Aus dem Danzig-Westpreußischen Kirchenbrief, Ausgabe Nr. 22 vom September 1953.
Copyright-Vermerk: Herausgegeben von der Gemeinschaft Evangelischer aus Danzig-Westpreußen, (Hilfskomitee) e.V. Lübeck

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Die evangelische Gemeinde und Kirche in Hohenstein (Danzig-Land)
Von Pfarrer Bartlau

Hohenstein! Ein Ortsname, der einst im alten Deutschland wohl zehnmal vertreten war und darob zu allerhand Verwechslungen Anlaß gab. Um Hohenstein-Danzig geht's in diesem Bericht, nicht um das bekanntere Hohenstein/Ostpreußen mit seinem gewaltigen Tannenberg-Denkmal, der einstigen Hindenburg-Gedächtnisstätte. War's doch im Frühsommer 1940, als mich ein unbekannter Reisender, dem ich an einem Vormittag zufällig in der Bahnhofstraße begegnete, nach dem Weg zum Denkmal fragte. Einen Augenblick stutzte ich. - Der Zug war fort, Wartezeit genügend vorhanden - "nur 10 Minuten Wegs, bis kurz vor der Kirche an der Hauptstraße!" Der Unbekannte aus dem Westen wird sich über die Unbedeutendheit des Kriegerdenkmals von Hohenstein verwundert haben, allerdings dann selbst zu der Erkenntnis gekommen sein, daß dies Denkmal in diesem Hohenstein doch nicht das richtige gewesen. Auch dies Denkmal steht nicht mehr; es wurde im März 1945 mit 20 Wohnhäusern zerstört.

Ja, also unser Hohenstein, lieber Leser, damals eine Ortschaft von nicht ganz 2000 Einwohnern beider Konfessionen, an der Bahnstrecke zwischen Danzig und Dirschau gelegen, vor 1939 als Zollstation bekannt, mit ein paar Industrieunternehmungen wie Maggifabrik, Serofarm, Dachpappenfabrik, mit ein paar Dutzend Zollbeamten und dito Eisenbahnern, einer neuen evangelischen und einer neuen katholischen Kirche, einer sechsklassigen Volksschule, größeren Bauernwirtschaften und kleineren Siedlungen, vielen Neubauten ob der günstigen Vorortverbindung mit Danzig (20 Züge am Tage), ja, Hohenstein hatte sich recht entwickelt und war im Aufblühen.

Als evangelische Kirchengemeinde hieß sie Hohenstein-Rambeltsch; Rambeltsch als Muttergemeinde mit einem 250 Jahre alten ehrwürdigen Kirchlein, nur 3 km von Hohenstein entfernt, eine rein bäuerliche Gemeinde, und zugehörig die anderen Ortschaften: Kohling, Schönwarling, Uhlkau, Rosenberg und nicht zu vergessen die drei nach dem ersten Weltkrieg abgetrennten, in Polen liegenden Mühlbanz, Mestin, Mahlin, deren wenige evangelische Seelen immer vom Rambeltscher bzw. Hohensteiner Pfarrer - der Pfarrsitz wurde ab Oktober 1931 von Rambeltsch nach Hohenstein verlegt - betreut wurden.

lm Oktober 1931 war nämlich die evangelische Kreuzkirche durch den Generalsuperintendenten D. Dr. Kalweit geweiht worden, geschaffen durch den lebendigen Opfersinn und die wirkliche Opfergemeinschaft der Gemeindeglieder und starke Unterstützung des Konsistoriums, des Gustav-Adolf-Vereins, wie überhaupt der gesamten evangelischen Gemeinden der Freien Stadt Danzig, als erste und einzige neu errichtete evangelische Kirche der Nachkriegszeit in dem vom deutschen Mutterlande 1919 abgetrennten Danziger Gebiet. Dr. Kalweit gab gern jene Episode wieder, als der Sprecher der Hohensteiner Kirchbauplan-Kommission auf des Oberhirten Hinweis, ob nicht ein Betsaal genüge, wiederholt bekräftigte: "Es muß eine richtiggehende Kirche sein." So stand sie dann auch bald richtig da mit dem trutzigen, starken, 45 m hohen Kirchturm und seinen drei von der Danziger Werft gegossenen Bronzeglocken, dem geräumigen Kirchenschiff mit seinen 450 Sitzplätzen und den hohen, wirkungsvollen, buntglasigen, von den Nachbarortschaften gestifteten Kirchenfenstern und endlich auch mit dem schönen, vom Danziger Orgelbauer Goebel geschaffenen Orgelwerk, bis sie, auch im März 1945, ein Torso wurde.

