlingen belegt, die bisher in großen Zementhallen in Kopenhagen gelegen hatten. Die Neuankömmlinge starrten unsere beiden Kleinsten wie Wundergeschöpfe an, denn sie hatten alle ihre Kinder bis zum zweiten Lebensjahr hergeben müssen. Der Typhus hatte sie dahingerafft. Aber nicht nur die Kleinsten waren gestorben, sondern auch viele Jugendliche und Erwachsene. Da wurde uns so recht bewusst, wie reich wir noch waren. Wir kamen mit ihnen ins Gespräch, und unter anderem erzählte ein alter ostpreußischer Bauer, dass sie daheim noch die ersten russischen Truppen erlebt hätten. Es seien gut uniformierte und freundliche Russen gewesen, die dem Bauern geholfen hätten, seinen Treck schnell fahrbar zu machen, da sie nicht für die Horden garantieren wollten, die man hinter ihnen eingesetzt hatte.

    Eines Tages, es war der 11. Juni 1945, ging ich mit einem verwundeten deutschen Unteroffizier auf der Wiese zwischen unseren Baracken und den dänischen Villen spazieren. Plötztlich trat ein bewaffneter Däne auf uns zu und verbot uns, auf der Wiese zu sein. Wir gingen auf dem Wege zur Baracke zurück. Jetzt wurden wir aber von vorne angerufen: "Runter von der Straße, oder wir schießen!" Wir sahen ungefähr 150 Meter vor uns mehrere Dänen an einem Auto stehen. Während mein Begleiter rief "Ich gehe ja gleich in die Baracke, aber noch die paar Schritte vorwärts, denn ich werde doch nicht über den Graben springen!" krachte ein Schuß. Das Folgende spielte sich blitzschnell ab. Schon raste der Wagen auf uns zu, und mehrere Fäuste bugsierten den sich zur Wehr setzenden Soldaten ins Auto. Dann fuhren sie mit ihm auf und davon. Seine Kameraden standen vor der Baracke und waren vor Staunen sprachlos. Ich lief schnell auf unsere Unterkunft zu und begegnete auf diesem kurzen Wege einigen bewaffneten Dänen, die sich an meiner Furcht ergötzten. Gleich mir waren viele andere junge Mädels unterwegs, aber nach mir wurden alle, die in die Baracken wollten, angehalten und an einen nahen Stacheldrahtzaun gestellt, wo sie weder sprechen noch sich bewegen durften. Die Eltern sahen es und trauten ihren Augen kaum. Alle Empörung war vergebens. Die Mädel mussten einen Wagen besteigen und brausten ebenfalls davon. Bange Stunden verrannen. Endlich, um die Mitternachtszeit, kamen die Mädchen zu Fuß zurück. Man hatte sie im Keller des dänischen Kommandanten eingesperrt. Den deutschen Landser sahen wir am kommenden Tage wieder. Er hatte ebenfalls im Keller logiert, die Wertgegenstände waren ihm abgenommen worden, und beim Durchsehen seiner Papiere hatten die Dänen festgestellt, dass er ein besonders ausgezeichneter Frontsoldat gewesen war, was sie erst recht in Wut versetzte. Mit vorgehaltenem Revolver musste er sich allerhand Gemeinheiten sagen lassen. Dann hatte man ihn allein gelassen und anschließend mit einigen Schüssen die Kellertür durchlöchert. Als er das Hantieren an den Gewehren - diese Geräusche waren ihm als alten Soldaten nicht unbekannt - vernommen hatte, war er schnell in Deckung gegangen und so ungeschoren davongekommen. Bald darauf hatte man ihn fotografiert und in der Zeitung fand sich am nächsten Tage darunter die Bemerkung: "Kaum sind die deutschen Landser genesen, so treiben sie sich auch schon mit Flüchtlingsmädchen herum." Unterdessen hatten seine Kameraden den Vorfall der englischen Besatzung gemeldet, die gegen Morgen sofort die Freilassung des Deutschen durchsetzte.

