Ein Abstecher nach Junkeracker (Junoszyno)

Dienstag, 11. Mai 2004, vormittags

Wer auf der Straße von Nickelswalde (Mikoszewo) durch den Wald nach Steegen (Stegna) fährt, passiert zuerst Pasewark (Jantar) und erreicht dann einen Abzweig nach Junkeracker. Es geht rechts ab über die alten Gleise der Kleinbahn und dahinter verliert sich der Blick in dichtem Gebüsch und Laubwald. Ein kleines Stückchen weiter verweist ein zweites Hinweisschild auf dieses kleine Dorf, das zu Freistaatzeiten über 500 Einwohner hatte. Aber auch wird der Blick auf den Ort durch undurchdringliches Gestrüpp verwehrt. Wieviele Male fuhr ich in den letzten Jahren diese Strecke – und an Junkeracker vorbei? Wieviele Male ging mir durch den Kopf, dass auch hier in früheren Jahrhunderten meine Vorfahren lebten. Und wie oft sagte ich mir, ich müsse endlich einmal nach Junkeracker fahren um auch diesen Ort kennen zu lernen. Mir fällt ein, dass die Mutter einer früheren Kollegin aus Junkeracker stammt. Sie sagte mir vor einer Weile, ihre Mutter sei zwar körperlich gesund, aber sie lebe nun in einer anderen Welt. Sie sei geistig nach Junkeracker zurück gekehrt und wenn sie aus dem Fenster schaue, erblicke sie mit einem sanften Lächeln die Gärten, Blumen und Bäume ihres vertrauten Heimatdorfes.

Heute habe ich etwas Zeit. Mein Geburtstag wird erst am Abend gefeiert. Ich war heute früh in Kahlberg (Krynica Morska), hatte mich dort mit dem in Deutschland lebenden Eigentümer einer Familienpension getroffen, der mir sein Leid über eine mangelnde Auslastung seines Hauses klagte. Und nun, auf der Rückfahrt entscheide ich mich ganz spontan, die Straße zu verlassen und in das verborgene Junkeracker zu fahren. Ich blinke links, muss kurz anhalten um einen entgegenkommenden Kleinlaster vorbei zu lassen, biege dann ab und überquere die Kleinbahngleise. Ich weiss nicht, ob die Bahn bereits wieder in Betrieb ist, vermute aber nicht, da im Gleisbett Unkraut wuchert. In der Urlaubssaison wird sie jedoch wieder unterwegs sein und rumpelnd Urlauber zwischen Nickelswalde und Steegen befördern.

Der enge mit gelochten Betonplatten belegte Weg führt durch einen schmalen Waldstreifen. Ich bin hier auf der Ulica Swierkowa. Wie mag der Weg früher geheissen haben? Linksseitig wachsen junge Buchen und niederwüchsige Kiefern. Dann ein altes Holzhaus, ockerfarben, verlassen, halb verfallen, mit aufgemalten Blumenornamenten auf den Wänden. Die Fenster fehlen. Ich parke den Wagen, gehe durch hohe Gräser auf das Haus zu. Der weite Eingangsbereich liegt versteckt hinter dichtem rosa blühenden Flieder. Links daneben der Stall. Die Türen fehlen. Ich gehe in das alte Haus, bewege mich vorsichtig auf dem verrotteten Holzdielenboden. Teile der Außenwand fehlen. Der mitten im Haus liegende Kachelofen ist zerschlagen, seine Scherben liegen breit verstreut herum. Zwischen ihnen leere Flaschen und ein Damenstiefel. Ich sehe mir die Kacheln näher an, vielleicht finde ich eine bemalte Zierkachel. Aber es war nur ein einfacher, schmuckloser Ofen, wie er früher überall in den kleinen Bauernhäusern und Katen gebaut wurde. Auch sonst finde ich nichts mitnehmenswertes.

Das alte Haus ist nur mehr eine dem endgültigen Verfall preisgegebene Ruine. Ich verlasse das Gebäude, schaue mich um. Wer hat hier früher gewohnt, wer ist danach eingezogen, welche Schicksale hat das Haus gesehen?

Ein altes Haus inmitten grüner Natur. Der Wind bläst stetig frisch, es ist zu kühl um mich wohl zu fühlen. Zartgrüne Blätter an niedrigem Buschwerk flattern nervös. Verwaschene Wolken ziehen südwärts ihres Weges. Ein Hauch von Fliederduft lässt den Frühling
erahnen.

Aber wo ist Junkeracker? Wo ist das kleine Dorf in dem früher über 500 Menschen lebten? Ein paar Steinwürfe entfernt liegen zwei neue Häuser eingebettet zwischen sanfte Bodenwellen. Seitlich des sich in der Ferne verlierenden Plattenweges ragt das Dach eines größeren Bauernhofes aus der Landschaft. Ein paar hundert Meter westlich von hier noch einige weitere Wohn- und Ferienhäuser aus der Nachkriegszeit. Dazwischen gähnt Leere. Wo standen früher die Häuser, wo war die Schule, die Molkerei? Was ist mit Junkeracker nach dem Krieg geschehen? Wieviele Menschen wohnen heute noch hier?

Fragen über Fragen, denen ich nachgehen werde. Ich steige in meinen Wagen, starte den Motor, fahre weiter, will neue mir bisher unbekannte Wege erkunden.