Hallo miteinander,
unter dem Titel 'Neue Baugedanken im alten Danzig' erschien am 23. Oktober 1929 ein 14-seitiger Artikel über neue Bauwerke und damit verbundene Bausünden in der Zeitschrift 'Zentralblatt der Bauverwaltung', Heft Nr. 43 in 1929.
Wegen der Größe des Artikels werde ich den Text und die damit verbundenen Fotografien peu à peu ins Forum stellen. Der Text wird als eigener Beitrag erscheinen, die Fotos thematisch gebündelt in eigenen Beiträgen, aber mit den Abbildungsnummern des Hauptartikels. Wenn es gewünscht wird, kann einer der Moderatoren so die Fotos auch gerne in andere Bereiche des Forums verschieben.
Hier nun der Artikel im Originalwortlaut.
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Neue Baugedanken im alten Danzig
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Von Ministerialdirektor Martin Kießling
Danzig ist eine deutsche Stadt, auch wenn 5 - 6 v.H. seiner Einwohner Polen sind, auch wenn ein polnischer König in der Wetterfahne seines alten Rathauses im Winde schaukelt, Aber seine Zolltarife sind polnischer Willkür ausgesetzt, auch die Danziger Vorortbahnen sind in polnischen Händen, Polen hat die auswärtige Vertretung der Danziger Interessen, und der Hafen von Danzig wird von einem Ausschuss verwaltet, der neutraler Leitung untersteht und sich zur Hälfte aus Polen zusammensetzt. Seine Souveränität ist also keineswegs stabilisiert wie ein rocher de bronce, auch wenn es die Haltung souveränen Gebiets zu wahren sucht, sich mit zwei Parlamenten, dem Volkstag und der Stadtbürgerschaft, belastet und einen Regierungsapparat aufbietet, der in der Konstruktion und Vielseitigkeit seiner Ressorts den Verwaltungen größerer Staaten angeglichen ist. Mag das, was Danzig in so heikle Lage versetzt hat, Vergeltungs-, Gleichgewichts- oder Sicherungspolitik genannt werden, die Lösung bleibt dilettantenhaft, denn sie wird dem gesamten Europa, die sogenannten Siegerstaaten einbegriffen, noch viel Kopfzerbrechen machen.
Dieses mitten in der modernen Zeitgeschichte stehende Danzig ist nun in seinem Kern eine a l t e Stadt, stellenweise älter, runzliger und malerischer noch als Nürnberg. Wir haben allen Grund zur Freude darüber, dass uns ein mittelalterliches Städtebild so rein erhalten ist, dass insbesondere eine in ihrer Nationalität so gefährdete Stadt schon rein äußerlich ihr altes Deutschtum dokumentiert, wir fühlen aber auch einen gewissen Zwiespalt darin, dass diese Stadt notwendige moderne Gesichtspunkte gleichsam im alten Ratsherrenkostüm vertreten muss. Ein solches Kostüm ist nicht nur äußerer Behang, es verpflichtet und führt gelegentlich zu inneren Konflikten - nicht zuletzt in baukünstlerischen und städtebaulichen Fragen - wie die folgenden Zeilen wiederholt beweisen werden.
Das Danziger Gebiet mit seinen 380.000 Einwohnern, von denen 210.000 zur Stadt Danzig gehören, ist insoweit vom Glück begünstigt, als es trotz seiner engen Grenzen an Naturschönheiten alles vereinigt, was das Herz begehrt: einen unvergleichlich schönen Wald inmitten eines Hügelgelandes mit Höhenabmessungen, wie sie an der Ostseeküste selten sind, mit Ausblicken auf die See und auf das turmreiche Danzig. Dann die Danziger Niederung mit fruchtbarem Boden, mit schwarzweißen Kühen, mit sehenswerten alten Dorfkirchen, die zum Teil der Ordenszeit entstammen und mit Bauernhäusern von besonderem, mit der Landesgegend verwachsenem Typ (Abb. 1 und 2). Der kostbarste und volkstümlichste Besitz des Danziger Gebiets bleibt allerdings seine Küste, sein eigentlich ununterbrochener Badestrand, an dem die von rechts wegen bestehenden Seebadeorte und Badeanstalten von der angesessenen Bevölkerung fast als Zwang empfunden werden. Jedes dieser Seebäder hat seine besondere Eigenart: Zoppot, das internationale und mondäne Bad, mit leichtem Parfümgeruch auf dem riesigen Landungssteg und mit der unwiderstehlichen Anziehungskraft seines Spielkasinos: Glettkau. das stille, gutbürgerliche Bad für Einheimische und Auswärtige; Brösen mit sehr belebtem Strand, zumeist beschlagnahmt von der Bevölkerung des Vororts Langfuhr und des westlichen Danzigs; darin jenseits des Hafens der sehr schöne und an warmen Sommertagen von Tausenden von Menschen wimmelnde Strand von Heubude, das Wannseefreibad der Danziger, der Ersatz für die Westerplatte, die, ihrem Kulturzweck entzogen, der polnischen Munition zum Aufenthalt dient; schließlich und nicht zuletzt Bohnsack, das Bad der Philosophen und Naturgenießer, mit dem stattlichsten Strand, dem kräftigsten Wellenschlag und einer melancholischen Dünenandschaft, einsam und schön - , solange wie es dauert, denn Bohnsack ist von Danzig aus zwar mühsam zu erreichen, aber gerade deshalb der künftige Platz für die heißersehnten Wochenendhäuser.