    Es wimmelte plötzlich überall von dänischen "Freiheitskämpfern", die zum Teil sehr jung und frech waren. Viele verstanden noch nicht einmal, mit dem Gewehr umzugehen. Mit unserer Freiheit war es vorbei. Ein Stacheldrahtzaun wurde im engen Umkreis um die Baracken gezogen, und jedes Verständigen geschweige Sprechen mit den deutschen Verwundeten der Lazarettbaracke wurde verboten. Da wir das Essen von der Lazarettküche holen mussten, die noch etwa 150 Meter hinter der Verwundetenbaracke lag, ließ man uns zu dritt zur Küche marschieren. Ganz gleich, ob es regnete oder nicht, erst mussten alle Essenholer da sein, ehe sich der Zug in Bewegung setzte. Vor, hinter und neben uns begleiteten uns die "Freizeitkämpfer", wie wir sie nannten, mit aufgepflanztem Bajonett. So ärgerlich das war, entbehrte diese Situation doch nicht einer gewissen Komik. Die Freizeitkämpfer taten, als ob wir gefährliche Flintenweiber seien. Während wir an der Lazarettbaracke vorbeizogen, mussten die Verwundeten vom Fenster verschwinden und in ihre Betten kriechen. Jeder "Freizeitkämpfer", der ein Mädel mit einem Soldaten ertappte, erhielt vom Kommandanten zehn Kronen als Belohnung.

    Ein Däne namens Sölberg übernahm die Leitung unseres Lagers. Bei der Begrüßung nannte er uns nur deutsche Schweinehunde und öffnete die Barackentüren mit einem Fußstoß, damit er sich ja nicht die Hände beschmutze. Zum Zeichen seiner Macht führte er gemeinsam mit den "Freizeitkämpfern" eine gründliche Razzia durch. Wir mussten alle auf den Hof hinaustreten. Dann trugen sie sämtliche eisernen Bettgestelle hinaus und ließen pro Person nur zwei Wolldecken zurück. Alle anderen Decken wurden mit den Betten auf einen Lastwagen geladen und weggebracht. Der Kommandant stand auf dem Standpunkt, dass alles Wehrmachteigentum nun in dänischen Besitz überzugehen habe. Auf unsere Bitte hin ließ man uns wenigstens die Nähmaschine, die man aber sofort zu Protokoll nahm, um im Falle eines Abtransportes gegen die Mitnahme gesichert zu sein. Doppelte Holzbettgestelle wurden herangefahren und auf Sölbergs Befehl die Räume nach KZ-Muster eingerichtet. In Buchenwald sei es genauso gewesen, erklärte er uns. Bald wurden auch die Verwundeten nach Deutschland abtransportiert. Um die Vorräte nicht den Dänen zu überlassen, backten sie für uns Flüchtlinge riesige Zuckerkuchen, wovon die Dänen natürlich nichts erfahren durften. So kam eines Tages wie üblich der Wehrmachtwagen mit den großen Mülltonnen ins Lager gefahren. Die Tonnen waren fein sauber gescheuert, mit Papier ausgelegt und bis oben hin mit Kuchen angefüllt. Der Streich war gelungen, und wir haben wohl selten so herzhaft lachend in ein Stück Kuchen gebissen wie damals.

    Bald wurde das Lazarett ganz aufgelöst und die Küche von uns Flüchtlingen übernommen. Mit einem Schlage setzte eine Verschlechterung der Verpflegung ein. Ein Flüchtling wurde als deutscher Lagerleiter gewählt, der jedoch dem dänischen Kommandanten unterstellt blieb. Es gab für uns keinen Ausgang, jegliche Postverbindung mit Deutschland fehlte.

    Die "Freizeitkämpfer" sollten uns endlich verlassen und von dänischer Polizei abgelöst werden. Die Polizisten machten einen ordentlichen Eindruck und waren auch in ihrer Art uns gegenüber von einer taktvollen Zurückhaltung. Laufend vergrößerte sich das Lager, wozu viele neue Baracken aufgestellt werden mussten. Die kleinen Lager in und um Kopenhagen wurden aufgelöst und die Insassen in unser Lager gebracht. So verschwanden die Grasflächen immer mehr, und nur ein grasbewachsener Hügel blieb von Baracken verschont. Wir nannten ihn den Hügel der Sehnsucht, denn von ihm blickten wir über den Stacheldrahtzaun hinaus über einige Felder und Bäume direkt auf die offene See. Er umriss mit seinem Namen also die ganze Atmosphäre, die Menschen hinter Stacheldraht bewegen.

