Ein Tag in Bodenwinkel

Samstag, 31. August 2002

Bodenwinkel. Es ist früher Mittag. Wir sind hungrig. Gestern Abend hatten wir bereits von der Yacht aus das „Dancing“-Restaurant lautstark gehört. Es befindet sich an der westlichen Längsseite des Hafens in einem lang gestreckten Gebäude, das früher einmal ein Bootsschuppen gewesen sein mag. Heute wollen wir dort einkehren. Die handgeschriebene Speisekarte am scheunentürgroßen Eingang macht Appetit. Soviel polnisch verstehe ich bereits, um nicht nur erraten zu müssen, was die Küche bietet. Wir nehmen im Freien unter einem großen Sonnenschirm Platz, auf dem rundherum geschwungene Coca Cola-Schriftzüge für die braune Zuckerbrause werben, sitzen auf robusten Bänken, unsere Unterarme liegen entspannt auf dem dunkelbraun lasierten Holztisch. Es ist warm, sehr warm, aber vor direkter Sonnenstrahlung sind wir alle durch den Schirm geschützt.

Die Auswahl auf der Speisekarte ist beeindruckend. Viele Fischgerichte. Der Barsch stammt aus dem Frische Haff, aber woher kommen die Forellen? Ich bestelle Zander. Er ist nicht aus dem Haff, wo er zwar auch vorkommt, sondern er wurde von Bodenwinkler Fischern am frühen Morgen aus der Ostsee gezogen. Fisch ist hundertgrammweise auf der Speisekarte ausgepreist. Zander kostet 5 Sloty, also rund 2 Mark 50 (ca. 1,30 Euro). Ich muss nicht lange warten, bis eine silberglänzende Platte mit einem großen Stück panierten, knusprig gebratenen Zander serviert wird. Die Beilage besteht aus goldgelben Pommes Frites, „Kapusta“ mit Tomatenscheiben auf einem knackigen Salatblatt. Es schmeckt hervorragend.

Ein trockener warmer Wind umweht uns. Zwischen Restaurant und Masten auf dem Vorplatz sind Drähte gespannt, an ihnen gelbe, grüne, blaue und rote Glühbirnen, die abends gemütliche Atmosphäre schaffen. Unter dem überkragenden Dach dichte Spinnengewebe. Neben dem Restaurant ein Bernsteinlädchen in dem kunstgewerblich verarbeiteter Bernstein die Auslagen schmückt. Hinter mir, schräg gegenüber dem Restaurant, befindet sich das Bodenwinkler Haffmuseum (Muzeum Zalewu Wislanego) mit Exponaten zu Natur, Geographie und Fischerei. Mehrere gewaltige alte Fischerkähne aus eichenen Planken können dort bestaunt werden. Der warme Wind verstärkt sich etwas, das sanfte Rauschen der Silberpappeln hinter dem Museum lädt zum weiteren Verweilen ein.

Roman, der Fischer kommt. Oberkörper entblößt, braun gebrannt, setzt sich zu uns, bestellt Kaffee mit Sahne. Seine Haut wettergegerbt, das hagere von gekrümmter Nase und dichten Augenbrauen beherrschte Gesicht wird von einem Kranz dichter kaum ergrauter Haare umsäumt. Wie alt mag er sein? 50? 55 Jahre? Aus seinen hellen Augen blitzt der Schalk. Die Brust ist dicht behaart.

Wir brechen auf, gehen zurück zur Yacht. Ein kleiner Lieferwagen kommt. Roman springt in sein kleines grünes Boot, hebt zwei Kisten auf die Kaimauer. In einer schöne große Barsche mit gelb-schwarz glänzenden Augen. Die andere Kiste gefüllt mit Rotaugen. Er lacht in meine Kamera, hält mir, bevor die Fische verladen werden, einen großen Barsch vor die Linse.

Nun wollen wir aber segeln, raus auf`s Haff. Ich mache einen großen Schritt an Bord der Santa Maria, Zbyszeks Sohn Tomek löst die Leinen am Heck, Roman, der Fischer die am Bug. An Bord ist bereits Roman Gaik, Eigentümer des Kurhauses und Rehabilitationszentrums Neptun in Pasewark (Jantar) mit 700 Plätzen. Er wirft den Bordmotor an und nun geht es endlich hinaus ins offene Wasser, wo wir den Motor abstellen, Fock- und Großsegel setzen, Fahrt aufnehmen.

Tuckernd kommt uns ein kleines mit drei Mann besetztes Fischerboot entgegen. Hatten sie einen guten Fang? Er fährt Richtung Hafen, von dem wir mittlerweile sicherlich zwei Kilometer entfernt sind. Dieselgeruch kommt zu uns herüber, mischt sich mit dem natürlichen Geruch des Haffes, steigt uns – nicht unangenehm – in die Nase.

