Schutzengel in Danzig

Freitag, 31. Oktober 2003, 15:30 Uhr

Die Einweihungsfeier des Denkmals für die im Gefängnis Schießstange zwischen April 1945 und April 1946 gestorbenen Typhusopfer ist vorüber. Mit dem Auto der Deutschen Minderheit geht es nach Langfuhr in den Brunshöfer Weg (Ul. Warynskiego). Hier verabschiede ich mich von Gerhard Olter, dem Geschäftsführer der Deutschen Minderheit und ihrem Vorsitzenden Paul Sabiniarz. Soll ich zu Fuß nach Saspe gehen? Die nachmittägliche Sonne wärmt nicht mehr, es ist kühl und ein frischer Wind wirbelt rostbraune Blätter hoch. Ach, was soll's. Es gibt bestimmt Neues zu entdecken, neue Geschäfte, renovierte Gebäude, instand gesetzte Straßen. Ich biege ums Eck in den Anton-Möller-Weg (Ul. Danusi), komme in den Kreisverkehr, laufe die Marienstraße (Ul. Wajdeloty) hoch Richtung Bahnhof. Komme an der abzweigenden Herthastraße (Ul. Konroda Wallenroda) und der Elsenstraße (Ul. Grazyny) vorbei. An der Herz-Jesu-Kirche pfeift mir der Wind besonders kalt entgegen. Soll ich weiterlaufen? Oder mich abholen lassen? Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche, wähle Kingas Nummer, frage sie, ob sie mich abholen könne. Es ist ein bisschen schwierig zu erklären, wo sie mich auflesen kann, und schon neige ich dazu, doch zu Fuß zu gehen. Es wären ja mal gerade 20 oder 25 Minuten. Aber sie sagt, sie käme sofort. Gut, dann warte ich eben.

Von hier aus kann ich direkt durch die Bahnunterführung schauen, auf die jenseits der Gleise drei Straßen münden, nämlich den Schwarzen Weg (Ul. Mireckiego), die Schlageter Straße (Ul. Dmowskiego) und den Kastanienweg (vor dem Bahnhof heute ebenfalls Ul. Dmowskiego). Durch die Unterführung holpert über die löchrige Straße ein Auto nach dem anderen, die meisten in den Kleinhammer Weg (Ul. Kilinskiego) abbiegend. Hinter mir befindet sich ein neuer Supermarkt, handgeschriebene Werbeplakate machen auf Sonderangebote aufmerksam. Ein Kilo Zucker kostet 1 Zloty 89, umgerechnet also gerade mal 40 Cent. Langsam kriecht die Kälte die Beine hoch, mein Nacken fröstelt. Und keine Kinga kommt. Es sind gut 20 Minuten vergangen. Zu Fuß wäre ich jetzt auch schon in Saspe. Ein verbeulter Lieferwagen, schwarze Dieselrußwolken ausstoßend, fährt auf den Gehweg, hält auf mich zu. Ich glaube, nur mein schneller Schritt zur Seite bewahrt mich davor, platt gemacht zu werden. Hinter dem Bahnhof rötet sich langsam der Himmel, der Wind wird noch frischer.

Plötzlich brummt mein Handy, Kinga ruft an. Es ist eine halbe Stunde vergangen. Kinga sagt, sie habe einen Unfall gehabt, an der Kreuzung Kilinskiego (Kleinhammer Weg) und Kosciuszki (Magdeburger Straße). Ich solle bitte kommen. Ich mache mich auf den Weg, passiere den Kleinhammer Teich und die Brauerei. Obwohl noch die großen kupferfarbenen Sudkessel zu sehen sind, wird dort kein Bier mehr gebraut. Aber das interessiert mich jetzt auch nicht. Ich beschleunige meinen Schritt, es dunkelt langsam. Schon von weitem bemerke ich den sich vor der Kreuzung stauenden Verkehr. Ein Bus kommt nicht weiter. Ein Ford Focus ist bereits zur Seite geschoben, aber Kingas kleiner Daewoo Tico versperrt noch als Schrotthaufen die halbe Kreuzung. Sie steht neben dem Wrack, ihr scheint nichts passiert. Zusammen mit einigen Passanten wuchten wir im Hauruck-Verfahren das Schrottpaket von der Straße.