    Das Leben hinter Stacheldraht
    Für die eingerichtete Schulbaracke stifteten die Dänen einiges Hilfsmaterial, die Lehrkräfte fanden sich unter uns Flüchtlingen. Ich selbst wollte etwas für die vielen kleinen Kinder tun und mich als Kindergärtnerin zur Verfügung stellen. Der dänische Lagerleiter war sehr dafür. Er stellte mir sofort die beste Baracke zur Verfügung. In den ersten zwei großen sonnigen Räumen haben die Kleinen viel gespielt, Kinderlieder gesungen, sich im Kreise gedreht und den alten deutschen Volksmärchen gelauscht. Zwei fünfzehnjährige Mädels, Hannchen und Gisela, standen mir hilfreich zur Seite. Hannchen konnte reizend die Laute spielen und hatte bei den Kindern andächtige Zuhörer. Gisela war ebenfalls mit ganzem Herzen bei der Sache. Ganz überraschend fand Gisela durch ein bösartiges Furunkel an der Stirn den Tod, was uns sehr erschütterte. Noch hatten wir Auslauf auf den Grashügel und wanderten gerne bis zur entlegenen Lazarettbaracke, wo wir am Grabenufer unser Frühstück verspeisten. Eine unvorhergesehene Vergünstigung brachte die Einführung des Kindergartens für unsere Familie mit sich. Der dänische Lagerleiter bot uns zwei kleine Räume in der Kindergartenbaracke zum Wohnen an. Allerdings mussten wir in einem Raum noch drei fremde Flüchtlinge aufnehmen.

    Der Stacheldraht hinderte verschiedene Frauen nicht, das Lager trotzdem heimlich zu verlassen. Die Posten waren zum Teil deutschfreundlich und drückten beide Augen zu, wenn eine Frau nachts mit einer Schere den Zaun durchschnitt und auf allen Vieren das Weite suchte. Das nächtliche Wanderziel des größten Teiles dieser Frauen waren meistens freundlich gesinnte dänische Familien, die sie vor der Kapitulation kennengelernt hatten. Andere suchten hinter dem Zaun ein Wiedersehen mit einem dänischen Freund; es gab sogar Verlobungen. Einige wollten auf den Feldern organisieren. Am verlockendsten waren die riesigen Rhabarberfeder.

    Des öfteren geschah es, dass zwei dänische Frauen mit ihren Kinderwagen hinter dem Zaun entlangfuhren und hastig den Wagen Pakete entnahmen, die sie schnell über den Zaun warfen. Rasch entfernten sie sich, um von den Posten nicht bemerkt zu werden. Aber dann blieben sie plötzlich aus, und es war anzunehmen, dass ihre Landsleute ihre Tätigkeit bemerkt hatten und sie bestraft worden waren. In den Paketen fanden wir Naschereien für unsere Kinder und aufmunternde biblische Sprüche. Zu unserem Erstaunen baute man jetzt einen neunfachen Stacheldrahtzaun um das ganze Lager. Dahinter legten die Dänen eine Drahtrolle, ließen dann einen Gang für die Posten frei und errichteten nochmals einen gleichen Stacheldrahtzaun, dessen Pfosten oben in einer schrägen galgenähnlichen Form ausliefen. Um nun die Sache zu vervollständigen, brachte man auf hohen Masten rings um das Lager auch noch Beleuchtungskörper an.

    An einem Sonntag sahen wir unseren dänischen Lagerleiter eilig unsere Baracke betreten, unter dem Arm trug er ein großes Paket. Mit strahlendem Lächeln auf seinem breiten Gesicht entnahm er dem Paket Puppen, Bilderbücher, Klötze und allerlei anderes Spielzeug, wobei er meinte: "Ich habe bei deutschfreundlichen Familien gesammelt. Die Sachen sind nicht neu, aber ich dachte, die Kinder würden sich freuen." Und ob sie sich freuten, denn endlich hatten die Kleinen richtige Spielsachen! Seitdem wir bei unserem Lagerleiter sein Herz für Kinder entdeckt hatten, stieg er in unserer Achtung. Vor allem gab er sich auch Mühe, gerecht zu sein, musste dann aber doch vor der Ungerechtigkeit kapitulieren, die wir Deutschen uns selber zufügten.

