Segeltour im Frischen Haff

Sonntag, 01. September 2002

Über Nacht hat sich das Wetter geändert. Kurz nach Mitternacht machte es sich bemerkbar. Ein leises Rauschen der Blätter verriet den Regen. Abperlende Tropfen schlugen mit kaum vernehmbarem Plopp auf die hölzernen Dielen der Veranda. Ich lag bereits im Bett und schlief ruhig ein.

Heute ist es deutlich frischer als gestern. Der Himmel ist aufgelockert bewölkt, ein kräftiger Wind zerrt an Laub und Ästen. Über Nacht liegen die Straßen voll mit welken Blättern. Wir haben uns mit Michal Gorski und seiner Tochter Katia zu einem Segeltörn verabredet, hoffen auf gutes Wetter. Michal kommt und wir steigen in seinen Wagen ein. Die Yacht liegt vertäut in Bodenwinkel. Ziel soll Tolkemit sein. Im Hafen angekommen begrüßt uns Roman der Fischer, der gemächlich zu seinem Boot radelt. Kaum an Bord wird der Wind nochmals stärker. Michal und seine Tochter haben dicke Windjacken dabei, ich lediglich ein T-Shirt und ein Sweatshirt. Und außerdem natürlich meinen Elbsegler ohne den ich selbst im Sommer kaum unterwegs bin. Michal wird vom Skipper am Steuer eingewiesen. Ich bekomme die Order, Fock- und Großsegel zu setzen, ächze, schnaufe und stöhne an den Winschen, bekomme die Segel um die Ohren geschlagen. Hoffentlich verliere ich nicht meine Brille. Alles muss ruckzuck gehen. Nachdem die Leinen an den Klampen verknotet sind, setze ich mich auf die Bank, lege entspannt die Beine hoch. Als ich die Frage Zbyszeks ob ich mit meiner Arbeit fertig sei bejahe, jagt er mich mit der Bemerkung hoch, der Fender hole sich bestimmt nicht von alleine ein. Die Yacht liegt voll am Wind und wir machen gute Fahrt. Michal versucht Kurs zu halten, stemmt sich mit beiden Füßen auf der gegenüber liegenden Bank ab. Die Yacht krängt immer stärker, über das Deck schäumt steuerbords die Gischt. Sitzend stemme ich mich ebenfalls auf der anderen Seite ab, lache befreit auf, aber Michal, der das erste Mal am Steuer steht, ist sich nicht sicher, ob er nicht in gefährliche Schlagseite gerät. Zbyszek ist in die Kajüte gegangen um eine Mütze Schlaf nachzuholen. Michal schwitzt, kann gar nicht lachen, korrigiert, als ihm die Situation zu gefährlich scheint die Steuerstellung, worauf Vor- und Großsegel laut knatternd gegen Mast und Wanten schlagen. Eine erneute Korrektur bringt die Yacht wieder auf Kurs. Die ständige Brise spannt beide Segel und wir liegen weiterhin gut am Wind. Zbyszek ruft, ich solle das Großsegel etwas anholen, worauf ich die Steuerbordwinsche mit Kraft ein, zwei Mal drehe und die Leine neu um die Klampe wickle und verknote.