Was war passiert? Kinga fuhr auf dem Kleinhammer Weg von Saspe Richtung Langfuhr, hielt vor der Ampel und wartete auf die grüne Phase. Als der Verkehr von links auf der Magdeburger Straße anhielt und sie grünes Licht bekam fuhr sie los. Von rechts näherte sich jedoch noch ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit. Ungebremst prallten die zwei Fahrzeuge mit ihrer jeweiligen rechten Vorderseite zusammen. Dem anderen Wagen, einem Ford Focus, entstieg ein weißhaariger Herr, vermutlich knapp 80 Jahre alt und eine etwas jüngere Begleitung, beide glücklicherweise unverletzt. Sie behaupteten ebenfalls grünes Licht gehabt zu haben. Großes Glück hatten auch Fußgänger, die zu diesem Zeitpunkt die Magdeburger Straße überqueren durften. Nur: Obwohl dieser Unfall von vielen Zeugen beobachtet worden sein muss, war niemand da, als gefragt wurde, ob jemand etwas gesehen habe.

Kinga ist ruhig, aber geschockt. Ich frage sie, ob sie verletzt sei. Sie verneint das. Die Unfallbeteiligten warten auf die Polizei. Ich schaue mir den Tico an. Kühler und Motorblock sowie rechtsseitig die Vorderachse sind ein ganzes Stück nach hinten verschoben, das rechte Vorderrad abgeknickt. Der Innenraum blieb, soweit ich das feststellen kann, weitestgehend unbeschädigt. Ich stelle mir vor, ich wäre auf der Beifahrerseite gewesen, als der Unfall geschah. Kaum denkbar, einen solchen Aufprall unverletzt zu überstehen. Es wird immer kälter, ich friere wie ein Schneider. Und die Polizei kommt und kommt nicht. Der Fahrer des anderen Wagens ist sehr ruhig, fast wirkt er abwesend. Seine Begleitung dagegen schimpft wie ein Rohrspatz, kommt auf uns zu, sagt, Kinga hätte doch sehen müssen, dass es rot war.

Nach einer guten Stunde kommt die Polizei, nimmt den Unfall auf. Die Unfallbeteiligten sitzen im warmen Polizeiwagen. Ich stehe draußen und friere. Die zwei Unfallgegner verlassen den Wagen, Kinga bleibt noch ein Weilchen länger. Aber endlich kommt auch sie. Ich frage sie, was nun gewesen sei. Sie sagt, die beiden Anderen wären fest dabei geblieben, sie hätten rot gehabt, worauf der Polizist meinte, das müsse dann eben vor Gericht mit Sachverständigen geklärt werden. Der Polizist habe ihr geglaubt, aber bei unterschiedlichen Aussagen komme es zu einem Gerichtsverfahren. Daraufhin habe sie gesagt, sie nehme die Schuld auf sich. Das Gericht könne die Wahrheit kaum feststellen und bis dahin koste sie das alles zu viel Zeit und Nerven. Da sie eine Vollkaskoversicherung habe, sei der ihr entstandene materielle Schaden wahrscheinlich nicht allzu hoch. Sie habe jetzt nur ein "Mandat" über 20 Zloty erhalten. Ich sagte ihr, in Deutschland gäbe es bei Überfahren einer roten Ampel immer ein Fahrverbot, da wäre es nicht so einfach gewesen, sich schuldig zu bekennen. Der Polizist habe dann die Fahrzeugscheine für beide Autos eingezogen und gesagt, sie würden erst dann wieder frei gegeben, wenn die Autos fachmännisch und verkehrssicher repariert seien.

Von Passanten waren Abschleppwagen gerufen worden. Die Autowracks sind inzwischen aufgeladen. Wir werden vom Abschlepper mitgenommen, fahren durch Danzig, dann nach Schidlitz rauf und ein Stückchen außerhalb der Stadt wird der Wagen bei einer Unfallwerkstatt abgeladen. Auch dort noch einige Formalitäten und dann geht's zurück nach Saspe. Und jetzt, nachdem wir zu Hause sind, geht mir noch einmal durch den Kopf, welches Glück Kinga hatte. Und auch ich insofern, als ich zum Unfallzeitpunkt nicht im Wagen saß.

P.S.: Später stellte sich dann bei Kinga aber doch ein leichtes Schleudertrauma heraus sowie einige Hämatome an Knien, Oberschenkeln und an einer Hüfte. Trotz allem: Nicht nur Glück gehabt, sondern die Schutzengel waren heute ganz besonders wachsam.