    Trostloser Winter
    Der erste Winter hinter Stacheldraht wurde bedrückend. Was der Winter sonst an Freuden mit sich bringt, blieb uns versagt. Wir spürten nur seine kalte, nasse Trostlosigkeit. Die Hauptmahlzeiten bestanden aus verfrorenem Gemüse, vorwiegend Steckrüben, Möhren und Kartoffeln. Als dann auch noch die angefrorenen Kartoffeln ausblieben, wurden die Mahlzeiten nur noch mit Grütze angedickt. Alle Frauen des Lagers bis zum 65. Lebensjahr mussten sich am Gemüseputzen beteiligen. Manch eine Frau versuchte heimlich, etwas Gemüse einzustecken, so dass wir schließlich kontrolliert wurden. Die Kartoffelschalen landeten vor der Küchenbaracke, wo mein Vater oft so lange mit seinem Handstock herumstocherte, bis er einige ganz kleine Kartoffeln fand. Mit der Miene eines erfolgreichen Schatzsuchers kam er dann zurück, worauf Mutter mit Hilfe der Margarinezuteilung Bratkartoffeln herstellte. Die eigentliche Fleischzuteilung, die unsere Lagerküche erhielt, haben wir in unserer zugeteilten Kelle mit der Lupe suchen müssen. Es bewährte sich aber das alte Sprichwort: Der Hunger treibt's rein. Denn die ersten Löffel voll, in Heißhunger gegessen, schmeckten tatsächlich. Wir trösteten uns mit der Kaltverpflegung, die pro Person täglich wie folgt aussah: 350 g Schwarzbrot, 150 g Weißbrot, 20 g Margarine, 25 g Käse, 25 g Wurst und 15 g Zucker. Für die Kinder bis zum zehnten Lebensjahr wurde täglich ein halber Liter Milch ausgegeben, für Kinder vom zehnten bis 15. Lebensjahr ein viertel Liter. Werdende und stillende Mütter erhielten je einen halben Liter Milch täglich. Für Kinder bis zu zwei Jahren wurde abwechselnd ein Milch- oder Kartoffelbrei gekocht. Zweimal wöchentlich bildete für uns alle Magermilchgrütze die Hauptmahlzeit. Die Kinder taten ihre Zuckerration hinein und schlugen ihren Grützbrei so lange, bis er ganz schaumig war. "Wir haben Schlagsahne!" jubelten sie. Morgens und abends wurde heißer Kaffee ausgegeben. Als der Kaffeevorrat aufgebraucht war, gab es nur noch Tee, der oft als Badewasser für die Säuglinge verwendet wurde. Da wir immerhin schon 1500 Personen zählten, dauerte das Essenholen von der Küche oft über eine Stunde. Inzwischen bedachte uns der Himmel mit Sonnenschein, Regen oder Wind, je nach Laune, und doch wich niemand von seinem Platz in der großen Menschenschlange. Unterdessen konnte man auf dem Kopf oder Kragen seines Vordermannes unliebsame Tierchen krabbeln sehen: Kopf- und Kleiderläuse.

    Aufheiternd waren die bunten Abende, die wir gestalteten. Es gab begabte Kräfte unter uns, und sie zauberten für groß und klein auf der Bühne, die im Küchensaal errichtet worden war, eine andere Welt, in die man sich willig für zwei Stunden versetzen ließ. Die Kapelle, angefangen mit Besenstiel und Kochtopfdeckeln, besaß nun schon richtige Musikinstrumente, die deutschfreundliche Dänen gestiftet hatten. Ein gemischter Chor befasste sich vorwiegend mit Heimatliedern und schaffte so dem Herzen etwas Luft. Nachdenklich und ergriffen stimmte uns stets das Lied: "Nach der Heimat möcht ich wieder, nach dem stillen Vaterort, wo man singt die frohen Lieder, wo man spricht manch trautes Wort. Teure Heimat sei gegrüßt, aus der Ferne sei gegrüßt...!"

