Adventsfeier bei der HJ
Hohe Nacht
„Ich weiß, dass Du nicht kommen willst, aber bedenke,
es gibt etwas zu Futtern, Streuselkuchen,
vielleicht sogar Kakao. Überlege es dir noch einmal!"
Nach dieser Aufforderung ließ Lothar seinen Freund Gerd
stehen, drehte sich um und begann auf dem schneematschigen
Bürgersteig seinen Dauerlauf. Im Frühjahr hatte
er seine Lehre auf dem Güterbahnhof Leege Tor in Danzig
begonnen.
Die Reichsbahn lehrte ihn nicht nur den Güterumschlag,
sondern anfangs auch das Gruseln. Aber jetzt guckte er
nicht mehr hin, wenn die russischen Zwangsarbeiterinnen,
mit ihren Reisigbesen blutige Bandagen, Gipsreste
oder durchlöcherte Uniformen aus den Güterwagen kehrten.
Dazwischen lagen oft hart gefrorene Leichen, die das
Begräbniskommando auf einen Paketwagen zog, eine
grobe Leinenplane darüber deckte und in Richtung Heldenfriedhof
Silberhammer davon schob.
Die Straßenbahn Linie 5, an der Endstation Lenzgasse,
Ecke Hühnerberg bimmelte die Wartezeit ab. Gerd spurtete
los. Während die Bahn anfuhr, umklammerte seine
linke Hand den seitlichen Haltebügel, er hob federleicht
von der Straße ab, berührte flüchtig mit der rechten Fußspitze
eine Stufe und landete auf der Plattform, dicht vor
der fülligen Brust der Schaffnerin." Musst solange dich auf
der Straße ausquatschen" ostpreusserte sie ihn an." Na ja,
die war auch nicht von hier, was wusste sie von den Dan-
ziger Bowkes? Wie diese dreibastigen Jungens Ruderboote
und Straßenbahnen enterten und oft ohne Fahrkarte
die Lor (Straßenbahn) benutzten. Er hielt ihr die Monatskarte
unter die Nase, sie winkte grinsend ab und drängte
in den Wagon hinein, um die Fahrkarten der anderen
Fahrgäste zu kontrollieren.
Während der Fahrt durch die Weidengasse blickte Gerd
neugierig die Mietshäuser in der Weidengasse an. Seitdem
er seine kaufmännische Lehre begonnen hatte, entdeckte
er die Stadt und ihre verwinkelten Gassen wie ein
Durchreisender. Neugierig begegnete er fremden Menschen,
wissen wollte er, warum sie sich so unwissend,
einfach und naiv, meistens schulterzuckend, " Da kann
man eben nichts machen“, durchs Leben schlingerten.
Ende August hatten die englisch-amerikanischen "Fliegenden
Festungen "die Altstadt Königsbergs zu Schutt
und Asche zerbombt. Warum sollten sie Danzig verschonen?
Fast jeden Abend gegen 22 Uhr heulten die Sirenen
auf und die Bevölkerung zog voller Angst den Kopf ein,
unruhig und nervös versammelten sie sich in den Bunkern
und Luftschutzkellern. Jetzt erst merkten viele, wie der
Krieg ihnen auf die Pelle rückte.
Trotz seiner Zugehörigkeit zur Hitler-Jugend" hatte Gerd,
wie die meisten Danziger Jungen und Mädchen, den Konfirmandenunterricht
besucht. Ihm fiel ein, wie der Pfarrer
hintersinnig das Wort "Advent" erklärt hatte. "Es heißt
"Ankunft, Jesus der Friedensbringer ist angekommen,
aber wenn wir ihm die Tür versperren, wer wird dann
"Ankommen?“ "Die Bomber" dachte Gerd“, die flogen
unaufhaltsam über das ganze Reichsgebiet." An der Haltestelle
vor der Tabakfabrik Reemtsma hielt die Bahn, ein
Trupp Arbeiterinnen aus der Ukraine stieg ein, auch sie
waren hier angekommen, zwangsweise mussten sie Zigarren
drehen und Zigaretten herstellen.
Als Gerd dem Arbeiter Ewald in der Firma seinen Entschluss
mitteilte die Weihnachtsfeier zu besuchen, hustete
der Arbeiter verlegen. Er schnitt sich einen Priem von
der Stange ab, langsam bewegte er den braunen Tabakslutscher
im Munde hin und her. " Wollt ihr da singen
"Frieden auf Erden?", fragte er." Welches Wunder soll
geschehen: vielleicht singt ihr das neue Lied von den neuen
Wunderwaffen, wenn es das überhaupt schon gibt. ?"
