Der Langgarten zeigte uns viel zu früh die Grausamkeiten dieser Zeit. Auf dem Wege zum Kaufmann erblickten wir auf anderen Straßenseite Männer in Ledermänteln und schwarzen Uniformen. Einige führten hastig einen bärtigen Mann im dunklen Anzug zu einem Auto. Er wehrte sich verzweifelt. Vergeblich waren seine Hilferufe.. Wenige Sekunden später hatte die Straße wieder ihr Alltagsgesicht. Es hieß, es war ein Pole, der sich schon einige Zeit in einer Badewanne versteckt hatte. Die Hilferufe kann ich nicht vergessen.

Schnell verbreitete sich auch , dass ein gewitzter Danziger auf dem Langarten einen staatsnahen Passanten nicht mit „Heil Hitler“ gegrüßt hatte. Der stellte ihn pflichtbewusst zur Rede. Unser Danziger war nicht verlegen. „Mein Herr, haben Sie nicht gesehen, dass ich eine Zigarrenschachtel in der Hand getragen habe. Ich kann doch meine Zigarren nicht in den Dreck fallen lassen!“ Diese Episode machte im vertrauten Kreise schnell ihre Runde. Wir Kinder freuten uns auch über diese Schlagfertigkeit.

Unsere Mutti hatte gehört, es gibt wieder eine Zuckerzuteilung. „Kinder, wir müssen einkaufen gehen!“. Es war am Nachmittag eines herrlichen Sonnentages, Ende Februar oder Anfang März 1945. Wir Kinder standen vor dem Kolonialwarenladen Rosansky, Langgarten 70 und betrachteten die belebte Straße. Plötzlich hörten wir das Annähern von Militärfahrzeugen. In ihrem Schlepp hatten sie Langrohrgeschütze (Flak 8,8 cm?) und fuhren in Richtung Heubude. Wir staunten, so etwas hatten wir noch nicht gesehen.

Es wurde wieder langweilig. Ich suchte die Mutti im Laden auf. Meine Brüder folgten etwas später. Sie hatten kaum den Laden betreten, da durchbrach ein furchtbares Krachen den friedlichen Nachmittag. Alle Kunden suchten den Keller auf.. Kerzen wurden entzündet. Dann brachte man den Jungen, der neben uns vor dem Laden gewartet hatte. Er wurde auf einen Tisch gelegt. Mit einem weißen Bettlaken versuchte man einen Verband anzulegen. Schnell verfärbte sich das ganze Bettlaken rot Ein Bauchtreffer hieß es. Wer weiß, ob er überlebt hat?

Nach der Entwarnung kaufte unsere Mutti noch den von uns so ersehnten Zucker. Welch’ Schreckensbild bot sich jedoch auf dem Langgarten . Gegenüber, in der Nähe des Langgartner Tores, waren Soldaten mit einem kleinen Pferdewagen unterwegs. Eigentlich war es kein Pferdefuhrwerk, denn als Zugtiere hatten sie zwei Kühe eingespannt. Vielleicht waren für Verpflegungszwecke noch zwei Kühe hinten an den Wagen angebunden. Der Gespannführer und sein Begleiter waren auf dem Kutschbock zusammengefallen, alle Kühe lagen auf der Straße regungslos. Unter ihnen Soldaten, die als Antreiber gedient hatte. Der Bürgersteig war mit Scherben übersät. Ein Radfahrer lag regungslos gegen einen Baum gelehnt mit blinden Augen. Ein anderer wollte gerade die Tür eines Gebäudes öffnen. Er lag zusammengesunken im Türrahmen. Zwölf Tote sollen die Opfer gewesen sein.. Selbst in unserem Wohnzimmer hatte sich ein Splitter, zwei bis drei Zentimeter lang, in rund 200 bis 300 Meter Entfernung verirrt.

Wahrscheinlich hatte ein Beobachtungsflugzeug seine letzte Splitterbombe oder Luftmine abgeworfen., denn es war nur eine Detonation zu hören.

Es war Anfang März 1945. Unsere Mutti kassierte in der Trojangasse 4 die Miete für ihre frühere Arbeitsgeberin. Da immer mit einem Fliegeralarm zu rechnen war, nahm unsere Mutti uns immer mit.. Zum Besuch der Familie Mau mussten wir den Hinterhof überqueren. Kurz vor ihrer Wohnung hörten wir ein fürchterliches Pfeifen und Krachen. Aus heiterem Himmel, ohne Bombergeräusch, ohne Sirenenwarnung hatte eine relativ große Fliegerbombe (250 bis 500 kg) das zweistöckige Holzgebäude des Renovin-Werkes für Kosmetische Erzeugnisse, Langgarten 76, getroffen. Die Bombe wurde so stark gebremst, dass der Aufschlagzünder versagte. Sie steckte zur Hälfte flach im Erdreich. Wir waren nur fünf Meter davon entfernt. Unser Schutzengel war wieder im Einsatz.. Um den Blindgänger kümmerte sich monatelang keiner.
Auch in diesem Fall kann sich nur ein Beobachtungsflugzeug seiner Last entledigt haben
Als der Frieden eingezogen war, holten die größeren Kinder Haarwäsche und Duftwässerchen aus dem so geöffneten Lagerhaus. Herrliche Napfkuchen ließen damit im Sandkasten backen.
Aber nur an einem Tag. Wir Kinder hatten gezeigt, man kann den Blindgänger umgehen. Jetzt hatten auch die Erwachsenen Mut und räumten in kurzer Zeit das ganze Kosmetiklager leer..