    Brennmaterial war knapp, der zugeteilte Torf feucht, und Holz gab es nur ungenügend. Innerhalb des Lagers hatten dänische Arbeiter einige Telefonmasten umgelegt. Dieser Umstand brachte in uns einen Plan zum Reifen, den wir in der Nacht ausführten. Heimlich schleppten wir einen dieser Masten in unsere Baracke und machten ihn zu Brennholz, was denn in Koffern, Schränken und Stroh versteckt wurde. Ängstlich erwarteten wir am nächsten Morgen eine Durchsuchung, aber die dänischen Arbeiter nahmen von dem
    Verschwinden des Mastes gar keine Notiz. Wahrscheinlich hatten sie Verständnis dafür. Eines Tages erschienen Polizisten bei uns im Kindergarten und verteilten Kuchen. Die Kinder freuten sich sehr und spielten zum Dank den Reigen von Dornröschen. Ein dänischer Handwerker brachte, wenn er morgens sein Werkzeug holen kam, stets Obst mit. Die Kinder jubelten.

    An den Abenden saß ich mit Bastelfreunden im Kindergarten, und wir schnitzten aus klobigem Brennholz Figuren für unsere Weihnachtspyramiden. Eine davon schenkten wir dem dänischen Handwerker, der uns dafür Gebäck und Kerzen zum Feste lieferte. So verlebten wir Weihnachten, und uns war weh ums Herz.

    Nach langem Warten meldete sich das Frühjahr 1946. Hinter dem Stacheldrahtzaun entwickelten sich zart die Blätter der Brennessel und Schafgarbe neben anderem Grün. Nur kurz war ihr Aufenthalt auf der Erde, denn Kenner unter uns streckten die Arme weit durch den Zaun und rupften das Grün, um es ihrem Magen einzuverleiben. Für den Geist gab es Nahrung in Form von einigen Büchern, die unsere Landser zurückgelassen hatten.

    In diesem Frühjahr erhielten wir Post aus anderen Flüchtlingslagern und endlich auch aus Deutschland. Jetzt begann die Suche nach den Angehörigen, bei uns nur mit einem Teilerfolg.

    Kissenplatten aus Sackstoff
    Wir Frauen und Mädels saßen an Tischen in einem großen Barackenraum und stickten an vielfarbigen Kissenplatten, die zum Versand in die Kaufhäuser kamen. Ein gutes Auge war erforderlich, um das Muster fehlerfrei sticken zu können und die vielen Farbabweichungen nicht zu verwechseln. Eine junge Dame und ein älterer Herr kamen die Arbeiten kontrollieren. Sie hatten in uns spottbillige Arbeitskräfte, denn unser Lohn bestand wöchentlich pro Person aus einem Ei, einem Esslöffel nicht besonderer Marmelade und etwas Himbeersaft. Wir stickten nicht wegen dieser verächtlichen Zulage, sondern um eine sinnvolle Beschäftigung zu haben und um Radio hören zu können. Dabei befleißigten wir uns der Kunst, aus nichts etwas zu machen. Erstaunlich schöne und praktische Dinge entstanden aus wertlosem Material durch Phantasie und Fingerfertigkeit. Die Scheuertücher, aus einfachem Sackstoff bestehend, verwandelten sich in die schönsten Kissenplatten. Die schönsten Schuhe wurden von Männern und Frauen hergestellt, meistens waren es Sandaletten. Die Sohlen wurden aus Holz geschnitzt und die Oberteile aus Leder- oder Stoffresten angefertigt. Schließlich schnitten viele Leute ihre Papierstrohsäcke in Streifen und flochten Taschen daraus. An den Fenstern hingen bald Papiergardinen, in die man die feinsten Lochmuster schnitt. Die Not machte derart erfinderisch, dass wir schließlich selber über unsere Fabrikation staunten und eine Lagerausstellung planten, welche auch durchgeführt wurde und selbst dänische Besucher anzog.