Recht hatte er ja, der Ewald. Weihnachten, das Fest der
Christen war ins Abseits geraten und die Weisen aus dem
Morgenlande, mit ihrem Mohren, wären als > nicht Arier
< bestimmt vertrieben worden.
Um 19 Uhr trafen sich die Fähnlein der Hitlerjugend in
der Aula der Mädchenschule am Leege Tor. Die Pimpfe
kamen aus der Niederstadt und den Wohnkolonien Klein
und Großwalddorf.
Lothar und Gerd tigerten hin. Eine dünne Schneeschicht
hatte den Mottlau - Damm weiß getüncht, so richtig winterlich
war es im Dezember nicht geworden. Die zwei, drei
Grad minus ließen die Jungens in den schwarzen, leichten
Winteruniformen nicht frieren, aber das sollte sich bald
ändern.
Bei der Bastion Gertrud rutschten sie den Festungswall
hinunter, drückten die geschlossenen Eisenbahnschranken
zur Seite, schlüpften durch, überquerten geduckt die
Schienen und wiederholten auf der anderen Seite das
Manöver. Diese Vorsicht war unnötig, denn bei der Verdunkelung
und dem matten Sternenlicht konnte der
Bahnwärter, keine zehn Meter weit, die Umgebung beobachten.
Hinter der Schranke standen die ersten Mietshäuser
am Stadtrand. Am Ende der Häuserzeile, verdunkelte
der große Block der Mädchenvolksschule die Straßenkreuzung
am Leege Tor. Die Beiden waren nicht mehr
alleine. Von verschiedenen Seiten hörten sie Stimmen,
und manchmal sahen sie einen Glühstängel aufglimmen.
Lachfetzen flogen ihnen vom Eingang entgegen. Lothar
wollte die Feier nur zu einem bestimmten Zweck besuchen.
Er hatte sich einen Plan ausgedacht. Also: die Streuselkuchen
auf runden Tellern waren bestimmt wieder zu
einer Pyramide aufgetürmt worden. Von jeder Kuchenpyramide
wollte Lothar zwei Stücke organisieren. Unter seiner
Jacke hatte er, links am Koppel, den Brotbeutel hängen.
Die Schnallen waren losgeknöpft, damit die Beute
schnell versteckt werden konnte. Klauemann und Konsorten
waren auch bei dieser Feier unterwegs, man musste
schnell handeln.
Vor dem Hauptportal trampelten sich die Pimpfe die Füße
warm. Ab und zu flammte ein Streichholz auf. Tabak in
alten Pfeifen oder geklaute Zigaretten wurden angesteckt.
"Verdunklung!", schrie jemand dazwischen.
"Verpiss dich", rief jemand dem selbsternannten Ordner
zu. Punkt 19 Uhr wurde die Flügeltür geöffnet. Ohne sich
abdrängen zu lassen, schubste Lothar seinen Freund
durch die Menge, und so drängelten sie sich schnell durch
zur Tür in den Treppenflur rein. Lothar stürmte die Treppen
hoch, vor der Aula stoppte er sein Tempo ab, er trat
ein in den mäßig erleuchteten Raum. Wie vorausgesehen
waren die Streuselkuchenstücke pyramidenförmig aufgeschichtet
worden. Lothar trickste eine Armverletzung vor.
Er hatte den linken Arm aus dem Jackenärmel gezogen
und hielt den Arm unter der Jacke verborgen. Mit der
rechten Hand stibitzte er ein Stück Kuchen, reichte es
seiner linken Hand unter der Jacke weiter und die schob
das Stückchen in den Brotbeutel. Als er in dem Gewühl
um die Plätze unauffällig seinen Reibach gemacht hatte,
verließ er die Aula. Bei der Türwache fragte er scheinheilig
nach der Toilette und verließ im richtigen Augenblick
die Schule, um in der dunklen Straße zu verschwinden.
Gerd hatte zwei Kameraden aus dem KLV-Lager getroffen.
