Aus dem Danzig-Westpreußischen Kirchenbrief, Ausgabe Nr. 7 vom Nov.-Dez. 1949
Copyright-Vermerk: Herausgegeben von der Gemeinschaft Evangelischer aus Danzig-Westpreußen, (Hilfskomitee) e.V. Lübeck

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Die Vertreibung der Evang. Gemeinde Steegen, Bez. Danzig, im Jahre 1945

Als in der Nacht vom 22. zum 23. Januar 1945 russische Panzer in die Stadt Elbing eindrangen, war das Gebiet östlich der Weichsel auf das höchste gefährdet. Von der örtlichen politischen Leitung wurde der Treckbefehl ausgegeben, dem nur zögernd Folge geleistet wurde. Es war auch praktisch unmöglich, die vielen Trecks, die bei eisigem Winterwetter über die Frische Nehrung von Ostpreußen herüberkamen, durch die beiden Fähren der Weichsel bei Schiewenhorst und Einlage überzusetzen. Bis zu 15 Kilometer waren die Straßen vor den Fähren mit Treckwagen verstopft. Besonders die alten Menschen über 70 Jahre und die Kinder unter zwei Jahren waren den tagelangen Einwirkungen der grimmigen Kälte bis zu 30 Grad nicht gewachsen. Jeden Abend wiederholte sich in unseren Häusern das gleiche harte Bild: Hunderte von Menschen suchten in jedem Haus Zuflucht vor der grimmigen Kälte. Mein Pfarrgehöft beherbergte bis Ende Februar jeden Abend über hundert Menschen. Am Morgen versuchte jeder Treckwagen wieder einen Platz in dem riesenlangen Bandwurm des Flüchtlingszuges zu gewinnen. Täglich geschah es, daß aus dem Flüchtlingszuge Wagen des großen Sterbens sich absonderten. Vor unserer alten Kirche hielten sie inne, um, ihre Toten zur letzten Ruhe zu bringen. Mehrmals legten Treckwagen ihre Toten vor die Kirchentür, mit einem Papierfetzen versehen, auf dem in hastenden Schriftzügen der Name des Toten und die Bitte verzeichnet waren, den Toten zur letzten Ruhe zu betten. Das Meer spülte oftmals Ertrunkene an Land, deren Leben namenlos versank und die ihre Ruhe auf unserem alten, ehrwürdigen Friedhof fanden. Bis zum 4. März hielt ich noch regelmäßig an den Sonntagen Gottesdienst in unserer alten Dorfkirche, der von einer kleinen Schar der Gemeinde besucht war. Der 4. März schloß mit der Konfirmationsfeier der noch verbliebenen Konfirmanden unser gottesdienstliches Gemeindeleben ab. Die sich bereits abzeichnende harte Wirklichkeit der unsere Gemeinde durchziehenden Flüchtlinge zog die Gemeinde in den rasenden Strudel der Auflösung, seitdem die Frontlinie sich bis auf acht Kilometer an unseren Ort heranschob. Pausenlose Tieffliegerangriffe und das Artilleriefeuer forderten viele Opfer. Am 11. März versuchte ich noch bis zu unserer Nachbargemeinde Schönbaum durchzudringen, um auch dort die Konfirmanden einzusegnen. Hier drückte der Russe besonders stark auf den Weichselübergang bei Einlage. Diese Fahrt, die zu meinen härtesten Erlebnissen gehört, war von den grausigen Bildern des Kampfes erfüllt. Durch Sprengung des Weichseldammes bei Einlage war das tiefer gelegene Land überflutet. Die höher gelegene Straße war überfüllt mit Nachschubfahrzeugen, zurückflutenden Flüchtlingen und Viehherden. Viele Gehöfte gingen durch Beschuß der Tiefflieger in Flammen auf. Die Kirche in Schönbaum war durch Bombentreffer in dem Altarraum beschädigt. Der Lärm des Kampfes war so stark, daß ein Durchbruch der Russen erwartet wurde. Allein durch die infolge der Sprengung des Weichseldammes überfluteten Kanäle und Gräben wurde der angreifende Russe gehindert, durchzubrechen. Panzer und schwere Artillerie konnte er in dem versumpften Gelände nicht einsetzen. Lediglich von dem 16 Kilometer entfernten Tiegenhof konnte er Störungsfeuer auf die einzelnen Dörfer und Orte der Niederung legen. Bei dem Kirchenältesten Stoboy, der der Kirchengemeinde treu diente, fand ich in dem Keller Zuflucht. Kurz zuvor war der Kirchenkassenrendant Lehrer Schoepke durch Bombentreffer mit mehreren Gemeindegliedern ums Leben gekommen. Die Infanterieangriffe des Gegners wurden durch unsere Stützpunkte wenige Kilometer vor dem Ort aufgehalten. Bei meiner Rückfahrt suchte ich in Junkeracker unseren stellvertretenden Vorsitzenden des Gemeindekirchenrats, Oberlehrer Kriesel in Junkeracker auf. Gemeinsam besprachen wir die schweren Wege, die uns in den nächsten Tagen erwarteten. Der Ansturm der russischen Armeen auf Danzig, das bereits von allen Seiten eingeschlossen war, stand unmittelbar bevor. Wir selbst waren durch die Bewegungen des Feindes westlich der Weichsel bereits im Osten abgeschnitten. Für die noch verbliebene Gemeinde gab es nur eine Rettung über See. Bei unserem Abschied ahnten wir nicht, daß wir uns in diesem Leben zum letztenmal sahen. Oberlehrer Kriesel, der mit seinen 70 Jahren ein treuer Berater und Vater seiner Gemeinde war, war niemals vom Wege des Evangeliums abgewichen. Die Anordnungen des Schulrats, den Religionsunterricht in seiner Schule nicht zu halten, das Gebet durch einen politischen Morgenspruch zu ersetzen, hatte er abgelehnt. Wenige Tage später wurde er durch Tieffliegerangriff schwer verletzt und starb an der schweren Verwundung. An seiner Beerdigung konnte ich nicht teilnehmen, da ich am 14. März zum Volkssturm einberufen war.