    Ein Gärtner unter uns erhielt vom dänischen Lagerleiter den Auftrag, eine Grünanlage am Eingang des Lagers anzulegen. Wer von nun an das Lager betrat, gewann zuerst einen freundlichen, gepflegten Eindruck. Die immer wärmer scheinende Sonne machte das Verlangen nach Freiheit zu einer kaum ertragbaren Sehnsucht. Das wenige vorhandene Gras zwischen den Baracken war bald von den vielen Füßen niedergetreten, und die Wege hatte man mit Kohlenschutt bestreut. Die Kinder waren abends schwarz wie die Mohren und das kalte Wasser aus der Leitung vermochte sie nicht gründlich zu reinigen. Wie ein Alpdruck lag über uns die Ungewissheit unserer Zukunft. Der Aberglaube fand den günstigsten Nährboden, den man sich denken kann. Das Kartenlegen wurde zur Sucht und somit zum geistigen Verhängnis für viele. Wessen Geist aber davon freigeblieben war, durfte bald viel inneren Trost erfahren, denn aus Amerika kamen mennonitische Prediger herüber und brachten uns das Wort Gottes in einer so schlichten und tröstlichen Weise, dass wir verspürten, weder von Gott noch von den Menschen verlassen zu sein.

    Zur Weihnacht wurden wir alle mit einem Paket von den Glaubensgeschwistern in Amerika bedacht. Ohne diese Freude wäre der Winter die Trostlosigkeit in Person gewesen, denn die Kälte drang durch die Barackenwände, und die zugefrorenen Fenster versperrten jegliche Sicht nach außen. Es gab nur wenig nassen Torf und kaum Holz. Meine Eltern wendeten alle Geschicklichkeit an, um wenigstens ein Guckloch in das gefrorene Fenster zu zaubern, aber auch das wollte nicht gelingen. Wochenlang behielten wir unsere Mäntel an, krochen zur Nacht damit ins Stroh und versuchten, uns auf diese Weise vor der Kälte zu schützen. Was uns aber trotz allem gesund bleiben ließ, war die Regelmäßigkeit des Schlafes. Trotzdem musste das Kälteproblem noch irgendwie gelöst werden, um keine Erfrierungen zu erleiden. Vater hatte einen glücklichen Einfall. Er fing an, unser Holzgerüst, das acht Betten darstellen sollte, abzuschätzen, und dann bedienten meine Eltern den ganzen Tag den Ofen, um das Feuer trotz dem nassen Torf durch die Holzsplitter in Gang zu halten. Der Erfolg blieb nicht aus, denn es entstand ein Guckloch in der Fensterscheibe. Aber schließlich war das Gerüst so stark beschnitten, dass es drohte, zusammenzubrechen; es schwankte schon wie ein Rohr im Winde. Da gab es nur noch eine Möglichkeit. Ich erhielt in meiner oberen Etage den einzig vorhandenen Papierstrohsack und musste dafür alle Bretter hergeben bis auf wenige, die den Strohsack stützten und mich am Durchfallen hinderten. Zwar wagte ich mich kaum zu rühren, aber uns allen sind weder Finger noch Zehenspitzen angefroren, was bei den anderen Familien häufig der Fall war. Allmählich verschwanden über Nacht die Toilettendeckel und Türen der Aborte, der Verwendungszweck bedarf keiner weiteren Erklärung. Der dänische Lagerleiter schimpfte fürchterlich.

    Während dieser trostlosen Wintermonate hatte sich kein Däne bei uns blicken lassen. Als aber die Sonne wieder wärmer hervorlugte, steckten einige Dänen ihre Köpfe in alle Baracken, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung sei. Bei uns entdeckten sie sofort das abgeschnittene Bettgerüst und waren empört. Vater sollte zur Strafe gleich ein paar Tage "sitzen" gehen. "Ich möchte Sie nur eines fragen", sagte mein Vater. "Wenn Sie in meiner Lage gewesen wären, hätten Sie anders gehandelt?" Die Männer blieben still, und aus der Gefängnisstrafe wurde nichts. An einem der kommenden Tage wurde unser Bett abgerissen, und wir erhielten richtige Holzbetten übereinander. Die Freude war groß, aber leider nur bis zur Nacht, denn mit Entsetzen stellten wir fest, dass in den Bettenritzen unzählige Wanzen saßen. Von meinem Bett ließen sie sich herunterfallen auf Mutters Gesicht. Wir schlugen und knackten um uns und waren ganz verzweifelt. Am nächsten Tage besorgten wir uns Wanzentinktur, aber auch die konnte die Viecher nicht töten. Selbst nachdem die Baracke geschwefelt worden war, lebten unzählige Tierchen wieder auf. Wenn wir nachts über das Licht hätten brennen lassen dürfen, wären wir vor Stichen geschützt gewesen. Aber den Stromverbrauch erlaubten die Dänen nicht. Bei den Kindern bildete sich durch Kratzen an den Stichstellen hässlicher Ausschlag. Die Dänen mochten wohl allmählich Angst vor der Wanzenplage bekommen haben, denn sie ließen nun alle verwanzten Betten verbrennen und durch andere ersetzen.