Zusammen saßen sie, nahe der Bühne, vor dem großen
Flügel. Der Deckel des Flügels war hochgeklappt. Bald
würde ein kleiner Pianist die Tasten befingern. Die Kuchenpyramiden
sahen ziemlich beschädigt aus, wie alte
Stadttürme nach einer Belagerung. "Macht nichts", dachte
Gerd, auch er hatte vorsorglich einige Stücke im Brotbeutel
verstaut. Auf der linken Seite der Bühne stand der
Tannenbaum, mit Lametta beworfen und einige bunte
Kugel, glitzerte im gelben Kerzenlicht. Die matte Wandbeleuchtung
sollte, wie im Kino, für eine feierliche Atmosphäre
sorgen. Lauwarm blieben die Heizkörper, die festen
Holzstühle kühlten zunächst die Ärsche ab, bevor sie
rückwirkend angewärmt wurden. Bissige Bemerkungen
flogen hin und her. " Nun heizt euch mal schön ein" schrie
Hotte über den Tisch.
"Womit? Haste einen Wodka in der Tasche?"
"Heiße Küsse machen es auch!", grölte Egon dazwischen.
"Danziger Blut ist keine Buttermilch!"
Ein Schneeball klatschte, gegen die Landkarte an der
Wand. Lautes Gebrüll und Fußgetrampel quittierten diesen
Treffer. Ihr Fähnleinführer witterte Klamauk; er
sprang auf die Bühne ruderte mit den Armen vor der
Brust herum, machte dann einen Handstand und tapste
auf den Händen über die Bretter, die die Welt bedeuten.
"Mensch, guck, ei er dir", schrie ein Pimpf durch die Aula.
Gelächter fetzte hoch, aber die meisten klatschten anerkennend
dem Fähnleinführer zu. Die Situation war gerettet.
Die Feier konnte beginnen. Der Fanfarenzug quetschte
hohe Töne aus dem Blech, laut und falsch traktierten
sie die Ohren. Dann baute sich eine Jungschar vor der
Bühne auf und fing an zu singen und alle stimmten ein. "
Hohe Nacht der klaren Sterne, die wie weite Brücken stehen,
über einer tiefen Ferne, drüber unsere Herzen gehen."
Ein Gedicht wurde aufgesagt, die Worte verloren sich im
Getuschel. Wieder ein Lied. Jetzt sangen sie das neue Lied
vom Tannenbaum. "Berghoch am Walde ragt von der
Halde, morgendwärts schauend der Lebensbaum. Dämmerung
umwoben harret er oben ferne entrückt im Weltenraum!"
Pimpfe schleppten Blechkannen zu den Tischen
und es wurde tatsächlich Kakao ausgeschenkt. Sofort
grapschten hundert Hände in die Kuchenbergchen.
Ein ohrenbetäubendes Fluchen und Lachen begleitet das
Gerangel um die besten, noch ganzen Stücke." Damit
kannste die Schuhe besohlen", kritisierte der Sohn vom
Apotheker die Qualität, trotzdem biss er unverdrossen
hinein. Der Wunderknabe setzte sich an den Flügel. Gleich
würde er in die Tasten greifen, die meisten Pimpfe wussten
nicht, wie so ein Abspielen von den Noten zustande
kam, vom regelmäßigen Üben, dem Training der Finger
und der Gehirnzellen, hatten sie vom Hörensagen vernommen.
Dieser oder jener von ihnen war nicht unmusikalisch.
Zu Hause nahm er die Mundharmonika oder
Quetsche zur Hand und fing an zu spielen, nach kurzer
Zeit konnte er die Familienfeiern begleiten und galt als
Künstler und manche erspielten sich damit ein Taschengeld.
Die Petersburger Schlittenfahrt wurde angesagt" Petersburg,
wo liegt das?", fragte Ede. Der Apotheker Junior
zeigte ihm einen Vogel." Mann, das ist heute Lenigrad."
Die Töne klimperten verstimmt durch die Aula. Egal, das
war Kultur, Kunst, wie man es in besseren Kreisen nannte.
Lange konnten die Danziger Jungens nicht zuhören. Sie
tuschelten sich ihre letzten Abenteuer zu, die behandelten
sicherlich ihre "Weibergeschichten", wie sie diese
großspurig nannten. So wurde der musikalische Vortrag
erträglich. Gerd bewunderte die Fingerfertigkeit des jungen
Pianisten, der sah nicht auf die Noten, der spielte sie
auswendig herunter.
"Einfach toll!", bemerkte der Sohn des Apothekers.