ln den nun folgenden Wochen vollendete sich das Drama der Vernichtung von Danzig. Einzelne Teile der Bevölkerung Danzigs retteten sich über Plehnendorf auf die Frische Nehrung, von wo sie mit Schiff nach Hela übergesetzt wurden. Das Leben in der Gemeinde Steegen glich einem befestigten Feldlager. Reste der einst so stolzen und sieggewohnten Armeen waren mit ihren Stäben und Kommandostellen hier auf engstem Raum zusammengedrängt. Die Kirche war in einen großen Lazarettraum verwandelt. Das alte wunderliche Gestühl mit Ornamentik und alter Beschriftung wurde entfernt und in der Hast der Arbeit zerschlagen. Gottesdienst und Abendmahl fanden jetzt im Pfarrhaus statt. Nachdem ich durch die SS zum Volkssturm gezwungen war, übernahm Pastor Karnath aus Langgarben (Ostpreußen) die Vertretung. Pastor Karnath hatte bei mir Aufnahme gefunden, als er auf der Flucht erkrankte. Organist Conrad stärkte durch Orgelspiel die vielen Verwundeten in der Kirche. Nach der Einnahme Danzigs wurde von Schiewenhorst und Steegen aus ein Räumdienst durch die Marine eingesetzt. Bis zur Kapitulation wurde der größte Teil der Bevölkerung nach Hela übergesetzt, um von dort aus nach den einzelnen Häfen Mecklenburgs, Schleswig-Holsteins und vor allem Dänemarks verschifft zu werden. Die ununterbrochenen Tiefflieger- und Bombenangriffe forderten auch hier noch viele Opfer. Die wenigen noch in der Heimat zurückgebliebenen Menschen, darunter der greise Organist Otto Conrad, wurden 1946 von den Polen vertrieben So wurden die blühenden Gemeinden der Danziger Nehrung in alle Winde zerstreut. Die notwendige Sammlung und Betreuung erfolgt jetzt durch das Hilfskomitee Danzig-Westpreußen. Gott der Herr gebe uns die Kraft, neu zu bauen, was zerrissen und
zerstört ist.

Pautzke, Superintendent, jetzt Lübeck, Moislinger Allee