    Inzwischen hatte ich zwei schwere Operationen überstehen müssen, die mich sehr geschwächt hatten. Ich hatte nur den einen Gedanken, aus diesem Elend herauszukommen. Mit meiner Gymnastiklehrerin vom Kindergärtnerinnen-Seminar aus Danzig stand ich im Briefwechsel. Sie war eine Bauerntochter aus Schleswig-Holstein. Jeden Monat einmal durften wir einen Brief nach Deutschland schicken, und ich hatte sie gebeten, ob sie mir nicht eine Zuzugsgenehmigung besorgen könnte. Meine Hoffnung sollte sich dieses Mal erfüllen. Ich erhielt das wichtige Schreiben und eilte zur Lagerleitung, um mich für einen Transport nach Deutschland registrieren zu lassen. In einem kleinen Winkel meines Herzens saß zwar Beschämung, da meine Eltern und meine Schwester mit ihren fünf Kindern ihr Schicksal viel geduldiger trugen. Da sie sich aber mit mir freuten, machte es mir den Abschied leichter. Es war ein warmer, sonniger Augusttag 1947, als ich auf einem Lastwagen aus dem Lager fuhr. Winkend und lächelnd blieben meine Angehörigen hinter Stacheldraht zurück.

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    Die Veröffentlichung dieses Artikels erfolgte mit freundlicher Genehmigung des "Bundes der Danziger" in Lübeck.

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  2. #2
    Forumbetreiber Avatar von Wolfgang
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    Standard AW: Flucht aus der Heimat / Erlebnisbericht von Irmgard Ewald

    Schönen guten Abend,

    jedes Mal wenn ich nach Tiegenhof fahre, komme ich an dem Hof an der Einmündung des Weichsel-Haff-Kanals in die Linau vorbei. Vorgestern hielt ich dort wieder einmal an, verweilte dort ein bisschen und schoss einige Fotos. Nach der sibirisch-eisigen Kälte der letzten zehn Tage zeichnete sich ein leichter Temperaturanstieg ab, trotz noch immer frischer -6 Grad und kräftigem Wind von Südost.

    Ich erinnerte mich an diesen Fluchtbericht, an die lange Flucht der dort lebenden Bewohner, die damit ihre Heimat meist für immer verlassen haben. Das Wetter wird damals ähnlich gewesen sein: Ab Mitte Januar viel Schnee und grausam eisige Kälte die Anfang Februar in Tauwetter umschlug und die Trecks im Werderblott versinken ließ.

    Hier ein paar Fotos von der Linau, von dem Hof.

    Viele Grüße aus dem Werder
    Wolfgang
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  3. #3
    Forum-Teilnehmer Avatar von Inge-Gisela
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    Standard AW: Flucht aus der Heimat / Erlebnisbericht von Irmgard Ewald

    Ja, leider hatten Kälte und der Schnee die Dramatik wesentlich verschärft. Es wäre bei milderem Wetter wahrscheinlich einiges anders gekommen und viele hätten trotz Flucht überleben können. Wir sind z.B. vorher aus Ostpreußen weggewesen mit mehrjähriger Zwischenstation in Thüringen. Als wir uns dann in den Westen aufmachten, teilweise mit LKW, teilweise zu Fuß (30km mit dem Kinderwagen für meinen Bruder (ca. 3 J) mit nur 3 Rädern, und einem Koffer), Restfahrt mit dem Zug, war uns das Wetter wohlgesonnen. Es war nicht Winter. Ich kann mich noch nicht einmal an Regen erinnern. Aber einfach war es für meine Eltern trotzdem nicht. Und ich als Kind konnte die Gefahren gottlob nicht einschätzen. Nachts wollte man uns auch erst nicht in einer Scheune schlafen lassen. Und eine gewisse Angst schwebte die ganze Zeit über unseren Köpfen. Trotzdem ist das nichts zu vielen anderen Schicksalen in der damaligen Zeit. Wir hatten Glück.

    Gruß
    Inge-Gisela

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