"Na, so schön klingt das verstimmte Klavier nicht, “ entgegnete
ihm sein Nachbar.“Das meinte ich nicht."
"Dass wieder ein russisches Stück gespielt wird, das ist
ungewöhnlich". Den Arbeiterjungens war dieses Problem
fremd. Der Schlager vom letzten Film, der Weiße Traum-:
"Kauf dir einen bunten Luftballon", der gefiel ihnen besser,
der kitzelte ihre Seele, oder das kitschige Militärlied,
halb Marsch, halb Schlager, das ihnen danach der
Fähnleinführer vorspielte. Er geigte die Töne sanft,
manchmal schmachtend durch den Raum.
"Wovon kann der Landser denn schon träumen, er träumt
von seinem Mägdelein, das er küsste unter Waldesbäumen,
bei manch verliebten Stelldichein. Hat sie ja so gerne und
aus weiter Ferne denkt er oft an Sie." Gerd erinnerte
sich an das Lied, das war nicht in so weiter Ferne,
noch vor einem Jahr im HJ-KLV - Lager Adolfsdorf, im
langweiligsten Teil Westpreußens, fernab einer Stadt.
Dort hatte die Mannschaft das Lied ausprobiert. Ein
Heimwehkranker, der nach Hause ausrückte, brachte es
aus Danzig mit. Nachdem der Ausreißer wieder im Lager
war, sang er ihnen, so nebenbei, die Strophen vor und
schon kannte jeder das Lied auswendig. Einige Tage später
auf, dem Marsch zum Schloss Herreneichen, zum
Mädchenlager, sangen sie zuerst wie gewöhnlich: " Wir
lagen vor Madagaskar" und danach diesen neuen Landser-
Schlager: "Wovon kann der Landser denn schon
träumen?" Der Gefolgschaftsführer war baff.
"Aufhören!" Aber niemand hörte auf sein Kommando. Bei
den Jungens lag hier der Nerv blank, sie reagierten mit
einer kleinen Meuterei, mit einer Befehlsverweigerung.
Gerd erlebte, wie sich bei ihnen kollektiver Widerstand
regte. Der Gefolgschaftsführer besaß eine Liste mit verbotenen
Liedern, deshalb musste er den Jungens das Singen
dieses Liedes verbieten. Angeblich regte es zu sentimentalen
Gefühlen an und verweichlichte die Gemüter. Und
jetzt, hier während der Weihnachtsfeier, geigte der
Fähnleinführer es herunter mit gedehnten Tönen - zum
richtigen Seelenschmaus. Donnerwetter, der hatte
Mumm.
Danach wurde vorgelesen. Vom Schützengraben. Mit
Kunsttannenbäumchen und Hindenburglichter im Unterstand,
die Mundharmonika ersetzte das Weihnachtsorchester.
Gedanken fliegen durch Zeit und Raum, die Lieben sind bei uns,
Für sie halten wir hier die Stellung um
den Frieden zu sichern. und so weiter.
Gerd hörte nicht hin, er wollte nach Hause. Er zeigte mit
dem Daumen zur Tür, die Freunde nickten ihm zu. Sie
hatten den gleichen Gedanken. Es war Zeit abzuhauen.
Langsam, mit weichem Auftritt ging er zur Tür, dem Posten
hielt er seine Monatskarte von der Straßenbahn vor
die Augen.
"Ich muss zur Nachtwache“, flüsterte er. Der winkte ab
und ließ ihn raus. Mit einem Atemzug sprang er die Treppe
hinunter. Als die Tür hinter ihm zugefallen war, atmete
er auf. Die oberflächliche Feier konnte sich mit dem Sternengefunkel
und all den Geschichten und Ahnungen, die
sie im Kopf erzeugten, nicht messen. Die einfachen räumlichen
Zufluchtstätten der Menschen waren sowieso nur
Höhlen zum Überleben in dem unendlichen Universum.
An der Schranke kletterte er auf den Deich und ging am
Mottlau- Ufer entlang nach Hause. Die Verdunkelung störte
ihn nicht. Ohne die künstlichen Lichter war er der Natur,
den Sternen und dem Mond näher gerückt. Er fühlte den
frostigen Wind auf seinem Gesicht, er atmete die frische
Luft ein, hier fühlte er sich wohl. Weihnachten 1944 war
nahe. Er war auf dem Weg dorthin.