Auf Höhe von Kahlberg (Krynica Morska) beschließen wir, nicht nach Tolkemit zu segeln, sondern hier den Hafen anzulaufen. Der „Stammplatz“ der Santa Maria ist von einem russischen Metallrumpfsegler belegt, sodass Zbyszek ein Stückchen weiter anlegen muss. Wir laufen über den Vergnügungspark, der nun mit Saisonende abgebaut wird. Karussells, Rodeobullen, der Loopingkäfig, Imbiss- und Schießbuden – alles wird abgebaut. Einige wenige Wurst- und Schaschlikbräter grillen weiterhin für die nur noch an einer Hand abzählbaren Touristen. Wir wollen im Yachtklub essen. Er ist noch geöffnet, aber obwohl die Speisekarte eine Vielzahl von Fischgerichten verheißt, gibt es keinen Fisch mehr. Gut, dann segeln wir jetzt eben die Elbinger Weichsel (Skarpawa) hoch und werden in Fischerbabke (Rybina) essen, lautet der einstimmige Beschluss. Es ist bewölkt, ein fast stürmischer Wind füllt prall die Segel. Wir nehmen Kurs nach Westen. Unterwegs plötzlich tausende und abertausende Blesshühner, die vom Wasser aufsteigen, als wir auf sie zukommen. Wir nähern uns einem Leuchttum, der mit kleinen Punkten übersäht ist. Zbyszek meint, das seien Kormorane, die ihre Kolonie in Bodenwinkel bereits verlassen hätten um sich für den Flug in den Süden zu sammeln. Ich glaube es nicht, sage, das müssten auch Blesshühner sein. Wir wetten eine Flasche Wodka und ich verliere. Die Felsen sind bedeckt mit unzähligen Kormoranen, die ebenfalls abheben, sich wie Perlen auf Schnüren formieren, mit langem Hals und singendem Flügelschlag davonziehen. Zbyszek zeigt, wie die Elbinger Weichsel zu finden ist. Wenn wir vom Heck aus Heck über den eben passierten Leuchtturm den Kahlberger Leuchtturm anvisierten und diese beiden immer in Deckung blieben, lägen wir goldrichtig. Und so ist es auch. Wir segeln am Dubashaken vorbei, kommen in die Holzrinne, lassen die Kleinhornkampe steuerbords hinter uns, können aber Grenzdorf A durch die hohen Schilfgürtel nicht erkennen. Überall Fischer und Angler. In der tiefer sinkenden Sonne bemerken wir ein paar hundert Meter östlich von uns einen großen Schwarm schneeweiß leuchtender Schwäne. Zbyszek schätzt fünfzig, ich zähle über achtzig. In der sich verengenden Fahrrinne wird das Segeln immer schwieriger, da uns der Wind meist kräftig entgegen bläst. Wir fahren mit Motorkraft weiter. Dichte Teppiche Entenflotts kommen uns entgegen, wickeln sich auch prompt um die Schraube. Nun geht es etwas langsamer vorwärts. Auch von Stobbendorf sehen wir nichts, alles ist hinter dichter Uferbegrünung verborgen. Es wird kälter, Katia sitzt windgeschützt direkt an der Kajütenwand, verneint aber die Frage, ob sie friere. Ich bitte sie, meiner Tochter Monika über ihr Handy kurz eine SMS zu schicken, ihr zu sagen, wo wir uns befinden. Monika, die sich in Reiterferien nahe Marburg befindet, antwortet auch sofort. Ich weiß, sie hätte mich auch dieses Mal wieder gerne begleitet.

Teilweise ist die Elbinger Weichsel nur noch grüne Suppe. Links und rechts Seerosen und dann ein dicker grüner Entenflottteppich. Michal bekommt einen Eimer in die Hand gedrückt und die Aufgabe, Entenflott für Zbyszeks Gartenteich zu fischen. Aber endlich kommen wir wieder in etwas freiere Fahrwasser. Ich übernehme das Steuer, wir nähern uns langsam Fischerbabke. Es ist kurz vor 18 Uhr als wir an Hinterthür vorbeikommen. Dort sitzen noch zwei einsame Störche auf ihrem Nest. Von hier aus mögen es noch 10 Minuten bis zur Hebebrücke in Fischerbabke sein. Auf diesem kurzen Stück entdecken wir immer wieder Graureiher, die aufgestört abheben. Die Hebebrücke öffnet sich für den Schiffverkehr um 19 Uhr. Wir legen vor der Brücke an, laufen ein kurzes Stückchen die Straße Richtung Tiegenhof, überqueren sie, wo an einem alten Fachwerkhaus ein Schild „Restauracja“ davon kündet, dass es hier etwas zu essen gibt. Zbyszek ruft seine Kollegin Ewa an, die in Fischerbabke wohnt. Kurz darauf ist sie auch da. Ich bestelle einen Dorsch und Kartoffeln, bekomme auch einen geschmacklich sehr guten Dorsch, aber zu Kugeln geformten Kartoffelbrei, der erstens kalt und zweitens voller kleiner Klieter ist. Das bekomme ich nicht hinunter.