Soviel, oder eigentlich so wenig von der Umgebung Danzigs. Wenden wir uns dem Stadtkörper selbst und seinen neuzeitlichen Lebensäußerungen zu, so ist festzustellen, dass das Ausdehnungsbedürfnis Danzigs im Augenblick zum geringeren Teil im Osten liegt, da, wo wir Gasanstalt, Elektrizitätswerk und Schlachthof finden, wo der Holzhafen beginnt und wo weitere industrielle Ausdehnungsmöglichkeiten locken könnten, wenn die Zeiten besser wären. Auch die bequeme Nähe der Wälder und des Badestrandes von Heubude üben auf die Ansiedlung eine verhältnismäßig geringe Anziehungskraft aus. Das bei weitem stärkere Siedlungsbedürfnis folgt auch in Danzig dem bekannten Zug nach dem Westen und sucht seine Bauplätze zwischen Langfuhr und Oliva. Es würde zu weit führen, die bis heute verwirklichten Bauvorhaben im Einzelnen zu schildern. Soweit Zahlen von der Lebhaftigkeit der Bautätigkeit ein Bild geben können, sei erwähnt, dass in den Jahren 1920 bis 1928 mit Beihilfen des Staates rund 5.000 Wohnungen errichtet worden sind. Wir wissen, daff bei der Hergabe von öffentlichen Mitteln die verschiedenartigsten Interessen berücksichtigt werden müssen, dass infolgedessen die Beihilfen zersplittert und die Bauausführungen verzettelt zu werden pflegen. Verhältnismäßig selten kommt es zu einer so glücklichen Kombination, dass größere zusammenhängende
Baukomplexe zugleich die praktischen Bedürfnisse befriedigen und das Stadtbild durch großzügige, nach einheitlichen Gesichtspunkten entworfene neue Bezirke bereichern. Auch Danzig hat nur an wenigen Stellen seine städtebaulichen Pläne mit Hilfe des Wohnungsbaues in die Wirklichkeit umsetzen können. Der Gedanke z. B., von Langfuhr zur Ostsee auf kürzestem Wege eine großzügige Straßen- und Grünflächen Verbindung die sogenannte Ostseestraße, zu schaffen, steckt noch in den Anfängen und findet eine Andeutung vorläufig nur in einigen Siedlungshäusern und einer gegenüberliegenden modernen Schule, auf die ich noch zurückkommen werde.
In unmittelbarer Nähe ist indessen ein neuer Stadtteil entstanden (Abb. 3 - 5 und 8), auf den ich als Beispiel für die Art und Weise neuer Bautätigkeit in Danzig um so lieber eingehen möchte, als ich während meiner dortigen Tätigkeit zu seiner Abrundung beitragen konnte. Die Gesamtplanung war im Großen und Ganzen schon vor der Zeit, als ich die Leitung des Danziger Städtebaues übernehmen durfte, festgelegt: als charakteristisches Stadtbild ein neuer Platz, der Neue Markt, und als besonders großzügige Anlage ein Baublock mit innerem Schulhof und Sportplatz und der damals noch nicht gebauten Pestalozzischule in der Achse einer Wohnstraße. Auch die Südseite der Ringstraße war fertig bebaut. Der an der Nordseite unter meiner Leitung errichtete Baublock musste Rücksicht nehmen auf eine übrigens in ungünstiger Ostwestrichtung mitten hineingebaute Kriegerheimstättensiedlung. Um diese Häuser nicht vollkommen von der Welt abzuschließen, geben überbaute große Öffnungen in der Ringstraßenfront den Blick hin und wieder frei und lassen die notwendige Luftzirkulation innerhalb des Blockes zu. Der Bauteil östlich des Heeresangers mußte zwar aus praktischen Gründen auch dem Lauf der Ringstraße folgen, konnte aber im Übrigen in kleine, in der Nordsüdlage liegende Wohnstraßen mit zweigeschossiger Bauweise aufgeteilt werden. Für die übrigen Straßen war aus wirtschaftlichen Gründen dreigeschossige Bauweise vorgeschrieben.