Ein großer, weit über 100 Mitglieder zählender evangelischer Arbeiterverein hat weiterhin treu Aufgaben, Lasten, Nach- und Neuarbeiten, die der Kirche und Gemeinde verblieben, vorbildlich getragen. Die überaus mühsame Durchführung der Holztäfelungsarbeiten im ganzen Kirchenschiff, die Neuherstellung der Kanzel, alles unentgeltlich, bis, ja bis die unheilvolle Tätigkeit und Unterminierarbeit der feindlichen Hitlerorganisation auch bei uns einsetzte. Amtlich verboten wurde unser Arbeiterverein nicht; aber seine Mitglieder schwanden nach und nach, gleichsam beschlagnahmt durch die verschiedenen Parteiorganisationen; zurückblieben nur die Alten. Und dann warf der Krieg seine dunklen Schatten immer stärker auch über das gesamte Leben unserer Gemeinde. War es ein Hangen und Bangen im Herbst 1939, als dem polnischen Gegner die ungedeckte Südflanke, unsere Ortschaften Kohling und Hohenstein geradezu zum Einmarsch offenstanden, und es wurde dann ein dankbares Aufatmen, als nichts geschah und nur Sieg um Sieg gemeldet wurde; es lag doch über vielen wie ein nicht weichender Alp, als die Kriegsfackeln über ganz Europa zu leuchten begannen und der Weltenbrand entzündet war. Der drückende Bann blieb trotz allen Siegesrausches, trotz aller Siegesfeiern und Propagandareden. Todesnachricht um Todesnachricht, Vermißtenmeldung um Vermißtenmeldung, und Leid um Leid, Stalingrad, das gewaltige Menetekel trotz des von Goebbels vorgetragenen Heldenliedes! Und dann packte uns selbst die Wirklichkeit und Wahrheit, aber die ernüchternde entsetzliche Wirklichkeit und Wahrheit, als die Bahnzüge rollten und Flüchtlinge aus der Nachbarprovinz und dem Osten brachten mit so wenig Hab und Gut, als in endlosen Wagenzügen auch unsere Ortschaften überflutet wurden, da auf den verstopften Hauptstraßen nicht mehr Platz und Vorwärtskommen war und Seiten- und Nebenwege eingeschlagen werden mußten: also wieder totgesiegt, geschlagen, vernichtet die deutschen Armeen; die Zurückgebliebenen, Abgeschnittenen eine Beute der Feinde, und welcher Feinde, der Russen! Und keine Rettungswunderwaffe! Nur Hunderte und aber Hunderte rückwandernder, geschlagener, flüchtender Soldaten sahen wir in den Februartagen, ohne Ordnung, ohne Waffen, selbst ein Oberst war darunter. Mutlosigkeit und Verzweiflung lag auf ihren Gesichtern. Es war ein trostloser, niederschmetternder Anblick zwischen den hochbepackten, schneebedeckten Wagen unserer heimatlos gewordenen, von Haus und Hof vertriebenen, geflüchteten Brüder und Schwestern, diese Haufen müder, abgekämpfter, verelendeter deutscher Krieger! Ach, das waren keine Krieger mehr. Sie sind dann vor den Toren Danzigs aufgefangen worden.

Die Parteileitung hatte immer wieder versichert, keine Gefahr für die Bevölkerung durch etwaige plötzliche Überrennung von Seiten des Feindes! Keine Sorge! Rechtzeitiger Abtransport! Ausreichende Transportmittel vorhanden und bereitgestellt! Gott sei es gedankt, daß eine ganze Anzahl von Müttern mit ihren Kindern schon Ende Januar nach dem Westen aufgebrochen war; nur über Danzig-Stettin war ja noch die Möglichkeit vorhanden, mit der Bahn zu entweichen. Ein Sonderzug stand auch für die Bahnbeamtenangehörigen bereit, wenn dies auch verheimlicht wurde. Doch konnten mit diesem "Drückerzug" noch manche Zivilisten und Gemeindeglieder aus der Gefahrenzone rechtzeitig entkommen. So nahm auch ein durch feindlichen Beschuß beschädigter Panzerzug Hohensteiner Frauen und Kinder mit, soweit nur Platz vorhanden war. Ich hatte zwei Leute der Besatzung, die dem Beschuß zum Opfer gefallen waren, auf dem Hohensteiner Friedhof bestattet. Der Offizier zeigte größtes Entgegenkommen.