Michal beschließt, sich von Ewa nach Bodenwinkel fahren zu lassen um dort seinen Wagen zu holen. Kurz vor 19 Uhr verschwindet Zbyszek kurz, fährt die Yacht durch die geöffnete Hebebrücke. Um 19 Uhr 30 sind wir mit dem Essen fertig. Michal bezahlt für uns alle, fährt dann mit Katia im Wagen nach Hause.
Ewa verabschiedet sich und dann legen Zbyszek und ich in der untergehenden Sonne ab. Es ist noch ein ganzes Stückchen nach Fürstenwerder (Zulawki), das wir auf jeden Fall noch erreichen wollen. Ich übernehme wieder das Steuer und Zbyszek verstaut die Segel. Wir passieren – noch in Fischerbabke – die Stelle wo die Königsberger Weichsel abzweigt und stoßen auf die einzigartige Eisenbahndrehbrücke. Sie stammt noch aus Danziger Kleinbahnzeiten und ist nach wie vor funktionsfähig. Auf einem Mittelpfeiler ruht die längs zum Fluss ausgerichtete Eisenbahnbrücke mit Gleisen auf einem Drehgestell. Erst am 15. August war sie in Betrieb als die neue Kleinbahn von ihrer Jungfernfahrt Nickelswalde – Stutthof zurück in ihren Tiegenhöfer Lokschuppen fuhr.

Wir fahren in irreal anmutendem Licht durch eine zauberhafte Landschaft. Ich drehe mich immer wieder um, muss einfach über das Heck nach hinten sehen, dorthin wo sich weiße Wolkengebirge gegen den grau bewölkten Himmel empor türmen. Ich photographiere, filme, auch wenn ich nun zu hören bekomme, ich solle mich lieber darauf konzentrieren, auf der Flussmitte zu bleiben. Aber dieses Licht, dieses Naturschauspiel, diese Farbensymphonie, diese farbliche Harmonie in glasklarer Luft! Teils in harten Kontrasten, dann wieder in Pastelltönen. Das Licht wechselt von einem Augenblick zum anderen. Es wechselt mit der Landschaft, mit den Bäumen dort, die Schatten werfen, mit jenen Wolken, die sich am Rand der untergehenden Sonne vorbeischieben. Das alles kenne ich gar nicht bei mir „zu Hause“ in Deutschland, ich muss das einfach photographieren, befürchte, diese vergänglichen Momente nicht einfangen zu können. Hier merke ich, was mir bisher alles fehlte, was ich bisher alles nicht gesehen habe. Hier merke ich, wie sich in mir langsam ein Vakuum füllt. Ich, der ich mich immer auf der Suche befand, auf der Suche nach etwas, von dem ich nicht sagen konnte was es ist, ich, der ich stets Unrast in mir fühlte, ohne zu wissen warum, empfinde hier tiefe Ruhe und Zufriedenheit. Ich werde sehen, ob ich künftig noch Suchender bin, ob sich die bisherige Unruhe nicht legt.

Es ist spürbar kälter geworden. Zbyszek reicht mir einen steifen Grog. Es wird Zeit, die Lichter einzuschalten. Die Heckleuchten werfen ihr Licht hinter uns, der Bugscheinwerfer will aber nicht so wie er soll. Er bleibt dunkel. Der Fluß scheint sich zu verjüngen, enger zu werden. Der hohe Schilfgürtel, das Buschwerk, die Bäume werfen schwarze Schatten. Es ist schwierig auszumachen, wo noch Wasser ist und wo das Ufer anfängt. Zbyszek hat offenbar bessere Augen. „Zum Teufel, Wolf“, schimpft er, „weißt Du nicht wo die Flussmitte ist?“ Noch immer wirken Farben, kündet ein schmaler dunkelroter Streifen am Horizont vom unmittelbar bevorstehenden endgültigen Sonnenuntergang. Auf der rechten Seite liegt Freienhuben (Izbisko), dessen Straßenlaternen etwas orangefarbenes Licht spenden.

Es dauert nun nicht mehr lange und wir sind in Fürstenwerder. Die Pontonbrücke ist beleuchtet. Kurz davor übernimmt Zbyszek das Steuer, sagt, ich solle mich bereithalten, den Schlagbaum zu seinem Hafen zu heben. Aber er ist bereits oben. Wir biegen in die Einfahrt ein, der Motor wird abgeschaltet, das Boot vertaut, die Kajüte verschlossen. Wir gehen den Damm hoch zu Zbyszeks Haus und lassen den Abend bei einem Bier ausklingen.