Wein und Tod

Samstag, 13. November 2004, nachmittags

Wir hatten 13:00 Uhr ausgemacht. Um Zwei sollte es zwar erst offiziell beginnen, aber es waren ja doch noch einige Vorbereitungen zu treffen. Den Wein hatte ich bereits bei meinem letzten Danzig-Aufenthalt vor zwei Wochen vorbeigebracht. Jetzt führe ich lediglich einige Notizen mit mir und eine Tasche mit herbstfarbenen Weinblättern von Brackenheimer Rebstöcken, die zur Dekoration auf den Tischen verteilt werden sollen.

Heute Nachmittag soll bei der Deutschen Minderheit ein „Danziger Weintag“ stattfinden. Mit fünf Württemberger Weinen aus der Brackenheimer und Besigheimer Gegend sowie zwei Rheinhessen-Weinen will ich einige der Weine verkosten, die zu den im Neckarraum am häufigsten Getrunkenen zählen.

Für Brot, Käse und Schmalz ist gesorgt, der Weißwein größtenteils kühl gestellt. In Gedanken gehe ich noch einmal die Reihenfolge durch in der wir die Weine verkostet werden. Mit einem leichten Rheinhessen-Riesling fangen wir an, dann ein Silvaner gefolgt von einem Trollinger mit Lemberger. Weitere Weine sind ein Weißherbst vom Lemberger, ein Gewürztraminer, ein Schwarzriesling und noch eine Riesling Spätlese. Im Vortragsraum ist bereits der Projektor aufgestellt. Ich ordne meine Notizzettel, überfliege ein kleines Weinbrevier, das Nicole in den letzten Tagen erstellt hatte. Sie hat auch ein Quiz vorbereitet, dessen Gewinner zu Weinkönigin und –könig gekürt werden. Mittlerweile füllt sich der Saal. Viele Gesichter kenne ich bereits.

Wir sind in ausgelassener Stimmung. Helga stimmt ein neues Lied an und auch ich singe mit. Mein Mobiltelefon summt in der Hemdtasche, aber ich will das Gespräch jetzt nicht entgegen nehmen. Bei dem Geräuschpegel könnte ich auch nichts verstehen. Aber mich interessiert trotzdem wer anruft. Ich hole das Handy hervor und werfe einen Blick auf das kleine leuchtende Display. Aha, es ist aus Spanien, die Frau meines Vaters ruft an. Es ist 16 Uhr 15. Nun ja, wahrscheinlich nichts Wichtiges, warum soll ich abheben? Ich werde später zurückrufen.

Ich ziehe meinen Mantel an, frage Gerhard Olter, ob er schon mein Taxi bestellt habe. Er nickt mir zu, sagt, es müsse gleich vor der Haustür stehen. Scherzend und lachend verabschiede ich mich von einigen der Besucher, die sich nun ebenfalls auf den Nachhauseweg machen. Gut gelaunt gehe ich hinunter auf die Straße, sehe das bereits wartende Taxi, steige ein und bitte den Fahrer mich nach Saspe zur Ulica Pilotow (Fluhafenstraße) zu fahren. Nach kurzer Fahrt hält er am Ziel und ich bezahle den aufgerundeten Fahrpreis. Mit dem Fahrstuhl geht es in den 9.Stock des Wohnblocks. Ich schließe die Tür auf, strahle die wartende Kinga an. Sie kommt langsam mit ernster Mine auf mich zu, sagt in Englisch: „Wilczek, Dein Vater ist tot. Ich habe um halb fünf einen Anruf und dann ein Email erhalten, dass er kurz zuvor gestorben ist.“

Mein Vater ist tot. Eine Welt bricht zusammen. Nach langer schwerer Krankheit gestorben. Vor meinem Flug nach Danzig hatte ich mich noch erkundigt, ob unmittelbare Gefahr bestünde. Das hatten die Ärzte verneint. Ich hatte gehofft, in seinen letzten Stunden bei ihm sein zu können. Und nun ist er tot. Mir geht durch den Kopf, dass heute vor 110 Jahren seine Mutter geboren wurde. Sie hat ihn leiden sehen, hatte Erbarmen, und holte ihn heim.

Ein weiterer alter Danziger hat seine letzte Reise angetreten. Sein letzter Wunsch war, seine eingeäscherten sterblichen Überreste zu Hause, in der Heimat, in der Danziger Bucht, beisetzen zu lassen. Ich werde ihm diesen Wunsch erfüllen. Im nächsten Jahr, wenn wir bei schönem Wetter mit einem Schiff hinaus fahren können. Er wird dann zu Hause, in Danzig, seine letzte Ruhe finden.

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P.S.: Ich konnte dem Wunsch meines Vaters nachkommen. Ich konnte ihn im Mai 2005 in der Danziger Bucht beisetzen. Näheres dazu unter http://forum.danzig.de/showthread.php?t=964