Das Lapidarium in Langfuhr
Pfingstsonntag, 04. Juni 2006, mittags
Vor vier Jahren, im Mai 2002, wurde beim I. Internationalen Treffen der Danziger neben der oberhalb des Hauptbahnhofs gelegenen Heilig-Leichnam-Kirche ein Denkmal für die nicht mehr existierenden Friedhöfe feierlich eingeweiht. Diese Gedenkstätte wird häufig besucht und stimmt versöhnlich angesichts der in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts plattgewalzten alten Friedhöfe.
Kürzlich las ich in einer Mitteilung der Deutschen Minderheit in Danzig, dass eine weitere Gedenkstätte in Langfuhr (Wrzeszsc), ein Lapidarium, eingerichtet und am 18. Mai eröffnet wurde. Während meines jetzigen Aufenthaltes fuhr ich fast täglich auf der Halben Allee an dieser Stätte vorbei und da Kinga und ich gerade ein wenig Zeit haben, beschließen wir auf unserem Weg nach Danzig spontan, am Lapidarium einen Halt einzulegen.
Wir biegen in die zur Technischen Hochschule führende Gossler-Allee (ul. Zwyciestwa) ein und parken den Wagen auf halbem Weg zur Universität. Die beidseits der Strasse gewachsenen alten hohen Laubbäume bilden einen dunklen Tunnel und der Wind rauscht brausend durch die Blätter. Ein kleines Schild weist zum Lapidarium. Wir betreten den „Akademischen Park", eine Parkanlage, die sich fast bis nach Danzig hin erstreckt und auf den alten Danziger Friedhöfen errichtet wurde. Hier, in diesem Eck, befand sich in früheren Zeiten der Friedhof der Pfarrgemeinden St. Nikolai und Königliche Kapelle. Und irgendwo hier, wo wir jetzt gerade gehen, müssen auch Gebeine meiner Vorfahren liegen.
Es ist ein Platz der Ruhe, der Besinnung. Unter den Bäumen stehen Bänke, die zum Verweilen einladen. In der heutigen Danziger Bevölkerung stieß das geplante Lapidarium auf sehr positive Resonanz.
Wir passieren alte Grabsteine: „Hier ruht in Gott mein lieber Mann, unser guter Vater und Opa Franz Döbler, *11.07.1866, + 01.11.1928". Franz Döbler starb im Freistaat Danzig. Dann ein Sandstein mit dem eingemeisselten Abbild des Verstorbenen: „Hier ruht die Asche von Richard Theodor Damme," und „seiner treuen Lebensgefährtin Emmeline, geb. Loche"
Kinga und ich stoßen auf einen kreisrunden Weg, der mit verschiedenfarbigen Granitsteinen gepflastert ist. Im Zentrum ein großer rötlicher Granitblock mit den goldenen Schriftlettern „Gyddanizc A.D. 997". Um ihn herum, kreisrund angeordnet zehn weitere Granitsteine, die alle Jahrhunderte seit der ersten dokumentierten Erwähnung der altehrwürdigen Stadt symbolisieren. Auf einer großen schwarz polierten Platte in mehreren Sprachen. „Das Lapidarium befindet sich auf dem ehemaligen katholischen St. Nikolai- und Königliche Kapelle-Friedhof".
Weitere Grabsteine, Grabplatten aus Sandstein, die waagerecht angeordnet sind. Auf ihnen bereits Vogelkot. Mir kommt der Gedanke, dass diese Platten bereits in wenigen Jahren zerstört, zerfressen sein werden, wenn sie nicht zusaetzlich geschützt werden. Ob dies die Gründer des Lapidariums überlegt haben?
Ich bin beeindruckt. Es ist zu sehen, zu empfinden, dass die heutige Stadtverwaltung die Geschehnisse die zur Zerstörung der alten Friedhöfe führten, bedauert. Was zerstört ist, kann nicht mehr wiederhergestellt werden. Aber, und das tut die Stadt, es kann an Vergangenes erinnert werden. Und das geschieht auf vorbildliche Weise.
Es wird immer wieder gesagt, bei der Zerstörung der alten Danziger Friedhöfe sei barbarisch vorgegangen worden. Die damaligen politischen Ziele waren, alles zu vernichten, was an die deutsche Vergangenheit erinnerte. Aber mit dieser sinnlosen Zerstörung ging auch ein Teil der Danziger Geschichte, ein Teil der Stadtidentität verloren. Die damaligen Friedhöfe waren Denkmäler, die seit dem Mittelalter angelegt und gepflegt wurden. Die Stadtverwaltung Danzigs sagt heute im Internet auf ihren Informationsseiten über diese untergegangenen Friedhöfe: „Manche von ihnen wurden skrupellos vernichtet, wobei das Recht der Verstorbenen auf ihre ungestörte Ruhe ignoriert wurde."
Es hat ein Umdenken statt gefunden. Und dies zeigt sich auch darin, dass diese Parkanlage sehr gepflegt und sauber gehalten wird. Sie strahlt Würde aus, Ruhe, und wer weiß, ob es die Friedhöfe oder diese Parkanlage gäbe, wäre Danzig deutsch geblieben. Denn schon vor 100 Jahren wurden von den Stadtplanern intensive Überlegungen angestellt, das Areal der Friedhöfe beidseits der Halben Allee anderweitig zu nutzen. So hieß es bereits 1908 in dem vom Westpreußischen Architekten- und Ingenieurverein zu Danzig herausgegebenen Werk „Danzig und seine Bauten": „Jetzt wird es viele geben, die die Lage und Anlage der Friedhöfe in der Allee nicht für günstig halten. Ihnen sei gesagt, dass … ferner die Hoffnung besteht, einst, wenn auch erst in Jahrzehnten, die Friedhöfe zu Parkanlagen und Promenaden umzugestalten, wie es bereits im Anschlusse an den Steffenspark mit einem alten Friedhofe geschehen ist. Dann kann die Stadt Danzig-Langfuhr im Mittelpunkt der Stadt Parkanlagen gewinnen, wie sie nur wenige Städte in gleicher Größe haben." Ich bin mir sicher, die Autoren dieses alten Werkes wüssten die Bemühungen der heutigen Stadtverwaltung zu würdigen.
Wir bleiben noch einen Augenblick. Für einen Moment kommt die Sonne hervor. Ich spreche ein stilles Gebet. Wir gehen. Ich bin froh, diese Stätte heute besucht zu haben.