Anfang März 1945 verbreitete sich schnell die Nachricht: „Heute früh ist in der Trojangasse ein Fallschirmspringer gelandet, er wird gesucht!“ Kinder sind neugierig, also mussten wir zum Schauplatz. Im zweiten oder dritten Stock der Trojangasse 3 oder gegenüber hing auf dem Balkon den ganzen Vormittag ein weißer Fallschirm. „Ein riskante Landung!“ Wir fragten uns: „Lebt der Mutige noch ?“ Erst im Buch von Poralla „Unvergänglicher Schmerz“ fand ich, der russische Fallschirmspringer hat überlebt!

In dem spärlich beleuchteten öffentlichen Luftschutzraum, Ecke Langgarten-Trojangasse, gab es wie immer nur ein stilles Bangen und Hoffen auf ein glückliches Ende des Fliegeralarms. Einmal wurde die Ruhe durch ein starkes Erschüttern des Kellers unterbrochen. Es breitete sich eine Staubwolke aus. Man konnte seinen Nachbarn nicht mehr erkennen.. Die Notbeleuchtung flackerte und erlosch. Der etwas beleibte Luftschutzwart pumpte schwitzend an einer Hebelapparatur. Es sollte nicht noch mehr Staub in den Keller eindringen. Die älteren Helfer des Luftschutzwartes versuchten die verschütteten Notausgänge freizulegen. Müssen wir ersticken? Wir duften nur schweigend warten in einer gespenstigen Dunkelheit. Die Helfer tauschten nur wenige, nichts sagende Worte aus. Es blieb die Ungewissheit. Nach einer halben oder vollen Stunde kamen die erlösenden Worte, es besteht keine Gefahr mehr.
Das vierstöckige Nebenhaus war nur noch ein großer Steinhaufen.. Es war zum Glück das einzige Haus der vorderen Trojangasse, das zerstört wurde.

Bewusst war uns eins, wenn die Russen da sind, dann hat der gehasste Krieg ein Ende. Doch noch war das Ende nicht da. Jeden Tag verstärkte sich das Grollen der Kriegswalze, das sich wie die Donnerschläge eines entfernten Dauergewitters anhörte.
Auf dem Langgarten wollte man diese Walze aufhalten. Alte Männer und Invaliden des Heimatschutzes bauten, fast an der Ecke zur Trojangasse, eine große Panzersperre. Viele Stahlträger, Holzbalken und Steine hatte man gut geordnet. Ein mannshoher Wall sollte den Zugang zur Innenstadt verriegeln, aber der Feind kam ja von der anderen Seite und so musste die Panzersperre als Fluchtweg offengelassen werden. Diese Panzersperre wurde für mich zu einem Symbol, dass keine Macht der Welt das wildwütende Gespenst. des Krieges aufhalten kann, wenn es erst in Bewegung gekommen ist. Entfesselt walzt es alles nieder bis nur noch Schutt, Rauch, Gestank und Generäle übrigbleiben

Es könnte der letzte Fliegeralarm gewesen sein, dann haben wir den Keller bis zum Eintreffen der Russen nicht wieder verlassen
Wir waren wieder gehetzt zum öffentlichen Luftschutzkeller. Doch dort fehlte unser Kronsohn. Eigentlich war der Weg durch die abgeworfenen Christbäume hell erleuchtet und man musste nur schräg über die Straße laufen. Da der Bombenangriff noch im Gange war, durfte keiner den Keller mehr verlassen. Es war ein stundenlanges Bangen und Fürchten. Schließlich durfte unsere Mutti auf die Suche gehen. Sie klapperte alle Luftschutzkeller in der Nähe ab, aber erfolglos. Dann suchte sie in der weiteren Umgebung. Unser sonst so mutige Kronsohn hatte durch die vielen Christbäume einen Schock bekommen und war fremden Leuten hinterhergelaufen. Verängstig und alleingelassen fand die Mutti ihn in einem kleinen Keller der hinteren Trojangasse. Es war bereits nach Mitternacht., ans Schlafen war nicht mehr zu denken..

Am 29. März 1945 hatten die ersten Panzerspitzen der Roten Armee den Langgarten erreicht. Vorher wurden deutsche Soldaten durch die brennende Innenstadt über den Langgarten in Richtung Osten in Marsch gesetzt.

Frau Podlich, Witwe des Oberlehrers Podlich wohnte in der vierten Etage des Vorderhauses der Trojangasse 4.. Das ständige Flüchten in den Luftschutzkeller machte sie nicht mit. „Wenn ich sterbe, dann in meiner Wohnung!“ Ihr Schicksal war ein grausamer Richter. Eine Granate hatte ein 2 bis 3 Meter großes Loch in ihre Wohnung geschlagen. Es gab kein Überleben. Frau Podlich war ein Opfer der deutschen Artillerie geworden, die aus östlicher Richtung den Vormarsch der Roten Armee stoppen wollte. Man hatte sie am Rande unserer Spielecke an dem Mauerdurchbruch zum Russischen Konsulat begraben . Wenn wir ein Gänseblümchen fanden, legten wir es auf ihr Grab. Vielleicht liegt sie noch heute dort, denn die sinnlose Mauer hat man nicht wieder errichtet. Eine kleine Grünfläche erfreut heute das Auge.