Die Besten gehen ins Ausland
Samstag, 25. September 2004
Ahhh, ich bin wieder in Danzig! Es ist das siebte Mal in diesem Jahr und jedes Mal wenn ich hier eintreffe, atme ich zuerst befreit durch. Ich bin wieder in Danzig! Mein Auto habe ich auf einem bewachten Parkplatz in Saspe abgestellt und nun strebe ich mit Umhängetasche und Seesack einem der Hochhäuser zu, in dem Kinga wohnt. Es ist später Vormittag und sie kann noch nicht zu Hause sein. Sie war in Oppeln, besuchte dort für mehrere Tage einen Kongress und wird erst heute Abend in Danzig eintreffen.
Ich suche in meinen Taschen gerade den Schlüssel zum Eingang als hinter mir „Wolfgang!“ gerufen wird. Es ist Kingas Bruder Mariusz, den sie gebeten hatte, ein wenig einzukaufen. Sie wusste nicht, ob ich noch so rechtzeitig eintreffe um selber etwas besorgen zu können. Zusammen fahren wir rauf in den 9.Stock. Kingas Wohnung bietet auf der einen Seite einen weiten Blick nach Langfuhr und von den gegenüber liegenden Zimmern nach Glettkau und Zoppot bis Adlershorst. Ich stelle mein Handgepäck ab -das meiste ist noch im Auto- und begrüsse erst einmal Mariusz richtig. Er strahlt, ist voller Freude: „Ich habe eine Arbeit gefunden, in Irland!“ Mariusz ist Maschinenbauingenieur und wurde vor fast zwei Jahren arbeitslos. Er wurde wegrationalisiert und mit Mitte Vierzig, dazu gesundheitlich ein wenig angeschlagen, ist es auch in Polen fast aussichtslos, einen neuen Job zu finden. Er erhielt für ein Jahr Arbeitslosengeld, den Standardsatz von rund 100 Euro, danach bekam er nicht einmal mehr Sozialhilfe. Nur durch Unterstützung seiner Familie kam er halbwegs über die Runden. Der Zwang Arbeit zu finden und jede, aber auch wirklich jede Arbeit anzunehmen, die ihm mit seinen kaputten Knien möglich war, führte dazu, dass er sich als Schreibkraft in einem Büro in der Stadtmitte verdingte. Als Arbeitsentgelt war der gesetzlich vorgeschriebene Mindestlohn vereinbart worden, umgerechnet gerade mal 180 Euro brutto. Davon gingen noch Steuern, Versicherung und Fahrtkosten weg, sodass er trotz acht Stunden täglicher Arbeit nicht viel mehr als die früher gewährte Arbeitslosenunterstützung erhielt.
Aber jetzt ist er glücklich: „Ja, ich habe eine Arbeit in Irland gefunden. In meinem Beruf als Maschinenbauingenieur. Ende nächster Woche fliege ich.“ Er war von einem Freund, einem Studienkollegen, der bereits in Irland arbeitet, angerufen und gefragt worden, ob er nicht kommen wolle. Mariusz, in Allenstein geboren, aber schon seit Längerem in Danzig wohnend, zögerte nicht lange. Er sagte zu, wird jetzt erst einmal für ein halbes Jahr alleine nach Irland gehen. Danach aber, so ist es geplant, wird er seine Lebensgefährtin nachholen.
Die Arbeitslosigkeit, die sich daraus ergebende Armut, die mangelnden Zukunftsperspektiven, aber auch der Wille, sich durchzukämpfen und alle sich ergebenden Chancen wahrzunehmen, führen dazu, dass viele Polen von Amerika träumen, von Irland, aber auch von einer Arbeit in Deutschland. Das sind nicht die einfachen oder ungelernten Arbeiter, sondern häufig hochqualifizierte und flexible Fachkräfte. Alleine von meiner in Danzig lebenden Familie arbeiten alle Jüngeren zumindest zeitweise im Ausland – in Danzig finden sie keine Arbeit.
Die Besten gehen. Und hoffen, eines Tages doch wieder nach Danzig zurück zu kehren...
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P.S.: Mariusz ist nicht alleine gegangen. Er hat 2005 in zweiter Ehe Iza geheiratet, fand nicht den Job den er erwartete, und seine Frau, Akademikerin, jobt in Pubs und Restaurants. Beide sehnen sich danach zurückzukehren, aber sie sind realistisch genug einzusehen, der Generation der "Looser" anzugehören, also jenen vielen Polen, die im Wandel der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unter die Räder gerieten und -realistisch betrachtet- auch nicht mehr wieder hochkommen.
Mein großer Respekt gilt trotz alledem Jenen -ob Deutsche oder Polen-, die NIE aufgeben, die immer weiterkämpfen, und stets trotz widrigster Umstände versuchen, alleine auf eigenen Beinen zu stehen.