„Oma, kennst Du ein paar Bäder an der Ostsee?“
Meine Großmutter stammte aus Danzig. Meine ganze Familie, alle Onkel und Tanten, alle weiteren vorkriegsgeborenen Angehörigen kamen aus Danzig. Ich wusste jedoch nur, dass diese Stadt weit, weit weg irgendwo an der Ostsee lag.
Ich war elf Jahre alt, als ich meine Oma nach den Ostseebädern fragte. Das war 1964. Meine schulischen Leistungen auf der Dachauer Oberschule waren recht bescheiden. Als zur nächsten Erdkundestunde die Hausaufgabe gestellt wurde, Ostseebäder zu benennen, dachte ich an meine Danziger Oma, die mir sicher weiterhelfen konnte.
Wir waren vier Kinder zu Hause, lebten in engen räumlichen Verhältnissen. In einem Uraltbau, mehrere Mietparteien, einfachverglaste im Winter eisblumenbewachsene zugige Fenster, kein Bad, Toilette über den Flur, Wohn- und Schlafzimmer mit rußenden Ölöfen beheizt, die Küche mit einem Wamsler-Küchenherd. Zum Waschen war Kaltwasser da, im Hof eine Sickergrube, die immer wieder überlief. Um in Ruhe meine Hausaufgaben machen zu können, ging ich nach Schulschluss häufig zu meinen Großeltern. Mein Opa Theodor, Jahrgang 1898, schon seit Vorkriegszeiten kränkelnd, von meiner Oma „Schafchen“ genannt, hielt sich immer im Hintergrund. Meine Oma Gertrud, vier Jahre älter, herzhaft lachend wie kaum jemand anders, mit einer ganz leichten singenden westpreußischen Klangfarbe sprechend, hatte das Zepter in der Hand. Sie liebte es, mir von Danzig zu erzählen, von ihrem einzigen Sohn Siegfriedchen, meinem Vater, wie und wo er spielte. Ich hörte zu, meist interessiert, aber ich stellte selten Fragen. Danzig war weit weg.
„Oma, kennst Du ein paar Bäder an der Ostsee?“ Ihr leicht rundliches Gesicht wurde noch breiter, sie strahlte. Und dann fing sie an aufzuzählen: „Zoppot, Glettkau, Brösen, Westerplatte, Heubude, Neufähr, Bohnsack...“, und erzählte Geschichtchen. Wie sie mit meinem Vater, dem Lorbass, dort baden war, an den langen Stränden, an denen Bernstein zu finden war. Und sie nestelte dabei an ihrem Halskettchen an dem ein kleiner in Silber gefasster Bernstein hing. Eilig notierte ich all die genannten Badeorte. Jetzt konnte auch ich einmal etwas im Unterricht beitragen!
Am nächsten Tag, in der Erdkundestunde, konnte ich es kaum erwarten, bis wir aufgefordert wurden, Ostseebadeorte aufzusagen. Meine Mitschüler hatten bereits eine Menge Orte genannt, Orte die sich wiederholten, aber es war nicht ein einziger Ort dabei den ich mir aufgeschrieben hatte. „Wolfgang, ja, weißt Du noch ein paar Bäder?“ Glücklich darüber, aufgerufen worden zu sein, stand ich auf und begann mit „Zoppot, Glettkau, Brösen, ...“. Der anfangs neugierige Gesichtsausdruck meines Lehrers änderte sich. Irritiert, mit Fragezeichen in den Augen, bemerkte er lediglich „aha, und das sollen Bäder an der Ostsee sein?“ und forderte mich auf, mich wieder zu setzen.
Da wollte ich doch auch einmal zeigen, dass ich etwas wusste, hatte ein Lob erhofft, erwartet, und dann hörte ich nur „und das sollen Bäder an der Ostsee sein“?
Etwas Gutes folgte jedoch aus diesem Erlebnis. Die Enttäuschung darüber war so groß und einprägend, dass ich die Namen all dieser Ostseebäder nie vergaß. Über Jahrzehnte hinweg blieben sie mir im Gedächtnis, und als ich mich Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts erstmals an diesen Stränden selber aufhielt, hatte ich noch immer den zauberhaften Klang der Stimme meiner Oma in den Ohren wie sie mir die alten Namen dieser Bäder aufzählte.
Schöne Grüße aus dem Werder
Wolfgang