Roman Gaik hat das Ruder übernommen. Stellnetze, befestigt an hölzernen Stangen mit grüßenden bunten Wimpeln bleiben hinter uns. Vor uns die Elbinger Höhen in fahlem Dunst. Der Wind frischt weiter auf, Gischt verwirbelt schäumend im Heckwasser. Ich lasse meinen Blick rundum schweifen. Lediglich drei andere Segler weit draußen am Horizont teilen mit uns das Haff. Es gehört uns fast ganz alleine. Vom Fischerboot ist nur noch ein leiser werdendes Tuckern aus der Ferne zu hören. Ich konzentriere meine Augen in die Richtung wo es nun sein müsste, kann ihn aber nicht mehr ausmachen. Von hier aus ist Bodenwinkel kaum zu sehen, der Nehrungswald bestimmt das Bild.

Plötzlich eine frische Brise aus anderer Richtung. Die Segel killen, sie knattern kurz, dann legt sich die Yacht wieder in den Wind, neigt sich. Die Nachmittagssonne heizt uns ein, wir nehmen einen kräftigen Schluck Bier aus Zywiec-Flaschen. Ich sitze, nein, ich liege fast auf der Bank backbordseitig und die schon weit nach Westen gewanderte Sonne spiegelt sich unendliche Male in der leicht kabbeligen See. Ich kneife die Augen zu, blinzle, nehme die Bojen an der Hauptmündung der Nogat wahr. Wir sind hier im sogenannten Danziger Fahrwasser. Der Wind frischt weiter auf. Gelbgrüne Entenflottteppiche wiegen sich im Wasser.

Ich döse vor mich hin, schließe die Augen. Genieße Sonne und Wind, das Rauschen des Kielwassers. Wir fahren ostwärts, passieren die Nogathaffkampen mit ihren zahlreichen versteckten Mündungsarmen, kommen am grünen Leuchtturm der die Mündung des Elbingflusses markiert vorbei, befinden uns nun im Elbinger Fahrwasser, biegen in den Ostwinkel ein, halten uns dort dicht am westlichen Ufer. Der Schilfgürtel, sonnenüberflutet, leuchtet in intensivem Grün. Hier, direkt am Wasser, hat dieser ungewöhnlich heiße und trockene Sommer noch nicht alles gelbbraun verbrannt. Wir wenden, liegen nun wieder richtig im Wind, nehmen erneut Fahrt auf.

Nach Nordosten hin, in die offene See, erstreckt sich das Haff scheinbar unendlich. Auch die Elbinger Höhen fallen in der Ferne abrupt ins Haff, dahinter fahles Nichts. Heute herrscht diesiges Wetter, die Sicht ist begrenzt. Es sieht so aus, als ändere sich das Wetter. In der Mitte des Haffes, etwa zwischen Kahlberg (Krynica Morska) und Tolkemit, lässt der Wind nach. Wir gleiten lautlos über das bleigraue Wasser. Eine Flaute erfasst die Yacht, die Segel erschlaffen. Kein Lüftchen bewegt das Wasser. Die Sonne steht bereits tiefer, wirft eine breite, sich zu uns hin verjüngende gleißende Glutbahn über das Haff. Ich bin einen Moment geblendet. Wir machen kaum merklich Fahrt, es ist so ruhig, dass wir nicht einmal dümpeln. 18 Uhr. Radio Olsztyn bringt Nachrichten im Bordradio. Wir geben uns der uns umfangenden Stille hin.

Es dauert nicht lange und ein sanfter Wind füllt wieder die Segel. Wir begegnen Roman, dem Fischer. Sein Boot trägt die Kennung Kat99. Er hat Netze eingeholt. Möwen und Seeschwalben umkreisen, folgen ihm, kreischen.

Wir segeln zurück nach Bodenwinkel. Kurz vor dem Hafen zieht Roman mit angeworfenem Motor an uns vorbei, lässig auf seinem Bänkchen am Heck mehr liegend als sitzend, ein Zigarettchen im Mundwinkel, die linke Hand am Steuer, sein rechter Arm auf der Bootswand. Er lächelt verschmitzt, grüßt uns kurz mit der rechten Hand.

Zahlreiche Boote und Kähne haben im Hafen angelegt. Die unteren Planken schwarz, die oberen leuchtend gelb gestrichen. Ein noch etwas verschlafener Hafen. Wie wird sich der zunehmende Tourismus auf ihn auswirken?