[SIZE="4"]Reise in die Vergangenheit
Mein Vater stammt aus Danzig. Danzig, das war mir immer ein Begriff. Seit früher Kindheit wußte ich von der Schönheit dieser Stadt, von der Trauer, nicht mehr in dieser Stadt zu leben, von der Hoffnung, irgendwann zurückzukehren. Das Krantor, die Lange Brücke und die Mottlau wohlvertraut, denn ein Foto hing immer in unserer Wohnung. Ich kannte die Langgasse, die Frauengasse, den Langen Markt und so vieles mehr. Natürlich nur vom Hörensagen, denn ich wurde erst 1949 in Essen geboren. Aber in mir war immer die Sehnsucht nach diesem Osten, nach diesem Danzig. Und eigentlich wollte ich immer einmal hin.
Aber irgendwie war wohl nie die Zeit, bis ich eines Morgens ganz klar wußte, ich fahre nach Danzig. Nicht irgendwann in irgendeiner fernen Zukunft, sondern jetzt. Als ich meiner Tochter davon erzählte, war für sie klar, mitzukommen. Mein Vater, der nach einem Besuch 1992 nicht mehr in seine Heimatstadt fahren wollte, hatte nur einen Wunsch: "Nehmt ihr mich mit?" "Ja, ja und nochmals ja und mit tausend Freuden." Etwas Schöneres als diese Reise mit meinem Vater konnte ich mir kaum denken. Innerhalb kürzester Zeit hatte meine Tochter Zimmer und Flüge gebucht, ich einen Reiseführer und ein Wörterbuch gekauft und gelernt, einige polnische Wörter auszusprechen. Schon saßen wir im Flugzeug und hörten mit Freude die Ansage des Piloten: "Wir werden einen guten Flug haben, denn wir fliegen in die Sonne, wir fliegen nach Danzig." So war es und nach gut einer Stunde waren wir dort. Es stand zwar Gdansk, aber das war nicht wichtig, ich las Danzig; und wir waren in Danzig. Mein Papa, meine Tochter und ich.
Wir wohnten in der wunderschönen Frauengasse in einem typischen schmalen Danziger Haus. Ganz schnell machten wir uns auf zum ersten Rundgang. Mein Vater führte uns an der mächtigen Marienkirche vorbei auf die Jopengasse Richtung Zeughaus und auf die Langgasse, die genau so wunderschön aussah wie ich sie von alten Bildern kannte. Dieses wunderschöne Rathaus, der Lange Markt, vorbei am Neptunsbrunnen und am Artushof und dann runter durch das Grüne Tor an die Mottlau. Längs der Langen Brücke dann vorbei am Heiliggeist Tor und jetzt standen wir endlich vor dem berühmten Krantor. Dann aber weiter zum Häkertor, in die Häkergasse und dann befanden wir uns dort, wo einst meines Vaters Vaterhaus stand. Die Häuser gibt es nicht mehr. Das war ein bewegender und ein schlimmer Moment, tausend Gedanken, die plötzlich in mir waren. Erinnerungen und Tränen bei meinem Vater, aber auch bei uns, meiner Tochter und mir. Plötzlich hatte alles ein Gesicht und auch vor meinem Auge entstand das, was ich doch nie erlebt hatte. Eine schöne Stadt, das Leben dort, eine glückliche Kindheit in Liebe und Geborgenheit - dann Schnitt - eine brennende Stadt, Flucht, Verzweiflung und Schmerz, der nie mehr vergehen wird.
Der nächste Tag war knackig kalt, aber wunderschön, so daß mein Vater meinte, wir sollten bei diesem herrlichen Wetter auf jeden Fall nach Zoppot fahren. Ein Traumtag und wir standen an der Ostsee, an diesem endlosen Seesteg. Es war eiskalt aber wunderbar. Ein blauer Himmel mit weißen Wolken, eine blaue Ostsee, schreiende Möwen und Schwäne, die stolz daher schwammen. Natürlich erst einmal den Seesteg rauf und 'runter, dann am Strand entlang und noch einen Rundgang durch Zoppot bevor es wieder nach Danzig ging, wo wir durch die vielen kleinen Gassen liefen. Meine Tochter und ich hatten Fragen über Fragen, die mein Vater zwar alle beantwortete, was ihm aber oft sehr schmerzlich war, wobei ihm aber immer wieder immer mehr Erinnerungen aufstiegen, mit denen er uns fütterte.
Was meinem Vater wichtig war, ein Besuch in Heubude. Dort waren sie als Jungen immer mit dem Rad hin. Wir fuhren mit dem Taxi und einem Fahrer, der ganz gut deutsch sprach. Aber Heubude, das kannte er nicht. Erst nach Beschreibungen fiel ihm dann ein, das könnte Stogi sein. Ja Stogi war Heubude. Einiges hatte sich auch dort verändert, aber die Ostsee war da. Selige Erinnerungen. Das Taxi brachte uns zwei Stunden später zur Westerplatte. Ich wollte sehen, wo damals dieser unselige Krieg begonnen hatte. Ich wollte auch Neufahrwasser sehen, von wo aus meine Großeltern 1945 mit einem Schiff nach Dänemark flüchteten.[/FONT]
Nur noch ein Tag Danzig. Noch einmal Papas altvertraute Wege gehen, die täglichen Gänge, der Weg zur Schule, zum Sport, zum Bootssteg, immer wieder die alten Gassen, noch einmal die Häkergasse, Brausendes Wasser und Fischmarkt, noch einmal durch alle Tore und abends noch einmal längs der Mottlau nach Hause gehen. Wir haben alle Gassen und Orte besucht, die mir aus Erzählungen schon lange bekannt und vertraut waren, alles das, was meinem Vater als Kind und sehr jungem Mann lieb und teuer war. Es war eine Reise in die Vergangenheit, verbunden mit vielen Erinnerungen und Freude aber auch mit viel Trauer, Schmerzen und Tränen, aber wichtig. Ich denke, wichtig für meinen Vater, noch einmal in der Heimat gewesen zu sein und sie wiederzuerkennen. Für mich und meine Tochter als Nachgeborene ein wichtiger Blick in die Vergangenheit. Wir können uns jetzt vorstellen, wie unsere Familie damals gelebt hat.
Ich verstehe jetzt so manches viel besser; wie schrecklich es für meine Großeltern gewesen sein muß, in Ungewißheit die Heimat zu verlassen, irgendwann als unwillkommene Ostdeutsche in den Westen zu gelangen und nach vielen Jahren der Hoffnung irgendwann einsehen zu müssen, daß es kein Zurück mehr geben würde.
Am nächsten Morgen verließen wir Danzig mit Tränen in den Augen. Für mich war diese Reise mit meinem Vater die wichtigste und interessanteste meines Lebens und sie wird mir zeitlebens unvergessen bleiben. Das Stück Bernstein, welches mein Vater mir in der Frauengasse schenkte, gehört seitdem zu meinen wichtigsten Besitztümern.
Ich habe mich in diese Stadt verliebt, ich spüre eine Verbindung in mir zu Danzig und ich werde wiederkommen. Wieder und wieder ... und wieder.