Eine Fahrt durchs Große Werder


Freitag, 06. September 2002

Es ist neun Uhr morgens. Heute habe ich ein größeres Programm vor, will über die Dörfer im Werder herumfahren. Langsam, ganz langsam, mit meinem Autochen, dem Fiat 126, der auch nur ein gemütliches Dahinzuckeln erlaubt.

Von der Pontonbrücke in Fürstenwerder kommend biege ich nicht rechts ab Richtung E77 sondern fahre gerade aus Richtung Brunau (Bronowo). Gleich nach Ortsende weite Zuckerrübenfelder. Die Straße ist gesäumt von einer Allee mit Buchen, Kiefern und Weiden. Die Felder zur Linken sollen alle einem Holländer gehören, der sich in Fürstenwerder niedergelassen hat. Hier soll aber auch ein Belgier, ein Italiener und bald ein Deutscher wohnen. Ich habe sie jedoch noch nicht kennen gelernt. Die Straße ist Schlagloch übersäht und ich versuche immer wieder, den größten Löchern im Asphalt unter dem altes Kopfsteinpflaster hervor kommt, auszuweichen. Knapp 3 Kilometer nachdem ich Fürstenwerder verlassen habe überquere ich einen vollkommen verkrauteten Entwässerungskanal. Wir befinden uns hier überall fast zwei Meter unter dem Meeresspiegel. Früher müssen doch hier überall Schöpfmühlen ihren Dienst verrichtet haben. Auch in meiner Familie waren in früheren Jahrhunderten einige Schöpfmüller. Die Felder sind alle abgeerntet. Am Ortseingang von Brunau linksseitig langgestreckte weiße Ställe. Bis hierher waren es genau vier Kilometer. Auf holprigem Kopfsteinplaster – sicher noch aus deutscher Zeit stammend – komme ich an mehreren niedrigen Häuschen vorbei. Hier muss es irgendwo nach Jankendorf gehen, jenem kleinen Örtchen an der Elbinger Weichsel, das heute in keiner polnischen Karte mehr verzeichnet ist. Hier war einer meiner Vorfahren Gerber. Am Ortsende von Brunau einige zweistöckige Wohnblöcke mit Flachdach.

Nach zwei Kilometer komme ich nach Wisniowka Gdansk, einem Ort auf dessen Gebiet auf alten deutschen Karten lediglich eine Häuseransammlung ohne Ortsnamen zu finden ist. Am Ortseingang schwarz abgebrannte Feldraine und Felder. Umpflügen ist eigentlich besser als abbrennen, denke ich. Nach wenigen Häusern ist der Ort bereits verlassen und auch hier erstrecken sich die abgebrannten Felder bis an den Horizont. Alles ist verbrannt, tot, die braune Ackerkrume liegt offen, es staubt. Noch zwei Kilometer und dann sind wir in Scharpau (Skarpawa), einem kleinen unscheinbaren Dörfchen, das heute der Elbinger Weichsel ihren Namen gibt. Dieses verschlafene Örtchen war zu früheren Zeiten Sitz des Nehrungschen und Scharpauschen Amtes. Kaum zu glauben. Am Ortseingang ein grüner, verlassener, verfallener kleiner Laden. Auch hier lebten meine Vorfahren. Danach ein großes Gut, auch dieses verfallen, verlassen. Verfaulende Heuballen quellen aus geöffneten Toren. Es ist tief deprimierend, aber hier leben Menschen, ein Hund bellt. Eine Frau mit Thermoskanne kommt meinem langsam fahrenden über das grobe Kopfsteinpflaster hoppelnde Auto entgegen. Bringt sie ihrem Mann einen Schluck Kaffee? Mein Gott, wo gibt es denn hier Arbeit? Ein schwerer LKW zieht schwarze Rußwolken hinter sich her. Ich komme zum Ortsende, muss aber umdrehen, da der Weg nach Tiegenort (Tujsk) bereits am Ortsanfang links abbog. Ich atme tief durch, bin erleichtert, als ich wieder auf der richtigen Straße bin. Aber ich will all diese Orte sehen, weil überall hier, in jedem, aber wirklich in jedem einzelnen Dorf jahrhundertelang die Vorfahren meiner Mutter lebten. Ich muss diese Wohnplätze sehen, ich spüre das tiefe Bedürfnis in mir, denn hier, aus diesem Boden, kamen meine Wurzeln. Nach einem Kilometer komme ich nach Kalteherberge (Swierznica). In der Landschaft aufgelockert einige alte Höfe. Hier noch zwei Ziegelhäuser, wahrscheinlich Wohngebäude, dort noch ein Teich mit emsig schnatternden Gänsen. Ihre langgestreckten Hälse recken sie zu meinem dahintuckernden Autochen. Zwei Kilometer nach Kalteherberge überquere ich die Priezniss. Sie ist verkrautet, kein Wasser ist zu sehen, trotzdem stehen Angler da und versuchen ihr Glück. Ich bin versucht, durch das geöffnete Fenster „Petri heil“ zu rufen. Ein Zugvogelschwarm zieht über mir weg. Unendlich viele Vögel, der Himmel ist schwarz gesprenkelt. Wehmut erfüllt mich, aber auch Ruhe. Der Herbst kommt. Ein paar hundert Meter weiter Novotna. Bin ich hier in Neuendorf? Nein, das kann nicht sein, Neuendorf heißt auf polnisch anders. Aber meine alten deutschen Karten sind zu ungenau. Es hat sich doch einiges getan, alte Hausansammlungen gibt es nicht mehr, neue sind geschaffen, Kanäle sind zugeschüttet oder vollkommen überwachsen, alte Wege sind nicht mehr, dafür durchziehen neue Asphaltbänder die Landschaft. Trotzdem gibt es hier keine Entfernungen. Alles ist dicht bei dicht. Die jahrhundertealte Kulturlandschaft hat überall Spuren hinterlassen. Mit geöffneten Augen sind sie überall zu sehen.

Ich erreiche Novotna. Kurz vor dem Ort reißt ein schwerer Trecker den abgeernteten Acker auf, wirft fruchtbare Erde zu halbmeterhohen Wällen auf. Fünf Störche stochern in den tiefen Furchen. Ich dachte, sie sind schon alle weg. Ein flüchtiges Lächeln huscht über mein Gesicht, aber die während der Fahrt aufgekeimte Melancholie verlässt mich nicht. Sie sind noch da, aber der Sommer geht jetzt trotzdem. Er geht, der Herbst kommt, Ruhe wird einkehren, zur Besinnung aufrufen. Novotna ist ein trostloses Dorf. Ich komme an einem riesigen landwirtschaftlichen Anwesen vorbei – es muss eine Großkolchose gewesen sein - aber auch hier Verfall, wo immer auch das Auge hinblickt. Wo ist die Zukunft? Wo? Nach dem Ort hölzerne Masten, auf ihnen Porzellanisolatoren. Wie alt sind sie?

Noch ein paar hundert Meter, dann fahre ich über Kleinbahnschienen, verrostet, stoße auf die von Fischerbabke (Rybina) nach Tiegenhof (Nowy Dwor Gdanski) führende Straße. Hier biege ich Richtung Tiegenhof ab, denn ich will noch weiter in das südliche Werder.