In welchen Formen und aus welcher Baugesinnung heraus ist nun dieser Bebauungsplan ausgeführt worden? Wir finden in dem Neuen Markt, der unter dem Einfluss meines Vorgängers in Danzig entstanden ist, nicht nur einen Platz von eindrucksvoller und origineller Raumwirkung, sondern auch eine Formengebung der Hauser, die sich endlich von dem Glaubenssatze freimacht, dass jedes Haus in Danzig und um die Siadt herum einen Giebel haben müsse. - Auch die Baublöcke nordlich der Ringstraße verzichten auf den Versuch, die mittelalterliche Romantik in die Neuzeit hineinzuretten.
Es ist zu verstehen, dass der mit baugeschichtlicher Gelehrsamkeit beladene und sich in die vergangenen Bauformen versenkende Architekt dem Zauber einer Stadt wie Danzig besonders gründlich zum Opfer fällt. Aber sollte nicht vielmehr jedem, der in der Gegenwart wurzelt, gerade der Anblick des alten Wunderwerks Danzig für immer von so solchem Zauber befreien? Sollte ihm nicht gerade diese Stadt offenbaren, wie hoffnungslos es ist, ihr Antlitz, ihre melancholische Schönheit und womöglich ihre Runzeln in unserer Zeit nachzuahmen? Das, was sie uns lehrt, was sie auch uns als fruchtbringendes Erbe hinterlässt, ist architektonische Weisheit höherer Ordnung und hat mit Stilformen nichts zu tun.
Deshalb wollen auch die schon genannte Pestalozzischule (Bildbeilage und Abb. 7, 8, 10 und 11) und das nicht weit davon in der Ostseestraße liegende neue Lyzeum (Bildbeilage und Abb. 6, 9 und 12) nichts anderes versuchen, als dem inneren Gefüge einer neuzeitlichen Lehranstalt und ihrem berechtigten Anspruch auf ein modernes Kleid gerecht zu werden. Das Neue ist entstanden aus Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit, nicht "um des Neuen willen" und nicht, wie ich hoffen möchte, als ein Symptom
der "großen Krankheit unserer Zeit", als welche gewisse Stimmen aus Danzig das heiße Ringen um einen baukünstlerischen Ausdruck für unsere Gegenwart glauben abtun zu können.
Während die Pestalozzischule als Doppelschule, in einfacher Berücksichtigung des fast identischen Raumprogramms für die Knaben- und die Mädchenschule zur symmetrischen Baugruppe wurde, entwickelt sich das Lyzeum, die Helene Lange-Schule, zu freier Baugestaltung. Die Baumassen staffeln sich den inneren Raumforderungen gemäß und suchen sich städtebaulich dem künftigen Zug der Ostseestraße einzufügen.
Was die Bauformen angeht, so kam es in den Vorstädten Danzigs kaum zu anderen Konflikten als zu dem ausgesprochenen oder unausgesprochenen Widerstand grundsätzlich anders eingestellter Gegner. Dagegen schlummerte auch bei Danziger Künstlern die Sehnsucht nach der Befreiung vom historischen Zwang, wie unter anderem die neue Ortskrankenkasse vom Architekten Bielefeldt oder eine Wohnhausgruppe am Englischen Damm von Wronka und Kempe beweisen. Der Ausgang eines
Wettbewerbs für ein Lyzeum in Zoppot legt Zeugnis dafür ab, dass unter Leitung eines tatkräftigen Stadtbaurats neue Anregungen auch in der Nachbarstadt Eingang fanden. Nicht so leicht öffnet sich der neuen Baukunst die Altstadt, die auch dem radikalsten Stürmer und Dränger Ehrfurcht, Rücksicht und Nachdenken auferlegt.
....... Ende des ersten Teils .................................................. .................................................. .......................................
Viele Grüße
Peter