Am 19. Februar wurden in der Sakristei unserer Kirche sieben Kameraden aufgebahrt, alle zerrissen, gemeinsam in einem Auto sitzend, von einer russischen Splitterbombe, nur ein l0-jähriger Knabe blieb heil und unverwundet. Unter den Opfern befand sich der tüchtige und allgemein geschätzte Schmiedemeister unserer Gemeinde, Otto Gernhöfer Seine Ehefrau und 3 Kinder waren schon aus der Gefahrenzone, und ahnten nichts von dem Unheil. Die Partei veranstaltete ein großes "Parteibegräbnis", der Pfarrer durfte nicht sprechen, trotzdem die alte Mutter darum gebeten hatte, dafür der Kreisleiter und Ortsgruppenleiter. Wegen Fliegerbeschußgefahr mußte alles beschleunigt werden. Eine Stunde danach hatte ich ein Kinderbegräbnis auf demselben Friedhof. Mir war gar nicht aufgefallen, daß die kleine Trauergemeinde plötzlich verschwunden war. Sie hatte volle Deckung in den Tannen und Gebüschen genommen: Zwei russische Flieger waren vorübergezogen, und die Maschinengewehre hatten gesprochen. Gott sei Dank kein Treffer.

In dieser Zeit hörten wir täglich das Dröhnen der Geschütze. Es ging um Marienburg und die Stellung an der Nogat. Marienburg mit seinem alten Ordensschloß sollte um jeden Preis gehalten werden, wurde uns gesagt. Und es wurde ja eine Weile gehalten. Wir gewöhnten uns an den Geschützdonner, aber der Ring wurde immer enger. Auch Marienburg fiel.

Am 9. März wurde die offizielle Räumung von Hohenstein und den Nachbarorten angeordnet. Zu spät, viel zu spät! In der richtigen Erkenntnis, daß keine Zeit mehr zu verlieren war, hatte doch ein Teil der Bevölkerung sich heimlich oder offen vorher nach Danzig aufgemacht, um Anschluß nach dem Westen zu gewinnen, ob mit Bahn oder Schiff. So nahm der bereitstehende letzte Eisenbahnzug nicht allzuviel Gemeindeglieder, evangelische und katholische, auf.

Es war gegen Abend, als plötzlich ein ungeheures Getöse die Luft erfüllte und in Richtung Danzig ein riesiges Feuermeer aufloderte. Danzig in Brand, Fliegerüberfall. Ein Schreien von ein paar Frauen mit Kleinkindern im Kinderwagen; wir gehen nicht nach dem brennenden Danzig! Zwei Frauen mit Kindern blieben auch zurück. Ein paar Bomben fallen in Bahnhofsnähe, nicht weit von der Dachpappenfabrik. Jammer, Angst, Todesfurcht auch in der Restgemeinde. Hinein in den Bahnhofsbunker! Stundenlang saßen da Männer, Frauen und Kinder. Der Zug konnte nicht auslaufen, weil das Geleise durch Bomben blockiert war und erst repariert werden mußte. Das war ein schwerer Abschied. So ist unsere Gemeinde auseinandergerissen und zerstreut worden. In Danzig nach dem Fliegerbombenüberfall, der soviel Opfer forderte, chaotische Verhältnisse. Jeder wollte fort, weiter, nur das Leben retten. Bahn und Schiff schafften allerhand, aber doch nur in längeren Zwischenräumen diese Fülle der Flüchtlinge. Schleswig, Lübeck, Mecklenburg, Dänemark sind solche Stationen geworden für unsere Hohensteiner. Viel Leid haben Rückkehrer erfahren, die in den Danziger Wäldern oder im Danziger Werder Zuflucht suchten, und dann nach Hohenstein zurückkehrten. Auch sie haben zum größten Teil im Lauf der letzten Jahre sich nach der Ostzone und nach Westdeutschland absetzen können. Einige wenige haben für Polen optiert.

Gibt es noch eine Rückkehr? Wir geben die Hoffnung nicht auf!